Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

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H2O
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Liberty hat geschrieben:(08 Aug 2021, 16:26)

Eine freie Wirtschaftsgemeinschaft aus Grossbritannien, Island, Norwegen, der Schweiz und den Visegrad-Staaten wäre denkbar. Das wäre dann ein Wirtschaftsraum, in dem ca. 150 Mio. Menschen leben. Diese Gemeinschaft könnte offen sein für den Beitritt weiterer Staaten, die echte Gemeinschaft freier, souveräner, selbstbestimmter Nationen wollen. Eine starke transatlantische Partnerschaft dieser Gemeinschaft wäre auch sehr gut möglich. :thumbup:
Wenn Sie sich unter dem Stichwort "EFTA" in der Zeit um 1960 die Europakarte ansehen, dann gab es das genau so, natürlich minus Visegradskis. Das hat damals nicht sonderlich viel Erfolg gehabt. Das Ende vom Liede war, daß GB, DK, S, FIN der EU beitraten, Norwegen ein sehr weitgehendes Assoziationsabkommen schloss, weil es den Zugriff der EU-Partner auf Ölfelder, Staatsschatz und Fischgründe fürchtete. Keines dieser Länder hat Lust bekundet, es den Briten gleich zu tun.

Die Visegradskis sind inzwischen auch arg uneins. In Polen schiebt ein Teil der Regierungskoalition (genau genommen 2,5 % der Wähler repräsentierend) diese Kugel. Der Rest von Regierung und Opposition prallt erschrocken zurück angesichts der Folgen für das Land, das so viele Vorteile aus der EU zieht. Tschechien, die Slowakei (mit der Gemeinschaftswährung Euro!), Ungarn wollen ganz unbedingt in der EU bleiben. Ungarn wird doch von etlichen Partnern geradezu bedrängt, sich aus der EU zu lösen! Das macht aber wohl doch nicht so viel Spaß wie gedacht...

Sie träumen sich etwas zurecht, das so niemand will. Ich hätte gar nichts dagegen, wenn Briten und Polen sich sehr eng annäherten. Das wird den Briten aber gar nicht gefallen, weil sie gerade diese Zuwanderer aus Osteuropa abschütteln wollen. Die Liebe ist also sehr einseitig!

Ja, die Schweiz... wirtschaftlich ziemlich tief in ihre Nachbarstaaten verwurzelt. Die überlegt sich eine Abkehr von den EU-Assoziationsverträgen sicher auch mehrfach!

So sieht es also aus mit Bestrebungen, neben der EU einen verbindlichen Staatenbund zu schaffen. Ansonsten: Warum nicht!
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Kohlhaas »

H2O hat geschrieben:(08 Aug 2021, 16:54)
Sie träumen sich etwas zurecht, das so niemand will.
Da kommt einfach nur undifferenzierter Hass gegen die EU zum Ausdruck. Was die Alternative sein soll, bleibt offen. Germany first? Das haben wir zum Glück hinter uns. Die Briten werden das auch noch lernen. Deren "Weltreich" existiert nämlich nicht mehr.
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H2O
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Kohlhaas hat geschrieben:(08 Aug 2021, 17:13)

Da kommt einfach nur undifferenzierter Hass gegen die EU zum Ausdruck. Was die Alternative sein soll, bleibt offen. Germany first? Das haben wir zum Glück hinter uns. Die Briten werden das auch noch lernen. Deren "Weltreich" existiert nämlich nicht mehr.
Sie wissen ja: Ich bin schon ganz glücklich mit dem in der EU Erreichten... träume natürlich vom Bundesstaat Europa. Aber viel davon ist schon erreicht. Ich lebe als deutscher Unionsbürger von freundlichen und hilfsbereiten polnischen Nachbarn und Ämtern umgeben in Westpommern im Naturparadies. Wer weiß, was Liberty oder Fliege in der Hinsicht auf sich geladen haben, daß sie dem europäischen Zusammenschluß so ablehnend gegenüber stehen. Deutschland ist ein guter Platz, um Geld zu verdienen oder seinen Kinder eine gute Bildung zu ermöglichen. Außerdem sind die Leute in ihrer überwältigend großen Zahl sehr freundlich und hilfsbereit. Da fallen ein paar Stinker schon unangenehm auf. Eine nationale Rolle Deutschlands abgesetzt von den Nachbarn... unvorstellbar.

Diese Möglichkeit sehe ich im Fall der Briten eher; die haben schon ihr Commonwealth mit vielfältigen Familienbeziehungen. Wenn sie diese familiäre Beziehung sehr bewußt pflegen, dann kann schon ein Netzwerk entstehen, das enger zusammenhält als die Verbindungen zur EU.

Ich sehe das etwa so wie in Europa unsere Beziehungen zu unseren Nachbarn, die ja seit der Römerherrschaft 'mal unter einer Herrschaft, mal in getrennten Fürstentümern lebten. Wenn man Italienisch, Französisch und Deutsch gut versteht, dann kann einem schon kaum noch etwas schief gehen. Naja, Spanisch wäre auch noch schön...

Ich will niemanden ausschließen, um Himmelswillen, schon gar nicht meine Polen, mit denen ich mich so gut vertrage! Die geschichtliche Vertrautheit und das gegenseitige Verstehen sehe ich aber schon eher im Westen. Ein solches Kerneuropa wäre wohl eher vorstellbar als ein Großraum Europa, den wir derzeit anstreben.

Und so ähnlich empfinde ich auch die Zusammengehörigkeit der britischen Völkerfamilie, die auch noch eine gemeinsame Sprache sprechen und ein gemeinsames Staatsoberhaupt haben. Natürlich hält auch dieses Band nicht ohne allseits ernstes und sehr bewußtes Bemühen.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Liberty »

H2O hat geschrieben:(08 Aug 2021, 16:54)
Ungarn wird doch von etlichen Partnern geradezu bedrängt, sich aus der EU zu lösen! Das macht aber wohl doch nicht so viel Spaß wie gedacht...
Klar, weil es wirtschaftliche Nachteile und Probleme bedeuten würde.

Aber irgendwann muss man sich einfach entscheiden, ob man eine souveräne, selbstbestimmte, freie Nation bleiben oder eine Kolonie der EU werden will und deren Leben bis ins kleinste Detail von einer Kaste in Brüssel diktiert wird. Vor dieser Entscheidung stehen alle Nationen irgendwann, wenn der Wahn vom europäischen Grossreich weitergeht.

War bei den Briten ja auch schon. Die Forderungen Camerons nach einem schlanken EU-Staatenbund, der Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückgibt und deren Souveränität respektiert, würde von den radikalen EU-Extremisten abgelehnt. Die Briten haben sich entschieden, diesen Verein zu verlassen, ehe sie ihre Freiheit vollends verlieren. Eine gute Entscheidung. :thumbup:
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Eine gute Entscheidung.
Die von Ihnen als "Kaste" herabgesetzte EU stellt ihre Mitarbeiter und Politiker aus Kreisen der Mitgliedsländer zusammen; und zwar so, daß kein Mitgliedsstaat in dieser Hinsicht untergebuttert wird. Irgendwann wird auch das frei gewählte EU-Parlament diese Stellenbesetzungen bestimmen, die derzeit von den frei gewählten Regierungen der EU-Partner aus gehen, im übrigen wieder demokratisch abgestimmt.

In der Tat bleibt ab zu warten, wie klug die britische Entscheidung zum Verlassen des europäischen Spielfelds war! Der erste Versuch dieser Art war jedenfalls heftig mißlungen. Danach mußten die Briten demütigende Bittgänge auf sich nehmen... und es war wohl die damalige Bundesregierung der "Atlantiker", die den Briten den ersehnten Zugang zur EU ermöglicht hat. Und dann wollte Maggie "My Money back". Und nun können die Briten wieder ihr Geld ganz für sich verbrauchen. Man wird irgendwann die Pennies zählen und sehen, welche Lösung die günstigere war.
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DevilsNeverCry
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von DevilsNeverCry »

sünnerklaas hat geschrieben:(08 Aug 2021, 13:56)

Das Grundproblem sind z.T. gegensätzliche, unüberbrückbare kulturelle und auch moralische Vorstellungen sowie religiöse Überzeugungen zwischen den Ländern der alten EG und einer ganzen Reihe von Ländern, die nach 1990 beigetreten sind. Vor allem in Osteuropa hatte man sich das alles ganz anders vorgestellt: man wollte am Wohlstand der alten EG-Staaten teilhaben, man wollte reisen können - und man wollte eins: vor Russland beschützt werden.
Eine gewisse Zeit nach dem Beitritt kam dann für viele das böse Erwachen: die alten EG-Staaten haben Werte, die man selber nicht nur nicht teilt, sondern aus unterschiedlichsten Gründen sogar vehement ablehnt. Manche sagen, für viele in Osteuropa wurde der Traum zum erneuten Trauma. Und raus kann man wieder einmal nicht - und zwar nicht, weil der "Besatzer" mit Gewalt droht, sondern weil man zu 100% wirtschaftlich von ihm und seinen Transferzahlungen abhängig ist. Ohne die wären Länder, wie Ungarn binnen kurzer Zeit bankrott.
Und Alternativen hat man nicht. Andere Partner wären nur die Erdogan-Türkei und Russland. Beide sind ebenfalls Traumata der ost- und südosteuropäischen Länder.
Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass möglicherweise weitere Kapitel der jahrhundertelang schon andauernden osteuropäischen Tragödie bevorstehen.
Und woran liegt es? Man hat es nach 1990 in den ehemaligen RGW-Staaten versäumt, dafür zu sorgen, wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen. Man ist von ausländischen Investoren und ausländischem Geld abhängig und ohne das wirtschaftlich nicht überlebensfähig.
Die Russland Karte kann man aber nur bei gewissen Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts ausspielen - Polen, die baltischen Staaten, Rumänien. Staaten wie Ungarn, Slowakei und Bulgarien haben auf politischer und (vor allem) kultureller Ebene einen guten Draht zu Moskau.
Gut die Erdogan ist nirgends beliebt.

Beim Rest stimme ich dir soweit zu

- Wohlstand
- Reisefreiheit
- Pressefreiheit
- das Recht zu wählen

Das alles hat Länder wie Polen und Ungarn dazu gebracht sich auf Westeuropa zu orientieren.

