Hallo garfield.
Die EU ist ein seltsames Konstrukt. Sie hat zwar ein Parlament - dies wird auch regelmäßig gewählt, dies besitzt aber in vielen Dingen keine volle Kompetenz. Obwohl sich das Parlament in der Vergangenheit zunehmend und stillschweigend mehr und mehre Mitsprache- und (Mit-) Entscheidungsrechte angeeignet hat, werden immer noch viele Entscheidungen von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten oder der Kommission getroffen. Dies gilt auch für den Kommissionspräsidenten ... bzw. die Kommission als Ganzes. Die EU besitzt auch keine Regierung, wie wir sie kennen, die also aus dem Palament herauskommt.
Laut EU-Vertrag schlagen die Staats- und Regierungschefs dem Parlament mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten vor, wobei sie das Ergebnis der Europawahlen zu berücksichtigen haben. Das Parlament entscheidet - wobei der Kandidat gewählt ist, der die Mehrheit der Stimmen der Parlamentsmitglieder auf sich vereint. Ein Spitzenkandidat, der vor der EU-Wahl bestimmt wird und somit in's Rennen der EU-Wahl geschickt wird - wie 2014 geschehen, ist im EU-Vertrag nicht vorgesehen - auch nach unserer Verfassung wählen wir lediglich Parteien ... keine Personen. Trotzdem kann man getrost sagen, daß diese System mit einem Spitzenkandidat aus Deutschland kommt.
Eine EU-Wahl mit einem Spitzenkandidaten, der schon vor dieser feststeht, ist eine Auseinandersetzung zwischen dem Europaparlament auf der einen Seite und den Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft auf der anderen. Allerdings sind sich die Staatschefs auch nicht vollkommen einig. Widerstand kommt unter anderem aus den Niederlanden, Portugal, Polen, Tschechien und Frankreich. Der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz dagegen unterstützt den Prozeß eines Spitzenkandidaten. Intern soll Angela Merkel ebenfalls bereits signalisiert haben, daß sie dies unterstützen werde. Somit ist dies ebenfalls eine Auseinandersetzung zwischen Emmanuel Macron und Angela Merkel. Wobei Angela Merkel bessere Karten hat, ein entscheidendes Wort mitzureden. Sie ist ja bekanntlich CDU-Vorsitzende - die CDU ist Mitglied der EVP. Diese stellt mit 219 von 751 Abgeordneten die größte Fraktion im Parlament - auch im neuen Parlament dürfte sie die stärkste Kraft bleiben. Emmanuel Macrons
"La République En Marche" dagegen gehört bislang keiner europäischen Parteienfamilie an.
Das Parlament hat vorsichtshalber schonmal leise gedroht:
ein Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten, "der nicht über eine ausreichende parlamentarische Mehrheit verfügt", brauche von den Staats- und Regierungschefs erst garnicht präsentiert werden. Die Parlamentarier sind zudem der Ansicht, daß nur diejenige Person für das Amt infrage kommen kann, die bei den Europawahlen eine politische Parteienfamilie als Spitzenkandidat zum Sieg führt.
garfield336 hat geschrieben:Könnte also der neue Präsident tatsächlich ein mit Manfred Weber ein CSU Mann werden

Dies erscheint eher unwahrscheinlich - nicht weil er von der CSU kommt, sondern weil er ein deutscher Politiker ist. Merkel ist im Gremium der Staats- und Regierungschefs die wichtigste Politikerin. Somit ist eine Deutsche ... oder ein Deutscher an der Spitze der Kommission allen Beteiligten wohl nicht vermittelbar.
Als aussichtsreiche Kandidaten werden der Franzose Michel Barnier und Irlands Regierungschef Leo Varadkar genannt. Michel Barnier, Chefunterhändler der EU bei den Brexit-Verhandlungen, war zwar lange Kommissar - dies spricht als für ihn, er spricht aber nicht so gut Englisch, wie dies in dieser Position verlangt wird - dies dürfte also für Leo Varadkar sprechen. Zuletzt wird auch immer öfter der kroatische Premierminister Andrej Plenković genannt.
Bei den Sozialisten - zweitstärkste Kraft im EU-Parlament - läuft sich schonmal die derzeitige EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini warm, sowie der Niederländer Frans Timmermans - Vizekommissionspräsident.
Spekuliert wird auch immer wieder, daß Europas Liberale die dänische Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager aufstellen könnten – möglicherweise sogar mit Unterstützung Macrons.
Spannend dürfte es allemal werden. Ob es wieder einen Spitzenkandidaten gibt, als auch, wer es wird.
"Ich teile Ihre Meinung nicht, ich werde aber bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen, daß Sie Ihre Meinung frei äußern können." (Voltaire)