Wie sollen den die ehemaligen Warschauer Pakt Staaten nach 1990 auf eigenen Beinen stehen. Heute reden wir über ein Nord-Süd Gefälle in Europa. Früher war es ein Ost-West Gefälle was Wirtschaftskraft und Wohlstand angeht. Diese Staaten kamen aus der sozialistischen Planwirtschaft hervor und mussten in einer beginnenden globalisierenden Welt sich einen Platz erkämpfen. Die neuen Bundesländer wurden von der BRD aufgefangen, obwohl viele Unternehmen in den neuen Bundesländern nicht konkurrenzfähig waren.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von DevilsNeverCry »

Kohlhaas hat geschrieben:(08 Aug 2021, 13:59)

Das mag so kommen, wie Du es befürchtest/vermutest. Gerade die jetzige Entwicklung mit Polen deutet aber in genau die entgegengesetzte Richtung. Wenn es nur um Freihandel ginge, wäre der Konflikt mit Polen und Ungarn doch gar nicht entstanden. Die EU ist gerade einigermaßen erfolgreich dabei, Polen wegen der Frage gemeinsamer Werte zu "disziplinieren". Ein fieses Wort, ich weiß das. Ist aber so. Und muss auch so sein. Wer der EU angehören will, hat sich an vereinbarte Grundwerte zu halten. Ich sehe da auch gar keine Entfremdung zwischen der EU auf der einen und Polen und Ungarn auf der anderen Seite. Nirgendwo ist die Zustimmung zur EU so ausgeprägt wie in Polen. In Ungarn ist das wohl ähnlich. Es sind die Regierungen dieser beiden Länder, die auf einen abwegigen Kurs geraten sind. Nun zeigt sich, dass die EU da durchaus gegensteuern kann.

Ich sehe die Lösung nicht in einer Reduzierung der Union auf einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Im Gegenteil. Man muss die politische Union vorantreiben. Man muss wegkommen von diesem unseligen Einstimmigkeitsprinzip, das es Leuten wie Orban ermöglicht, aus reiner persönlicher Geldgier EU-Beschlüsse zu blockieren. Die EU braucht eine demokratische Reform, die Mehrheitsbeschlüsse möglich macht. Das wird irgendwann so kommen. Die glaubwürdige Drohung, dass Geldzahlungen von Brüssel nach z.B. Warschau versiegen könnten, zeigt ja schon Wirkung.
Zustimmungen können sich schnell ändern - siehe die Volksabstimmung zum Vertrag von Lissabon in Irland. Davon wurden auch zwei in kurzen Zeitabständen durchgeführt. In der ukrainischen SSR waren 1990 die meisten Menschen in einer landesweiten Volksbefragung gegen die Auflösung der Sowjetunion, 1991 waren die meisten Menschen in eine Volksabstimmung dafür.
Das heißt nicht das Polen so was ähnliches tun wird. Ich glaube nicht das Polen aus der EU austreten wird, Ungarn eben so wenig. Aber ich glaube das Polen an einer tieferen Integration nicht mehr teilnehmen wird. Das zeigen ja Reformen im Justizwesen oder das neulich verabschiedete Mediengesetz. Am Euro wird Polen ebenfalls nicht teilnehmen. Ich sehe übrigens im Euro das größte Problem in der Europäischen Union, weil wir in einer dysfunktionalen Währungsunion leben. Prinzipiell ist der Euro eine gute Idee und er hätte das Potenzial sich zum Konkurrenten des Dollar zu etablieren, aber dazu wird es wohl nie kommen. Die first-best-solution wäre eine Komotenzverteilung Richtung Brüssel so das eine einheitliche Geld- und Fiskalpolitik in der EU betrieben werden kann. Die nationalen Regierungen und vor allem die Bevölkerung in den einzelnen EU Staaten sind zu so einem Schritt nicht bereit. Was wir aktuell haben ist, dass die Geldpolitik von der EZB gesteuert wird, die Fiksalpolktik in den einzelnen EU Staaten betrieben wird. Beispiel: Staaten wie Italien verschulden sich um die eigene Volkswirtschaft anzukurbeln, während die EZB zur gleichen Zeit die Mindestreserven oder den Leitzins erhöht. Damit versucht die EZB natürlich die Inflation in der EU zu bekämpfen, dämpft damit aber Investitionen in Italien da diese durch solche Maßnahmen teurer werden. Das ist auch eines der Hauptgründe warum das BIP der EU in den letzten 10 Jahren kaum gewachsen ist.
Die aktuelle Europolitik ist so schlecht das ich sogar dazu neige zu sagen das nationale Währungen - wie in Polen z.B. - besser sind. Das ist zwar nur die second-best-solution, aber ist immer noch besser als der Ist-Zustand.
Zuletzt geändert von DevilsNeverCry am Fr 13. Aug 2021, 12:55, insgesamt 1-mal geändert.
Michael Alexander
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Michael Alexander »

sünnerklaas hat geschrieben:(08 Aug 2021, 14:45)

Kerneuropa, also die alte EG ist letztendlich historisch gesehen ein Gebiet, das auf Karl den Großen sowie Karl V. und Napoleon Bonaparte zurückgeht. Das Römisch-Deutsche Reich sowie Frankreich haben eine gemeinsame Geschichte, eine gemeinsame (politische) Kultur. Osteuropa gehörte diesem Kulturkreis nie wirklich an. Das waren österreichische, russische und türkische Kolonialgebiete.
Bitte beschäftige dich mit der Geschichte Polens, Böhmen-Tschechiens und Ungarns, bevor du Schlussfolgerungen ziehst, die von Bürgern der genannten Länder wohl unter historischer Unkenntnis und deutscher Arroganz eingeordnet würden.

Alle drei Länder haben eine tausendjährige Geschichte; sie waren und sind westlich orientiert. Daran ändert auch nichts, dass die Länder zu bestimmten Zeiten unter den Einfluss imperialer Mächte gerieten.

Ich finde es immer wieder interessant, dass bei den eifrigsten und angeblich aufgeklärtesten deutschen Befürwortern der EU nicht selten die alte Tradition der dumpfen deutschen Arroganz über das angeblich so unterentwickelte Osteuropa hervortritt.

Die Berufung auf Karl den Grossen und Napoleon zeigt auch sehr gut, wie ihr euch die EU vorstellt. Und für diesen imperialen Grossmachttraum wollt ihr euch zugunsten einer undemokratischen, zentralistischen Bürokratie so schnell als möglich vom Grundgesetz verabschieden? Erschreckend.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von sünnerklaas »

Michael Alexander hat geschrieben:(13 Aug 2021, 12:52)

Bitte beschäftige dich mit der Geschichte Polens, Böhmen-Tschechiens und Ungarns, bevor du Schlussfolgerungen ziehst, die von Bürgern der genannten Länder wohl unter historischer Unkenntnis und deutscher Arroganz eingeordnet würden.

Alle drei Länder haben eine tausendjährige Geschichte; sie waren und sind westlich orientiert. Daran ändert auch nichts, dass die Länder zu bestimmten Zeiten unter den Einfluss imperialer Mächte gerieten.

Ich finde es immer wieder interessant, dass bei den eifrigsten und angeblich aufgeklärtesten deutschen Befürwortern der EU nicht selten die alte Tradition der dumpfen deutschen Arroganz über das angeblich so unterentwickelte Osteuropa hervortritt.

Die Berufung auf Karl den Grossen und Napoleon zeigt auch sehr gut, wie ihr euch die EU vorstellt. Und für diesen imperialen Grossmachttraum wollt ihr euch zugunsten einer undemokratischen, zentralistischen Bürokratie so schnell als möglich vom Grundgesetz verabschieden? Erschreckend.
Die alte EWG/EG basierte auf den Gemeinsamkeiten, die Politik und Kultur über viele Jahrhunderte geprägt haben. Nach 1945 hat man das als das Verbindende festgestellt. Und das ganze steht auf soliden Füßen: von Karl dem Großen übder Karl V., die französische Revolution und Napoleon Bonaparte. Daraus ergibt sich eben auch eine gemeinsame Rechtstradition und gemeinsame Werte. Das ganze steht auf einem soliden Fundament.
Und es sind ja die aus der Rechtstradition ergebene Rechtsprechung und Rechtsauffassung und einige kulturelle Werte, die Ost- und Westeuropa trennen und die gerade von einigen osteuropäischen Ländern scharf kritisiert oder sogar völlig abgelehnt werden.
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Fliege
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Fliege »

Michael Alexander hat geschrieben:(13 Aug 2021, 12:52)

[...]

Alle drei Länder haben eine tausendjährige Geschichte; sie waren und sind westlich orientiert. Daran ändert auch nichts, dass die Länder zu bestimmten Zeiten unter den Einfluss imperialer Mächte gerieten.

Ich finde es immer wieder interessant, dass bei den eifrigsten und angeblich aufgeklärtesten deutschen Befürwortern der EU nicht selten die alte Tradition der dumpfen deutschen Arroganz über das angeblich so unterentwickelte Osteuropa hervortritt.

Die Berufung auf Karl den Grossen und Napoleon zeigt auch sehr gut, wie ihr euch die EU vorstellt. Und für diesen imperialen Grossmachttraum wollt ihr euch zugunsten einer undemokratischen, zentralistischen Bürokratie so schnell als möglich vom Grundgesetz verabschieden? Erschreckend.
Ja, erschreckend, dabei trifft gerade auf Polen, Tschechien und Ungarn ein in anderem Zusammenhang geäußerter Satz tatsächlich zu: Was sie brächten sei "wertvoller als Gold", nämlich "der unbeirrbare Glaube an den Traum von Europa, ein Traum, der uns irgendwann verloren gegangen ist" -- und auch diese Warnung wird dringlicher: "Die Dämonen, die diesen Kontinent in den Abgrund gezogen haben, sind lebendiger denn je" (https://www.rnz.de/nachrichten/heidelbe ... 98565.html).
"Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen." – "Da der Mensch toll werden kann, so sehe ich nicht ein, warum es ein Weltsystem nicht auch werden kann" (Georg Christoph Lichtenberg).
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

sünnerklaas hat geschrieben:(13 Aug 2021, 13:15)

Die alte EWG/EG basierte auf den Gemeinsamkeiten, die Politik und Kultur über viele Jahrhunderte geprägt haben. Nach 1945 hat man das als das Verbindende festgestellt. Und das ganze steht auf soliden Füßen: von Karl dem Großen übder Karl V., die französische Revolution und Napoleon Bonaparte. Daraus ergibt sich eben auch eine gemeinsame Rechtstradition und gemeinsame Werte. Das ganze steht auf einem soliden Fundament.
Und es sind ja die aus der Rechtstradition ergebene Rechtsprechung und Rechtsauffassung und einige kulturelle Werte, die Ost- und Westeuropa trennen und die gerade von einigen osteuropäischen Ländern scharf kritisiert oder sogar völlig abgelehnt werden.
In dieser Diskussion um "europäische Werte" gibt es einige grundlegende Missverständnisse. Missverständnis Nummer Eins dreht sich um die sogenannten "EU-Gelder". Wer von diesen EU-Geldern im Zusammenhang mit Ostmitteleuropa redet, muss zuerst einmal sagen, wovon er eigentlich redet. Es gibt im EU-Haushalt keine "EU-Gelder" sondern vor allem zwei große Töpfe: Agrarpolitik (GAP) zuerst und Regional- bzw. Infrastrukturpolitik als zweites. Wenn man seriös von "EU-Geldern" spricht muss man sagen, was man eigentlich meint. Dann: Durch die allgemeine Berichterstattung entsteht der Eindruck. die Länder Ostmitteleuropas würden quasi von "EU-Geldern" leben. Der Eindruck ist völlig falsch. Fakt ist, dass ein Land und ein Staatswesen wie das von Ungarn tatsächlich durch und durch korrupt ist. Keine Frage. Aber es lebt nicht von EU-Geldern. Eher im Gegenteil. Wie läuft das eigentlich tatsächlich und wirklich? Ich hatte anlässlich der Wiedereröffnung des Schengen-Raums kürzlich die Gelegenheit, mich mit kenntnisreichen Leuten aus Ungarn, Österreich, Deutschland dazu auszutauschen. Mit diesen "EU-Geldern" besipielsweise in Ungarn wird folgendes gemacht: Viktor Orbán sagt seinen Parteifreunden aus der Fidesz zu, dass er dafür sorgt, dass die eine Autobahnbrücke endlich gebaut wird. Dass die andere historische Altstadf saniert wird. Dass der andere touristisch wichtige Radweg ausgebaut wird. usw. Damit baut er sich einerseits eine Freundesklicke in der Provinz auf. Die werden dann auch gewählt. Andererseits sind solche Projekte auch keineswegs irgendwie illegal sondern - ganz im Gegenteil - ganz im Sinne des EU-Regionalhaushalts. So. Aber wovon lebt ein Land wie Ungarn eigentlich. Bzw. woher bezieht es seine ziemlich guten Wirtschaftsdaten, seine sehr gerine Arbeitslosenquote, woher nimmt Viktor Orbán sein typisches arrogantes Grinsen? Wenn ein Unternehmen wie BMW, Bosch oder Siemens in Österreich eine Produktionsstätte eröffnen will, dann muss es damit rechnen, fünf, sechs, sieben Jahre für Genehmigungen zu streiten. In Ungarn dagegen ruft Viktor Orbán in Debrecen bei seinem Parteifreund an und sagt ihm, dass ab nächsten Monat soundsoviel Quadratkilometer erschlossenes Betriebsgelände für BMW bereitzustellen ist. Fertig! Und ab nächstes Jahr rollen dort Autos vom Band. Fertig. So läuft das! Wer ein (auch aus meiner Sicht berechtigtes) Problem mit Ungarn hat, sollte sich nicht an das ungarische Volk sondern an die deutsch-ungarische Handelsvertretung in Budapest wenden. An die Duzfreunde von Onkel Orbán.

Leben tun die Ungarn von diesen ausgelagerten Produktions- und Entwicklungsstätten. Bzw. umgekehrt. Leben tut Westeuropa zu einem nicht geringen Teil davon. Ich arbeite ja selbst an einer technischen Hochschule. Dieses ingenieurmäßige Tüftelnwollen ... ist nicht mehr so sehr die Sache junger Leute. Es herrscht eher so die Vorstellung: Ein paar Jahre programmieren und dann "Chef" oder "Manager". Sicherlich vereinfacht gesagt. In Ländern wie Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei ist das (noch) anders!

Die andere Quelle von Ungarns wirtschalticher Prosperität resultiert aus ihren Geschäften mit Rohstoffen aus der Ex-SU. Speziell mit Aserbaidshan. Anders als die sturen Katholiken und Russlandfeinde in Polen haben die Geschäftsleute in Ungarn kein Problem damit. Sie investieren gigantische SUmmen in Erdölfelder in Aserbaidshan und gewinnen noch gigantischere Summen daraus (gemessen an der Größe von UNgarn). MOL ist - noch vor BWM, Audi, Siemens, Bosch & Co. hinaus die größte ungarische Deviseneinnahmequelle. Vorbild dürfte irgendwo auch das schweizerische Unternehmen Glencore gewesen sein. Du brauchst keine eigenen Rohstoffe. Du muss nur wissen, wie man damit Geschäfte macht!
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Fliege hat geschrieben:(13 Aug 2021, 15:16)

Ja, erschreckend, dabei trifft gerade auf Polen, Tschechien und Ungarn ein in anderem Zusammenhang geäußerter Satz tatsächlich zu: Was sie brächten sei "wertvoller als Gold", nämlich "der unbeirrbare Glaube an den Traum von Europa, ein Traum, der uns irgendwann verloren gegangen ist" -- und auch diese Warnung wird dringlicher: "Die Dämonen, die diesen Kontinent in den Abgrund gezogen haben, sind lebendiger denn je" (https://www.rnz.de/nachrichten/heidelbe ... 98565.html).
Ein "Europa der Werte" ... was soll das sein? Am Anfang der EU und an der Grundlegung der "europäischen Werte" steht die sogenannte Schuman-Erklärung von 1950. Schuman war seinerzeit französischer Außenminister. Der Schuman-Plan besteht zu erhelblichem Maße in einem zweiten Kolonialisierungsprojekt Afrikas. In dem Vorhaben, Frankreich zur bestimmenden Macht in Afrika zu machen. Das sollen die "europäischen Werte" sein ?

Ich meine: Ich bin ganz sicherlich auf der liberal-kosmopolitischen Seite. Ich will, dass Deutschland Teil des europäischen Binnenmarkts ist und auch bleibt. Dass es Freizügigkeit in Bezug auf Waren, Dienstleistungen und Personen gibt. Dass meine Kinder und Enkelkinder einfach so in Berlin anfangen können zu studieren und ihr Studium ohne Schwierigkeiten in Paris oder Budapest fortsetzen können. Aber wenn schon Leute wie ich - und da stehe ich wirklich nicht allein - mit einer institutionalisierten EU absolut nix anfangen können .... Wenn der deutsche Kanzler/die deutsche Kanzlerin zusammen mit dem französischen Präsidenten/der französischen Präsidentin irgendwelche Ehrenformationen abschreiten zu irgendwelchen Hymnen abschreiten und ich dabei absolut keine Emotionen verspüre ... wer denn dann? Die neuen Nationalkonservativen etwa? Ehrlich: Ich glaube, dieses Projekt "immer engere EU" ist zum Scheitern verurteilt. Man wäre besser beraten, das Nützliche an solchen Sachen wie Europäischer Binnernmarkt, Schengen usw. auf solide Beine zu stellen. Und sich von dem ganzen Quatsch "europäische Identität" zu verabschieden.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Und sich von dem ganzen Quatsch "europäische Identität" zu verabschieden.
Dann frage ich mich natürlich, vor allem als steuerzahlender Bürger, was diese EU-internen Geldströme und die gemeinsamen Verschuldungen bewirken sollen... außer beim Zahlvieh für Mißstimmung zu sorgen. Ihre Gedanken hinsichtlich der "europäischen Identität" greifen ganz einfach viel zu kurz.

Als Unionsbürger genieße ich die Vorteile der sich vertiefenden Zusammenarbeit... und wünsche mit immer mehr davon!
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Kohlhaas »

Offenbar gerät Orban langsam in Panik. Jetzt lanciert er in der von ihm gesteuerten nationalistischen Presse, dass ein Austritt Ungarns aus der EU denkbar oder vielleicht sogar sinnvoll sei. Er hofft wohl, die EU erpressen zu können.

Na, wenn dieser Schuss mal nicht nach hinten losgeht! Wünschenswert wäre es, wenn diese Diskussion über einen möglichen EU-Austritt in Ungarn nun in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion rückt. Immerhin finden im kommenden Frühjahr Parlamentswahlen in Ungarn statt. Sollen die Menschen in Ungarn doch mal entscheiden, was ihnen lieber ist: Orban oder die EU?

https://www.dw.com/de/ungarn-versus-eu- ... a-58906543
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von lili »

Mario Draghi im Porträt -

Ist er Europas neuer Merkel?

https://www.tagesanzeiger.ch/ist-er-eur ... 2315480531

Ich finde den Vergleich richtig.
Wer einen Beruf ergreift, ist verloren.

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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von lili »

Das Ende der Merkel-Ära bremst die EU-Erweiterung um den Westbalkan

https://www.handelsblatt.com/politik/in ... 01866.html

Ich glaube nicht das per se die Merkel-Ära darauf Einfluss hat.
Wer einen Beruf ergreift, ist verloren.

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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von lili »

Papst Franziskus trifft Ungarns Regierungschef Orban

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/p ... np1taskbar
Ist dem Papst klar mit wem er sich trifft. :?:
Wer einen Beruf ergreift, ist verloren.

Henry David Thoreau
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

lili hat geschrieben:(12 Sep 2021, 21:38)

Papst Franziskus trifft Ungarns Regierungschef Orban

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/p ... np1taskbar
Ist dem Papst klar mit wem er sich trifft. :?:
Natürlich weiß er das. MIt dem Regierungschef in der EU, der sich am offensivsten für "traditionelle Werte", für Familie, Die Rettung des christlichen Abendlands einsetzt. Wie stellst du dir denn die diplomatische Vorbereitung solcher medienwirksamen Besuche vor? Glaubst du, da gibt es keinen Beratungsstab und der Papst bucht bei booking.com eine Unterkunft in Budapest und fliegt eben mal hin? Er wird auch wissen, dass Orbán dies aus einem taktischen und strategischem Machtkalkül tut. Die Folge ist, dass zumindest im ländlichen ungarischen Raum die Leute schön wie früher (vor der sozialistischen Zeit) sich sonntags gut anziehen und mit Kindern regelmäßig den Gottesdienst besuchen. Glaubst du ernsthaft, dass ausgerechnet der Papst sich gegen eine solche Enwtwicklung wenden wird? Auch wenn der aktuelle Papst eine sehr andere Persönlichkeit ist als der pölnische Papst vor einiger Zeit?

Ich hab mich übrigens gefragt, warum der Papst eigentlich von Budapest nach Bratislava weitergeflogen ist. Das sind aus dem Kopf geschätzt vielleicht 200 Kilometer donauaufwärts. Fliegen?
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(16 Aug 2021, 12:10)

....

Leben tun die Ungarn von diesen ausgelagerten Produktions- und Entwicklungsstätten. Bzw. umgekehrt. Leben tut Westeuropa zu einem nicht geringen Teil davon. Ich arbeite ja selbst an einer technischen Hochschule. Dieses ingenieurmäßige Tüftelnwollen ... ist nicht mehr so sehr die Sache junger Leute. Es herrscht eher so die Vorstellung: Ein paar Jahre programmieren und dann "Chef" oder "Manager". Sicherlich vereinfacht gesagt. In Ländern wie Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei ist das (noch) anders!

...
Es ist ein gegenseitiges Geben Nehmen IN der gemeinsamen EU.
Der gemeinsame Markt ist der wirtschaftlich entscheidende Punkt.

Aber um daran Teilzuhaben erfordert es erfordert es das Einhalten der Werte. Und den Mangel an der Teilhabe lernen die Freunde der britischen Insel gerade kennen.

Die Antwort auf Deine Frage nach diesen Werten findest Du jedoch nicht allein in der Wirtschaft, sondern in den gemeinsamen Verträgen und Ihre Auslegung durch den EuGH.

https://www.europarl.europa.eu/germany/ ... erichtshof

Wenn sich die ungarische Regierung, was ich nicht glaube, den Entscheidungen des EuGH nicht beugen sollte, dürfte es zu der Frage nach dem Wert der Verträge (mit Ungarn) kommen.
Die Antworten darauf wird die ungarische Regierung, aber vor allem ihre Wähler nicht wollen.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(16 Aug 2021, 14:10)

Ein "Europa der Werte" ... was soll das sein? Am Anfang der EU und an der Grundlegung der "europäischen Werte" steht die sogenannte Schuman-Erklärung von 1950. Schuman war seinerzeit französischer Außenminister. Der Schuman-Plan besteht zu erhelblichem Maße in einem zweiten Kolonialisierungsprojekt Afrikas. In dem Vorhaben, Frankreich zur bestimmenden Macht in Afrika zu machen. Das sollen die "europäischen Werte" sein ?

Ich meine: Ich bin ganz sicherlich auf der liberal-kosmopolitischen Seite. Ich will, dass Deutschland Teil des europäischen Binnenmarkts ist und auch bleibt. Dass es Freizügigkeit in Bezug auf Waren, Dienstleistungen und Personen gibt. Dass meine Kinder und Enkelkinder einfach so in Berlin anfangen können zu studieren und ihr Studium ohne Schwierigkeiten in Paris oder Budapest fortsetzen können. Aber wenn schon Leute wie ich - und da stehe ich wirklich nicht allein - mit einer institutionalisierten EU absolut nix anfangen können .... Wenn der deutsche Kanzler/die deutsche Kanzlerin zusammen mit dem französischen Präsidenten/der französischen Präsidentin irgendwelche Ehrenformationen abschreiten zu irgendwelchen Hymnen abschreiten und ich dabei absolut keine Emotionen verspüre ... wer denn dann? Die neuen Nationalkonservativen etwa? Ehrlich: Ich glaube, dieses Projekt "immer engere EU" ist zum Scheitern verurteilt. Man wäre besser beraten, das Nützliche an solchen Sachen wie Europäischer Binnernmarkt, Schengen usw. auf solide Beine zu stellen. Und sich von dem ganzen Quatsch "europäische Identität" zu verabschieden.
Diese Frage, die Du nicht beantworten kannst, haben sich einzelne Bayern auch im 19. Jahrhundert hinsichtlich des Deutschen Reiches (Preußen!!!) gestellt und auch so beantwortet.
Dabei nicht in Betracht gezogen, dass nach 1870 (eher 1866) ihre Söhne nicht mehr auf die Söhne der Preussen geschossen haben (nur noch grundsätzlich verbal). Sie haben sich trotzdem nicht von der bayerischen Identität (Schwaben, Bayern, Franken, Oberpfälzer) verabschiedet in dem sie die deutsche Identität angenommen haben. Was auch immer jeder Einzelne spätestens am Stammtisch damit gemeint hat. Und bevor Schumann sich nach Afrika aufmachen wollte, hat er erkannt, dass er in Zukunft verhindern musste, dass der Bretone oder Aquitaner wieder auf den Westfalen oder Franken schiessen musste.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Haegar hat geschrieben:(13 Sep 2021, 14:09)

Diese Frage, die Du nicht beantworten kannst, haben sich einzelne Bayern auch im 19. Jahrhundert hinsichtlich des Deutschen Reiches (Preußen!!!) gestellt und auch so beantwortet.
Dabei nicht in Betracht gezogen, dass nach 1870 (eher 1866) ihre Söhne nicht mehr auf die Söhne der Preussen geschossen haben (nur noch grundsätzlich verbal). Sie haben sich trotzdem nicht von der bayerischen Identität (Schwaben, Bayern, Franken, Oberpfälzer) verabschiedet in dem sie die deutsche Identität angenommen haben. Was auch immer jeder Einzelne spätestens am Stammtisch damit gemeint hat. Und bevor Schumann sich nach Afrika aufmachen wollte, hat er erkannt, dass er in Zukunft verhindern musste, dass der Bretone oder Aquitaner wieder auf den Westfalen oder Franken schiessen musste.
Interessanter Einwurf. Aber die Deutschen haben sich mit Kaiserproklamation und Reichsgründung nicht etwa von einem Identitätsgedanken verabschiedet sondern ihn nur auf einer größeren Fläche weiter verwirklicht. Wohin das dann im 20. Jahrhundert geführt hat, ist allen bekannt.

Wenn ich mich für die EU als pragmatisches Zweckbündnis einsetze und gegen ein identitäres "Europäertum" und eine Institutionen-EU ... dann nicht deshalb, weil ich lieber Berliner, Preuße oder Deutscher sein will, sondern weil ich mich ganz generell gegen das wende, was viele Menschen mit dem Begriff "Identität" verbinden.

Ich weise nochmal darauf hin, dass in den Ursprungsjahren der Montan-Union-, EWG- und später EU-Gründung ... Europa in gewisser Hinsicht und vor allem aus Sicht Frankreichs weniger "europäische Werte" als zumindest auch Europa als globale Macht verstanden wissen wollten. Nicht vergessen: Frankreich war im unmittelbaren Nachkriegseuropa eine Spätkoloanialmacht. Mit dem Anspruch, große Teile von Afrika dominant zu beherrschen. Wenns sein muss mit Kriegsfeldzügen. Suche nur mal nach dem Stichwort "Eurafrika". Die Geburt der EU ist von Anfang an von solchen imperialen Vorstellungen vergiftet. Dass das im Grunde bis heute so ist, erkennt man u.a. an der im Endeffekt afrikafeindlichen gemeinsamen EU-Agrarpolitik.

Die Deklaration von Dingen wie Pressefreiheit, Demoratie, Parlamentarismus, Gewaltenteilung als "europäische Werte" halte ich für grundsätzlich falsch. Schon erstmal deshalb, weil sie dabei im historischen Zusammenhang ein so wichtiges Land wie die USA außen vor lässt. Es suggeriert, dass irgendwo in der Welt ersteinmal die Europäer anmarschiert kommen müssen, um für Demorkatie "zu sorgen". Diese Vorstellung hat auch ein gewisses Potzenzial für Trotzreaktionen. Und die kann ich gut verstehen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(14 Sep 2021, 08:40)

Interessanter Einwurf. Aber die Deutschen haben sich mit Kaiserproklamation und Reichsgründung nicht etwa von einem Identitätsgedanken verabschiedet sondern ihn nur auf einer größeren Fläche weiter verwirklicht. Wohin das dann im 20. Jahrhundert geführt hat, ist allen bekannt.

Wenn ich mich für die EU als pragmatisches Zweckbündnis einsetze und gegen ein identitäres "Europäertum" und eine Institutionen-EU ... dann nicht deshalb, weil ich lieber Berliner, Preuße oder Deutscher sein will, sondern weil ich mich ganz generell gegen das wende, was viele Menschen mit dem Begriff "Identität" verbinden.

Ich weise nochmal darauf hin, dass in den Ursprungsjahren der Montan-Union-, EWG- und später EU-Gründung ... Europa in gewisser Hinsicht und vor allem aus Sicht Frankreichs weniger "europäische Werte" als zumindest auch Europa als globale Macht verstanden wissen wollten. Nicht vergessen: Frankreich war im unmittelbaren Nachkriegseuropa eine Spätkoloanialmacht. Mit dem Anspruch, große Teile von Afrika dominant zu beherrschen. Wenns sein muss mit Kriegsfeldzügen. Suche nur mal nach dem Stichwort "Eurafrika". Die Geburt der EU ist von Anfang an von solchen imperialen Vorstellungen vergiftet. Dass das im Grunde bis heute so ist, erkennt man u.a. an der im Endeffekt afrikafeindlichen gemeinsamen EU-Agrarpolitik.

Die Deklaration von Dingen wie Pressefreiheit, Demoratie, Parlamentarismus, Gewaltenteilung als "europäische Werte" halte ich für grundsätzlich falsch. Schon erstmal deshalb, weil sie dabei im historischen Zusammenhang ein so wichtiges Land wie die USA außen vor lässt. Es suggeriert, dass irgendwo in der Welt ersteinmal die Europäer anmarschiert kommen müssen, um für Demorkatie "zu sorgen". Diese Vorstellung hat auch ein gewisses Potzenzial für Trotzreaktionen. Und die kann ich gut verstehen.
Ich finde Deinen Ansatz sich generell gegen das zu wenden, was viele Menschen mit Identität verbinden zu defensiv, ja sogar anarchistisch. Das ist ein Ansatz, der sich auch mit meinem: Europäer haben lange genug sich wegen "Lokalidentitäten" genußvoll umgebracht, nicht deckt.
Dein Vorwurf die Europäische "Identität" führt zum genußvollem (=ideologisch begründet) Abschlachten der Afrikaner oder X ist in meinen Augen falsch, denn die Gefahr dass es dazu kommen kann besteht bei jedem Staat.
Schaffen wir deshalb die Staaten ab ?
Ich sage dazu: erstmal in Europa und lassen dafür Regionen entstehen, mit einem Rahmen der aus Werten besteht, die den Menschen in seiner Vielfalt Freiheit gibt.
Und ein solcher Staat benötigt deshalb Schranken, um die Menschen zu schützen.
Und genau dazu sind Schranken die Du als Deklarationen von Dingen gezeichnet gedacht.
Warum Du diese dann auf einmal als Aussenpolitische Waffe gegen andere bezeichnen willst ist für mich nicht klar geworden.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von lili »

Merkel trifft Regierungschef der Westbalkan-Staaten

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/p ... np1taskbar

Mal gucken wie es gelaufen ist.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Kohlhaas »

Und in Polen hetzt die PiS unverändert weiter gegen die EU. Dass 90 Prozent der Polen in der EU verbleiben wollen, ist der PiS offensichtlich egal.

https://www.n-tv.de/panorama/Neun-von-z ... 02478.html

Ich bin mal gespannt, wie die nächsten Wahlen in Polen ausgehen.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Haegar hat geschrieben:(14 Sep 2021, 11:40)

Ich finde Deinen Ansatz sich generell gegen das zu wenden, was viele Menschen mit Identität verbinden zu defensiv, ja sogar anarchistisch. Das ist ein Ansatz, der sich auch mit meinem: Europäer haben lange genug sich wegen "Lokalidentitäten" genußvoll umgebracht, nicht deckt.
Dein Vorwurf die Europäische "Identität" führt zum genußvollem (=ideologisch begründet) Abschlachten der Afrikaner oder X ist in meinen Augen falsch, denn die Gefahr dass es dazu kommen kann besteht bei jedem Staat.
Schaffen wir deshalb die Staaten ab ?
Ich sage dazu: erstmal in Europa und lassen dafür Regionen entstehen, mit einem Rahmen der aus Werten besteht, die den Menschen in seiner Vielfalt Freiheit gibt.
Und ein solcher Staat benötigt deshalb Schranken, um die Menschen zu schützen.
Und genau dazu sind Schranken die Du als Deklarationen von Dingen gezeichnet gedacht.
Warum Du diese dann auf einmal als Aussenpolitische Waffe gegen andere bezeichnen willst ist für mich nicht klar geworden.
Also von "Abschlachten" habe ich kein Wort geschrieben. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass man dieses formelhafte "ich bin begeisteter Europäer" einmal unvoreingenommen hinsichtlich der historischen Entstehung der EU bzw. ihrer Vorgängerstrukturen überdenken sollte. Und dann ist eben unabhängig davon die GAP, die gemeinsame Agrarpolitik der EU schon seit einiger Zeit ein Kritikpunkt von sehr vielen Kritikern. Die auf die Folgen dieser Politik außerhalb der EU hinweisen. Mit Recht.

Beiträge zu diesem Thema "Werte-Durchsetzung" höre ich gefühlt zehnmal am Tag. Selbstverständlich: Ungarn ist ein Land, dass man nicht mehr uneingeschränkt als "Demokratie" bezeichnen kann. Die Pressefreiheit ist eingeschränkt. Die Gewaltenteilung ist ausgehebelt. Aber die Konzepte dieser "Werte-Durchsetzung" der EU gehen völlig an der Realität vorbei. Wir haben in der EU einen Binnenmarkt und freien Güter- und Personenverkehr. Und wir haben in der Regel liberale Wirtschaftskonzepte. Wo die Regel herrscht, dass der Staat sich nicht oder möglichst wenig in die Unternehmenspolitik einmischen soll. In der Folge wird von Unternehmen vor allem auch aus Deutschland in Ungarn eine Produktionsstätte nach der anderen errichtet. Die Wachstumszahlen sind sehr gut. Es herrscht in einigen Regionen nahezu Vollbeschäftigung. Die Konzepte, die das EU-Parlament oder auch die EU-Kommision haben, um "Werte" durchzusetzen, bis hin zu einer völligen Streichung aller EU-Mittel, ringen einem Autokraten in einem aufstrebenden Wirtschaftsland wie Orbán nur ein müdes Lächeln ab. Angesichts dieser Realitäten scheint mir eine Rückbesinnung auf diese Kernelemente, also Binnenmarkt, freier Güter- und Personenverkehr, gegenseitige Anerkennung von Bildungsabschlüssen nur folgerichtig.

In Hinsicht auf ein Land außerhalb der EU wie China ist dieses krasse Missverhältnis zwischen "Werten" und "wirtschaftlichen Interessen" ja noch weitaus ausgeprägter. Schaut man realistisch auf diese realen Verhältnisse, kommt man sich bei diesem Werte-Gerede einfach verschaukelt vor. Auch wenn man diese Werte - wie auch ich - durchaus teilt und vertritt.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Kohlhaas »

schokoschendrezki hat geschrieben:(15 Sep 2021, 09:11)

Also von "Abschlachten" habe ich kein Wort geschrieben. Ich habe nur darauf hingewiesen, dass man dieses formelhafte "ich bin begeisteter Europäer" einmal unvoreingenommen hinsichtlich der historischen Entstehung der EU bzw. ihrer Vorgängerstrukturen überdenken sollte. Und dann ist eben unabhängig davon die GAP, die gemeinsame Agrarpolitik der EU schon seit einiger Zeit ein Kritikpunkt von sehr vielen Kritikern. Die auf die Folgen dieser Politik außerhalb der EU hinweisen. Mit Recht.

Beiträge zu diesem Thema "Werte-Durchsetzung" höre ich gefühlt zehnmal am Tag. Selbstverständlich: Ungarn ist ein Land, dass man nicht mehr uneingeschränkt als "Demokratie" bezeichnen kann. Die Pressefreiheit ist eingeschränkt. Die Gewaltenteilung ist ausgehebelt. Aber die Konzepte dieser "Werte-Durchsetzung" der EU gehen völlig an der Realität vorbei. Wir haben in der EU einen Binnenmarkt und freien Güter- und Personenverkehr. Und wir haben in der Regel liberale Wirtschaftskonzepte. Wo die Regel herrscht, dass der Staat sich nicht oder möglichst wenig in die Unternehmenspolitik einmischen soll. In der Folge wird von Unternehmen vor allem auch aus Deutschland in Ungarn eine Produktionsstätte nach der anderen errichtet. Die Wachstumszahlen sind sehr gut.
Du übersiehst dabei, dass die "Werte-Durchsetzung" kein Selbstzweck ist.

Damit Binnenmarkt und freier Güter- und Personenverkehr reibungslos funktionieren können, muss sich jeder Marktteilnehmer drauf verlassen können, dass er im EU-Ausland nach rechtsstaatlichen Prinzipien behandelt wird, eine unabhängige Justiz vorfindet, ohne Angst vor Inhaftierung seine Meinung sagen und auf Wunsch sogar schwul oder lesbisch sein darf... etc.

Die "gemeinsamen Werte" der EU sind kein Luxus. Sie sind die Grundvoraussetzung dafür, dass ein freier Binnenmarkt überhaupt existieren kann. Und wir brauchen auch keineswegs bloß liberale Wirtschaftskonzepte. Wir brauchen dafür Regelungen, die Individuen möglichst weitgehend vor staatlichen Eingriffen schützen. Ungarn ist da kein leuchtendes Beispiel. Gerade dort schickt sich der Staat an, immer tiefer in die Entfaltung von Menschen, in die Tätigkeit der Justiz und in das Bildungssystem einzugreifen. Das ist alles andere als liberal.

Und dann kommt noch hinzu, dass die EU sehr wohl ein Recht darauf hat sicherzustellen, dass Orban die Überweisungen aus Brüssel nicht in die eigenen Taschen oder in die Taschen seiner Sippschaft umleiten kann.

Die europäischen Werte sind nicht nebensächlich. Sie sind konstituierend.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von lili »

Was die EU für das kommendes Jahr plant

https://www.sueddeutsche.de/politik/ley ... duced=true

Da kann man nur gespannt sein.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Kohlhaas hat geschrieben:(15 Sep 2021, 14:08)

Du übersiehst dabei, dass die "Werte-Durchsetzung" kein Selbstzweck ist.

Damit Binnenmarkt und freier Güter- und Personenverkehr reibungslos funktionieren können, muss sich jeder Marktteilnehmer drauf verlassen können, dass er im EU-Ausland nach rechtsstaatlichen Prinzipien behandelt wird, eine unabhängige Justiz vorfindet, ohne Angst vor Inhaftierung seine Meinung sagen und auf Wunsch sogar schwul oder lesbisch sein darf... etc.

Die "gemeinsamen Werte" der EU sind kein Luxus. Sie sind die Grundvoraussetzung dafür, dass ein freier Binnenmarkt überhaupt existieren kann. Und wir brauchen auch keineswegs bloß liberale Wirtschaftskonzepte. Wir brauchen dafür Regelungen, die Individuen möglichst weitgehend vor staatlichen Eingriffen schützen. Ungarn ist da kein leuchtendes Beispiel. Gerade dort schickt sich der Staat an, immer tiefer in die Entfaltung von Menschen, in die Tätigkeit der Justiz und in das Bildungssystem einzugreifen. Das ist alles andere als liberal.

Und dann kommt noch hinzu, dass die EU sehr wohl ein Recht darauf hat sicherzustellen, dass Orban die Überweisungen aus Brüssel nicht in die eigenen Taschen oder in die Taschen seiner Sippschaft umleiten kann.

Die europäischen Werte sind nicht nebensächlich. Sie sind konstituierend.
Das mag in der Theorie stimmen. Ich sag dir nochmal, und da befinde ich mich in Übereinstimmung mit vielen Leuten, mit denen ich mich vor Ort darüber unterhalten habe: Rechtsstaat bedeutet zum Beispiel, dass es ordnungsgemäße Verfahren für Industrieansiedlungen gibt. Einschließlich Umweltvertäglichkeitsprüfungen. Wenn BMW oder Mercedes ein großes Werk in Ungarn errichten will, dann machen sie das über die deutsche Handelsvertretung in Budapest. Dort sitzen die deutschen Duzfreunde von Orbán. Den rufen sie an und der ruft einen seiner Vertrauten in der Provinz an. Und nach einer Woche hat der ein passendes Gelände gefunden. Das ist sozusagen der "Hauptstrom". Einer der Nebenströme besteht darin, dass die Zentralregierung EU-Infrastrukturgelder nur an Kommunen und Städte weiterleitet, in denen Orbán-Vertraute sitzen und sie den anderen Kommunen, in denen Oppositionelle sitzen entzieht. Damit schafft sich Orbán ein Netz von Gefolgsleuten im Land. Das ist der Nebenstrom. Und da dieses Netz inzwischen installiert und gut ausgebaut ist, braucht es diesen Geldfluss eigentlich nicht mehr. Deswegen wird die EU auf diesem Weg nicht mehr weiterkommen.

Was Investoren brauchen, ist nicht Pressefreiheit und Gewaltenteilung sondern Investitionsschutz. Das funktioniert auf der gloabalen Ebene durch internationale Gerichte, die privat und völlig unabhängig von irgendwelchen "Werten" oder "Rechtsstaatlichkeit" funktionieren und die dennoch im Ernstfall Milliarden für "entgangene Gewinne" kassieren können.

Die Herren und Damen von der Industrie fahren nicht nach Budapest, um sich als schwul oder lesbisch zu outen, sondern um Geschäfte zu machen. Das ist zugegeben ein etwas vereinfachtes aber auch ein ziemlich pessimistisches Bild von der Realität. Aber es stimmt aus meiner Sicht mehr mit der Realität überein als das der "Wertegemeinschaft".

In etwas zivilerer aber nicht ganz unähnlicher Form fand übrigens auch die Ansiedlung der Tesla-Gigafactory südlich von Berlin statt.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(15 Sep 2021, 09:11)

...

In Hinsicht auf ein Land außerhalb der EU wie China ist dieses krasse Missverhältnis zwischen "Werten" und "wirtschaftlichen Interessen" ja noch weitaus ausgeprägter. Schaut man realistisch auf diese realen Verhältnisse, kommt man sich bei diesem Werte-Gerede einfach verschaukelt vor. Auch wenn man diese Werte - wie auch ich - durchaus teilt und vertritt.
Auf den ersten Teil wurde schon eingegangen.
China ist ein demokratisches "Problem" und nach der Politik "Wandel durch Handel" wird realpolitisch in meinen Augen nun eine neue Seite angeschlagen. Sie haben jetzt, meiner Meinung nach, durch die bisherige Politik auch einen Lebensstandart zu verlieren den sie vorher nicht hatten. Insoweit könnten sie in die demokratische "Falle" gegangen sein. Andererseits haben die chinesischen Machthaber mehr als einmal verdeutlicht, dass ein oder tausende Menschenleben für sie nichts bedeutet.
Um den Bogen zu Ungarn wieder zu schlagen, gilt auch hier diese Prämisse: eine wirtschaftliche Entwicklung ist ein zartes Pflänzchen das immer begossen werden muss und wenn Tropfen nicht mehr fallen, fallen auch die sichtbaren Folgen lange nicht auf bis es zusammenkracht.
Das wird auch Orban bemerken, auch wenn er imagemäßig weiter den starken Kerl geben muss. Abwarten werden, wird aber der "Westen" können, dem auch noch andere Mittel zur Verfügung stehen.
Das ist für mich die vielbeschworene Realität.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Haegar hat geschrieben:(16 Sep 2021, 09:11)

Auf den ersten Teil wurde schon eingegangen.
China ist ein demokratisches "Problem" und nach der Politik "Wandel durch Handel" wird realpolitisch in meinen Augen nun eine neue Seite angeschlagen.
Also "Wandel durch Handel" ist nun wirklich alles andere als ein neues Konzept. Alle Betrachtungen dazu sprechen, im Gegenteil, von einer "gescheiterten Lebenslüge". Stellvertetend dafür nur mal die Einführung in einem Artikel in der NZZ
Das Märchen vom Wandel durch Handel – wenn seine Logik je funktioniert hat, dann umgekehrt: China führt mit seiner Wirtschaftsmacht die westlichen Demokratien vor.

Wie einen Gral hat der Westen die Devise vom Wandel durch Handel vor sich hergetragen. Die Regeln der Ökonomie, so die Idee, beförderten weltweit Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ein Märchen und eine Lebenslüge, wie der Blick auf China zeigt.
https://www.nzz.ch/meinung/china-russla ... duced=true
Ich versichere dir, ich habe in jüngerer Zeit wenigstens 10 Artikel gelesen oder gehört, die allesamt in dieselbe Richtung gingen. Es hat, meiner Ansicht nach, vor allem damit zu tun, dass große, weltweit operierende Unternehmen gar nicht mehr an die Strukturen gebunden sind, in denen sowas wie "Handel durch Wandel" stattfinden könnte: Staaten, Länder, Staatengemeinschaften wie die EU zum Beispiel. Erstens. Und Zweitens: Damit, dass autokratische und neokommunistische System in der auf Extensivität und Wachstum bedachten globalen Wirtschaft im Systemwettbewerb einfach langfristig überlegen sind.

Wenn dieser sogenannte "Westen" seine Werte verteidigen will, dann muss er als erstes aus der wachstumsorientierten Wohlstandsökonomie aussteigen. Dann erst kann er Lebenswirklichkeiten vorweisen, die eine Alternative zu autokratischen Systemen bilden. In Hinsicht auf Produktionskapazität, Preiswettbewerb, Innovationsfähigkeit wird er - zumindest langfristig - unterlegen sein.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Sep 2021, 08:25)

...

Wenn dieser sogenannte "Westen" seine Werte verteidigen will, dann muss er als erstes aus der wachstumsorientierten Wohlstandsökonomie aussteigen. Dann erst kann er Lebenswirklichkeiten vorweisen, die eine Alternative zu autokratischen Systemen bilden. In Hinsicht auf Produktionskapazität, Preiswettbewerb, Innovationsfähigkeit wird er - zumindest langfristig - unterlegen sein.
Da bin ich bekanntermassen der gegenteiligen Meinung und sehe die autokratischen Systeme nur immer in einem kurzfristigen Vorteil, der langfristig in allen Deinen drei Punkten scheitern wird. Auch sehe ich diese Systeme im "Gnaden und Abhängigheitsverhältnis" zu dem wertegebundenen Demokratien, denn solche autoritären Staaten besitzen für ihre produktiven, billigen und innovativen Menschen keine Rechtsgarantien, die sie aber im "Westen" finden.

https://austrian-institute.org/de/blog/ ... ngehoeren/

https://de.irefeurope.org/Diskussionsbe ... -unmoglich

Jedoch sehe ich in meinen Augen die Problematik eher in den westlichen Demokratien selbst:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/ ... wirtschaft

aber auch hieraus:

"Unter den 42 sehr gut und gut regierten Staaten findet sich mit Singapur lediglich eine Autokratie. Dem gegenüber befinden sich unter den 46 Ländern mit schlechter oder gescheiterter Regierungsführung lediglich fünf Demokratien: Bosnien und Herzegowina, Lesotho, Libanon, Nigeria und Ungarn."
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Haegar hat geschrieben:(17 Sep 2021, 13:04)

Da bin ich bekanntermassen der gegenteiligen Meinung und sehe die autokratischen Systeme nur immer in einem kurzfristigen Vorteil, der langfristig in allen Deinen drei Punkten scheitern wird. Auch sehe ich diese Systeme im "Gnaden und Abhängigheitsverhältnis" zu dem wertegebundenen Demokratien, denn solche autoritären Staaten besitzen für ihre produktiven, billigen und innovativen Menschen keine Rechtsgarantien, die sie aber im "Westen" finden.
Ich muss voranstellen, dass ich gewisse Entwicklungen persönlich keineswegs als positiv ansehe. Aber unabhängig davon. Der letzte Satz scheint mir von einer gewissen Arroganz und Überheblichkeit geprägt zu sein. Wenn Du dich da mal nicht irrst. Deinen verlinkten Artikeln steht die Analyse in der NZZ (eine eher konservative aber auf jeden Fall seriöse Zeitschrift gegenüber): "umgekehrt: China führt mit seiner Wirtschaftsmacht die westlichen Demokratien vor." "Gnade" ist sowieso ein ganz seltsam archaischer Begriff. Der im harten Weltwirtschaftsleben wohl kaum irgendwo anzutreffen ist. Und dieses "billig"-Attribut kommt noch aus der Zeit des beginnenden chinesischen Wirtschaftsaufschwungs in den 90ern. Wir leben inzwischen in einer ganz anderen Welt.

Der Rechtsstaat ist eine wunderbare Idee und Einrichtung. Er entfaltet seine positive Wirkung aber nur, wenn er nicht von informellen Regelungen überlagert wird. Er erfordert das selbständige eigenständige Individuum. Man muss ihn wollen. Im letzten Absatz des verlinkten austrian-instituts-Artikels ist von einem "Zeitgeist" im Westen die Rede, der in Teilen zumindest den Ideen der liberalen Marktwirtschaft entgegengerichtet ist. Ein großer Teil dieses Zeitgeists läuft auf Identität, Gemeinschaft, Nation, Kommunitarismus hinaus. Das Bedürfnis nach einer "Leitkultur" unter konservativ geprägten Menschen sehe ich in einer ähnlichen Richtung wie das Sozialkreditsystem in China. Lass einen "Chefisten" wie Friedrich Merz Kanzler werden und du wirst sehen. Orbán war irgendwann auch mal ein überzeugter Liberaler. Jetzt sind die Berufungen auf traditionelle Werte wie "Familie" Gesetz. In den Leitkultur-Entwürfen stehen andere Vorschläge. Aber vom Prinzip her gehts in dieselbe Richtung.

Das Gegenmodell eines Ausstiegs aus einer extensiven, klassisch wohlfahrtsökonomischen Gesellschaft hat natürlich ein Problem: Die autokratischen Systeme haben in der Regel allesamt imperiale Ambitionen. Wie soll man sich dagegen wehren? Wie soll man eine wachstumskritische Gesellschaft gegen Angriffe verteidigen? Ich habe darauf auch keine Antwort.


Unabhängig davon und etwas off topic (weils nicht um die EU geht): In der führenden westlichen Macht löst sich der Rechtsstaat gerade auf. Gerade heute die Meldung, dass nach wie vor ein großer Teil der Republikaner-Anhänger nach wie vor an einen Wahlbetrug glaubt. Und dass Donald Trump den Kampf um seine Führungsmacht bzw. um seine Rückkehr an die Macht längst noch nicht aufgegeben hat. Gleichzeitig hat der amtierende Präsident mit UK und Australien gerade ein Militärbündnis im Süpazifisch-Indischen Raum abgeschlossen. Und wiederum gleichzeitig haben wir das Desaster des Afghanistan-Einsatzes. Dieser etwas sonntäglich-professorale Ton in deinen verlinkten Artikeln passt einfach nicht (mehr) zu dieser zerrissenen Wirklichkeit. Auch wenn ich dir den Glauben an den Sieg einer wohlgeordneten Welt, in der alles seinen Platz in einer natürlichen Rangordnung hat, so wie etwa inden 60ern, 70ern, nicht nehmen will.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Kohlhaas »

schokoschendrezki hat geschrieben:(17 Sep 2021, 14:12)

Ich muss voranstellen, dass ich gewisse Entwicklungen persönlich keineswegs als positiv ansehe. Aber unabhängig davon. Der letzte Satz scheint mir von einer gewissen Arroganz und Überheblichkeit geprägt zu sein. Wenn Du dich da mal nicht irrst. Deinen verlinkten Artikeln steht die Analyse in der NZZ (eine eher konservative aber auf jeden Fall seriöse Zeitschrift gegenüber): "umgekehrt: China führt mit seiner Wirtschaftsmacht die westlichen Demokratien vor."
An der Stelle stimme ich Haegar zu. Die NZZ analysiert die aktuelle Situation. Es ist zweifellos richtig, dass China derzeit die westlichen Demokratien "vorführt". Das funktioniert aber nur, weil China in der Vergangenheit planmäßig und staatlich organisiert "geistiges Eigentum" gestohlen hat und sich nicht an internationale Gebräuche und Regeln hält. Genau dagegen regt sich aber immer stärker wachsender Widerstand. Bekanntlich wachsen die Spannungen zwischen China und dem Rest der Welt immer stärker. Das Wirtschaftssystem der westlichen Demokratien trägt sich aus eigener Kraft. Der chinesische Erfolg gründet sich letztlich auf "Raub". Und Raub ist kein langfristig tragfähiges Konzept. Irgendwann lassen die Beraubten sich nicht mehr berauben. Das erfährt China gerade. Peking ist politisch mittlerweile völlig isoliert. Das wird sich auch ökonomisch auswirken, wie Trumps Handelskrieg mit China angedeutet hat.

Zudem ist zu beachten, dass es nur ganz, ganz wenige undemokratische Staaten gibt, die zu ähnlichem wirtschaftlichen Erfolg gelangt sind wie China. Genau genommen fällt mir gar kein zweites Beispiel ein. In Demokratien scheint der wirtschaftliche Erfolg also eher die Regel zu sein, in Diktaturen hingegen eher die Ausnahme.

"Gnade" ist sowieso ein ganz seltsam archaischer Begriff. Der im harten Weltwirtschaftsleben wohl kaum irgendwo anzutreffen ist.
Gesellschaften reduzieren sich aber nicht auf das Wirtschaftsleben. Das Wirtschaftsleben ist, genau betrachtet, sogar nur ein Symptom der gesellschaftlichen/politischen Verhältnisse. China ist dafür das beste Beispiel. Im Verhältnis zwischen den Menschen und dem Staat können die Bürger nicht auf einklagbares "Recht" zählen, sondern nur auf freiwillig/willkürlich von den Machthabern gewährte "Gnade" - wenn überhaupt.
Der Rechtsstaat ist eine wunderbare Idee und Einrichtung. Er entfaltet seine positive Wirkung aber nur, wenn er nicht von informellen Regelungen überlagert wird. Er erfordert das selbständige eigenständige Individuum.
Genau das gerade nicht. Der Rechtsstaat gewährt Rechtssicherheit und Rechtsdurchsetzung insbesondere für die Menschen, die wenig Durchsetzungskraft haben und deshalb wenig Eigenständigkeit entfalten können. Der Rechtsstaat sorgt dafür, dass die Durchsetzung des Rechts nicht von persönlicher Macht abhängt. Unser gesamtes Justizsystem beruht auf dieser Grundhaltung.
Im letzten Absatz des verlinkten austrian-instituts-Artikels ist von einem "Zeitgeist" im Westen die Rede, der in Teilen zumindest den Ideen der liberalen Marktwirtschaft entgegengerichtet ist.
Genau das ist der Punkt: "...in Teilen...". Diesen Zeitgeist gibt es. Der ist aber keineswegs prägend. In Deutschland zum Beispiel pflegen vielleicht 10 Prozent der Menschen diesen Zeitgeist. Selbst bei den "Sorgenkindern" der EU (Polen, Ungarn) will eine breite Mehrheit der Menschen nichts von der Abgrenzung der eigenen Gemeinschaft gegen die Union wissen.
Das Bedürfnis nach einer "Leitkultur" unter konservativ geprägten Menschen sehe ich in einer ähnlichen Richtung wie das Sozialkreditsystem in China.
Wir haben eine Leitkultur. Das ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Mit dem chinesischen Sozialkreditsystem bzw. mit dem ihm zugrunde liegenden Gesellschaftsverständnis hat das gar nichts zu tun. Der Unterschied liegt darin, dass die Machthaber in China ihre "Leitkultur" ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung definieren und notfalls mit Gewalt durchsetzen.
Orbán war irgendwann auch mal ein überzeugter Liberaler. Jetzt sind die Berufungen auf traditionelle Werte wie "Familie" Gesetz.
Na, das wage ich mal zu bezweifeln! Orban hatte irgendwann mal nicht die Macht, seine illiberalen Vorstellungen durchzusetzen. Jetzt kann er es, und jetzt versucht er es. Das hat aber gewiss nichts damit zu tun, dass er irgendwelchen moralischen Leitbildern wie "Familie" Geltung verschaffen will. Er braucht seine Macht letztlich nur dazu, sich selbst und seiner Sippschaft die Taschen voll zu machen.

In Deutschland wird diese Art von Macht nicht an Politiker vergeben. Da darf ein beliebiger Erz-Konservativer gern über Leitkultur reden. Er bekommt aber nicht die Macht, sowas dann auch durchzusetzen.

In Ungarn wird das übrigens auch nicht so einfach sein. Orban hätte das gern und drängt in die Richtung. Die PiS in Polen versucht das gleiche. Damit geraten sie aber zunehmend auf Kollisionskurs mit der EU. Kruzfristig mag sowas "erfolgreich" sein, mittelfristig fährt man damit aber gegen die Wand. Was "Erfolg" betrifft, liegt der einzige Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur/Autokratie in folgendem Punkt:

Diktaturen/Autokratien können schnell Entscheidungen treffen. Demokratisch getroffene Entscheidungen haben aber tieferen Rückhalt in der Bevölkerung und sind deshalb viel "hartnäckiger", weil möglicher Widerstand nicht mit Gewalt gebrochen werden darf.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Kohlhaas hat geschrieben:(17 Sep 2021, 15:04)

An der Stelle stimme ich Haegar zu. Die NZZ analysiert die aktuelle Situation. Es ist zweifellos richtig, dass China derzeit die westlichen Demokratien "vorführt". Das funktioniert aber nur, weil China in der Vergangenheit planmäßig und staatlich organisiert "geistiges Eigentum" gestohlen hat und sich nicht an internationale Gebräuche und Regeln hält. Genau dagegen regt sich aber immer stärker wachsender Widerstand. Bekanntlich wachsen die Spannungen zwischen China und dem Rest der Welt immer stärker. Das Wirtschaftssystem der westlichen Demokratien trägt sich aus eigener Kraft. Der chinesische Erfolg gründet sich letztlich auf "Raub". Und Raub ist kein langfristig tragfähiges Konzept. Irgendwann lassen die Beraubten sich nicht mehr berauben. Das erfährt China gerade. Peking ist politisch mittlerweile völlig isoliert. Das wird sich auch ökonomisch auswirken, wie Trumps Handelskrieg mit China angedeutet hat.
Da irrst Du dich. Die Gründer der Autoindustrie des Auto-Lands Deutschland reisten damals im 19. Jahrhundert vielfach nach England und kamen mit Ideen und Bauplänen zurück. Das ist der normale Lauf der Dinge. Für mich, der ich grundsätzlich und so gut wie nur mit Open Source Software arbeite, ist das jetzt keine Aufregung wert. Davon unabhängig: China war vollkommen von internationalen Raumfahrtprogrammen ausgeschlossen. Auch von der russischen ISS. Nichtsdestotrotz wird, wenn in Kürze die ISS außer Betrieb geht, China das einzige Land der Welt mit einem Vergleichsprojekt sein. Ich wüsste nicht, bei welcher Gelegenheit die Chinesen da irgendeine "Raubgelegenheit" hatten.

Die neueste und vielleicht brisanteste oder auch charakteristischste aktuelle Meldung lautet (im Schatten des Afghanistan-Desasters): AKK hat (per Twitter :p ) den Rückzugsbefehl für den Sahel-Einsatz (vor allem in Mali) gegeben. 9 Jahre Beteiligung der Bundesrepublik an diesem europäischen Projekt waren komplett umsonst. Das kann man ohne Wenn und Aber so sagen. Die durch den letzten einer Reihe von Putschen an die Macht gekommene Regierung schließt für die Verteidigung Malis gegen Dschihadisten und Tuaregs im Norden lieber einen Vertrag mit der privaten russichen Söldnertruppe "Wagner" ab. Und das obwohl ein Teil der höheren Offiziere in Mali eine Ausbildung in den USA oder Westeuropa durchlaufen haben.

Viele der Analysen zur Entwicklung der Weltpolitik mit längerfristigem Blick kommen im Kern zu der Aussage bzw. formulieren diese sogar explizit oder tragen sie sogar im Titel: Dieser sogenannte "Westen" ... existiert nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr als geschlossenes Ganzes. Auch die kurzfristige Ausbootung Frankreichs bei einem Milliardenwaffendeal der USA mit Australien spricht dafür.

Ich sag nochmal: Ich halte diese Entwicklung persönlich in keinster Weise für positiv. Aber ich will nicht in dieser altväterlich-zurückgelehnten Art von der Überlegenheit von Demokratie und Marktwirtschaft sprechen sondern die Welt möglichst so sehen wie sie wirklich ist.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Kohlhaas hat geschrieben:(17 Sep 2021, 15:04)
Wir haben eine Leitkultur. Das ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Mit dem chinesischen Sozialkreditsystem bzw. mit dem ihm zugrunde liegenden Gesellschaftsverständnis hat das gar nichts zu tun. Der Unterschied liegt darin, dass die Machthaber in China ihre "Leitkultur" ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung definieren und notfalls mit Gewalt durchsetzen.
Nein. Das bestreite ich vehement und in zweifacher Hinsicht. Dass die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" die Leitkultur sei ... das ist ja im Prinzip das Konzept "Verfassungspatriotismus". Und dieses Konzept ist genau so angestaubt und patriarchalisch wie der Begriff heute in den Ohren klingt. Für mich (und nicht nur für mich) ist die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" einfach das optimale Konzept für Individualismus und zur Loslösung von Bindungen. Es braucht für die Zustimmung dafür keinerlei Affekt sondern nur rationale Überlegung.

Und zweitens: Ich glaube du irrst in der Annahme, dass der Nationalismus und der Kollektivismus in China, der sich z.B. im Sozialpunktesystem äußert, sich gegen den Willen der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung richtet. Das nächste Gegenargument gegen eine solche Behauptung lautet meist: Naja, die Bevölkerung wurde ja auch einer "Gehhirnwäsche" unterzogen. Solange bis sie selbst an ein solches System glaubt.. Nein! Nicht doch! Das ist eine völlige Fehleinschätzung und außerdem ein Ausdruck von Arroganz.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Hat das chinesische Volk seine politische Führung in freier und geheimer Wahl aus einem breiten Spektrum von politischen Angeboten gewählt, oder hat hier eine Bande bewaffneter Räuber mit Hilfe von Mitläufern und Eingeschüchterten ein Herrschaftssystem eingerichtet? Die Tatsache, daß sich in China ein erfolgreiches Herrschaftssystem eingerichtet hat, wird niemand bestreiten. Aber mit Überzeugungen und Volkswillen würde ich das Herrschaftssystem nicht in Zusammenhang bringen.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(20 Sep 2021, 07:59)

...

Die neueste und vielleicht brisanteste oder auch charakteristischste aktuelle Meldung lautet (im Schatten des Afghanistan-Desasters): AKK hat (per Twitter :p ) den Rückzugsbefehl für den Sahel-Einsatz (vor allem in Mali) gegeben. 9 Jahre Beteiligung der Bundesrepublik an diesem europäischen Projekt waren komplett umsonst. Das kann man ohne Wenn und Aber so sagen. Die durch den letzten einer Reihe von Putschen an die Macht gekommene Regierung schließt für die Verteidigung Malis gegen Dschihadisten und Tuaregs im Norden lieber einen Vertrag mit der privaten russichen Söldnertruppe "Wagner" ab. Und das obwohl ein Teil der höheren Offiziere in Mali eine Ausbildung in den USA oder Westeuropa durchlaufen haben.

Viele der Analysen zur Entwicklung der Weltpolitik mit längerfristigem Blick kommen im Kern zu der Aussage bzw. formulieren diese sogar explizit oder tragen sie sogar im Titel: Dieser sogenannte "Westen" ... existiert nicht mehr. Jedenfalls nicht mehr als geschlossenes Ganzes. Auch die kurzfristige Ausbootung Frankreichs bei einem Milliardenwaffendeal der USA mit Australien spricht dafür.

Ich sag nochmal: Ich halte diese Entwicklung persönlich in keinster Weise für positiv. Aber ich will nicht in dieser altväterlich-zurückgelehnten Art von der Überlegenheit von Demokratie und Marktwirtschaft sprechen sondern die Welt möglichst so sehen wie sie wirklich ist.
Pünktlich zum 99 Geburtstag eine Wiedergabe des Untergang des Abendlandes.

"Mit der neunten, der russischen Kultur identifiziert Spengler einen weiteren Kultur-Organismus, dem die Zukunft des kommenden dritten Jahrtausends gehöre."

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Unter ... bendlandes

Ich denke er würde heute China sagen und ich würde in meiner "Arroganz" antworten: Wieder falsch.

Ich betrachte das "Angebot" dieser Systeme im Vergleich zu dem "Angebot" des "Westens" auch für den Menschen zB. in China als menschlicher und damit zukunftsorientiert. Die verzweifelten Bemühungen dieser konkurrierender Systeme sich abzuschotten, gerade im Zeitalter des www ist klar erkennbar. Er versucht sogar mit Gegenpropaganda in die Offensive zu gehen und ist aber nicht als Eigenpropaganda aufgebaut, weil es sich dadurch nur noch mehr lächerlich machen würde, weil da noch weniger für die eigenen Menschen angeboten wird.
Auch Trumps "America First" ist implodiert und hat eine Gegenbewegung ausgelöst, die sich zB. Sanders nie erträumen durfte.

Die Vitalität des Westens zeigt sich gerade wegen eines demokratischen Systems deutlich. Um in dem Threadrahmen zu bleiben: Erkennst Du denn eine relevante Bevölkerungsbewegung weg vom "Westen" in Richtung der mitteleuropäischen Länder wie Ungarn oder Polen ?
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(20 Sep 2021, 08:43)

Nein. Das bestreite ich vehement und in zweifacher Hinsicht. Dass die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" die Leitkultur sei ... das ist ja im Prinzip das Konzept "Verfassungspatriotismus". Und dieses Konzept ist genau so angestaubt und patriarchalisch wie der Begriff heute in den Ohren klingt. Für mich (und nicht nur für mich) ist die "freiheitlich-demokratische Grundordnung" einfach das optimale Konzept für Individualismus und zur Loslösung von Bindungen. Es braucht für die Zustimmung dafür keinerlei Affekt sondern nur rationale Überlegung.

Und zweitens: Ich glaube du irrst in der Annahme, dass der Nationalismus und der Kollektivismus in China, der sich z.B. im Sozialpunktesystem äußert, sich gegen den Willen der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung richtet. Das nächste Gegenargument gegen eine solche Behauptung lautet meist: Naja, die Bevölkerung wurde ja auch einer "Gehhirnwäsche" unterzogen. Solange bis sie selbst an ein solches System glaubt.. Nein! Nicht doch! Das ist eine völlige Fehleinschätzung und außerdem ein Ausdruck von Arroganz.
In Punkt 1 gebe ich Dir Recht, denn er bewirkt, dass ein "Verfassungspatriot", bevor er sich bewaffnet erstmal nachdenkt und danach beruhigt abdrücken kann. Für mich ein professionelles Handeln. Der "andere" wird vorstürmen und sterben. Denn das ist es für mich, zu Ende gedacht, wofür Patriotismus gut ist.

Punkt 2: Ich glaube er irrt nicht. Ein gewisser Anteil der Menschen in China ist auch gerade durch die konfuzianische Prägung der Erziehung durchaus mit einem solchem Sozialpunktesystem einverstanden. Aber selbst die chinesischen Machthaber sind am Beispiel Hong Kong,Taiwan und Südkorea sicher, das sie nicht sicher sind. Und deshalb versuchen sie immer wieder deutlich zu machen, dass sie letztlich auch vor blanker Gewalt nie zurückschrecken werden und der einzelne Mensch nichts wert ist.
Und liegen dabei im Widerspruch zu ihrer eigenen konfuzianischen Prägung.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Haegar hat geschrieben:(20 Sep 2021, 09:51)

Pünktlich zum 99 Geburtstag eine Wiedergabe des Untergang des Abendlandes.

"Mit der neunten, der russischen Kultur identifiziert Spengler einen weiteren Kultur-Organismus, dem die Zukunft des kommenden dritten Jahrtausends gehöre."

https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Unter ... bendlandes

Ich denke er würde heute China sagen und ich würde in meiner "Arroganz" antworten: Wieder falsch.

Ich betrachte das "Angebot" dieser Systeme im Vergleich zu dem "Angebot" des "Westens" auch für den Menschen zB. in China als menschlicher und damit zukunftsorientiert. Die verzweifelten Bemühungen dieser konkurrierender Systeme sich abzuschotten, gerade im Zeitalter des www ist klar erkennbar. Er versucht sogar mit Gegenpropaganda in die Offensive zu gehen und ist aber nicht als Eigenpropaganda aufgebaut, weil es sich dadurch nur noch mehr lächerlich machen würde, weil da noch weniger für die eigenen Menschen angeboten wird.
Auch Trumps "America First" ist implodiert und hat eine Gegenbewegung ausgelöst, die sich zB. Sanders nie erträumen durfte.

Die Vitalität des Westens zeigt sich gerade wegen eines demokratischen Systems deutlich. Um in dem Threadrahmen zu bleiben: Erkennst Du denn eine relevante Bevölkerungsbewegung weg vom "Westen" in Richtung der mitteleuropäischen Länder wie Ungarn oder Polen ?
Also erstmall: Häh? Ich hab doch überhaupt nix von "Untergang" geschrieben. Oswald Spengler stand mit ganzem Herzen auf einer bürgerlich-konservativ-nationalistischen Seite. Und von daher ist es verständlich, dass er Veränderungen jeder Art als "Untergang" wahrnahm. Ich habe geschrieben, dass ich lediglich nicht in einer altväterlich-zurückgelehnten Art von der Überlegenheit des Westens sprechen will sondern zumindest versuche, die Welt so zu sehen wie sie wirklich ist.

Selbstverständlich erkenne ich eine Bevölkerungsbewegung "weg vom Westen". Genauer müsste man eigentlich sagen Weg von einem in sich geschlossenen Westen. Was ist denn zum Beispiel der Brexit anderes? Und gerad heute früh hörte ich einen Kommentar ... da hieß es: Man solle sich Biden nicht etwa als eine Art gutwilligen Politik-Opa vorstellen, der nun wieder die gute alte multilaterale Welt und das Atlantik-Bündnis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederherstellt. In der Frage "America First" sei er keinen Deut weniger knallhart als Trump. Und ein Land wie Ungarn ist viel viel zu klein und unbedeutend als dass es da jemals eine Richtung "hin" geben könnte. Wobei das auch nicht ganz stimmt. Eine der deutschsprachigen und eigentlich schon fast untergegangen Wochenzeitungen ("Balaton-Zeitung") feiert seine Wiederauferstehung. Wegen der Tatsache des anhaltenden Booms der Errichtung von "Rentner-Refugien" in touristisch attraktiven Regionen. Es liegt eben einfach ein Stück näher an Deutschland als Mallorca. Und da musst du einfach mal die Augen und Ohren öffnen: Was meinst du wieviele Menschen es in Deutschland gibt, die offen oder versteckt denken oder auch sagen: Orbán: Der macht es richtig! Warum hat uns der liebe Gott statt eines Orbáns eine Merkel gesandt? Und auch hier denke ich mir meinen Teil dazu.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Erkennst Du denn eine relevante Bevölkerungsbewegung weg vom "Westen" in Richtung der mitteleuropäischen Länder wie Ungarn oder Polen ?
Diese Frage ist aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang nicht zulässig. In der EU gibt es ein Wohlstandsgefälle von West-Mitteleuropa nach Ost-Mitteleuropa, für das ich die EU aber nicht verantwortlich mache, sondern die Nachkriegsgeschichte Europas. Es gibt also schon eine nennenswerte Zuwanderung aus der Ukraine nach Ost-Polen... und Polen nutzt diese Zahlen, um sich der Verteilung von Asylbewerbern auf alle EU-Partner zu widersetzen.

In Deutschland leben und arbeiten 700.000 Polen; an solche Zahlen kommt die Zuwanderung aus dem Westen natürlich nicht heran.

Sie hätten aber auch fragen können, ob es denn eine relevante Bevölkerungsbewegung von Deutschlands Westen in die östlichen Bundesländer gibt. Da wäre meine Antwort sehr ähnlich ausgefallen.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Was meinst du wieviele Menschen es in Deutschland gibt, die offen oder versteckt denken oder auch sagen: Orbán: Der macht es richtig! Warum hat uns der liebe Gott statt eines Orbáns eine Merkel gesandt? Und auch hier denke ich mir meinen Teil dazu.
Klar gibt es die. Die Sonntagsfrage zeigt, daß etwa 11% unserer befragten Mitbürger sich in nationalstaatlicher Enge wohler zu fühlen scheinen als in der EU, und daß auch zwielichtiges Führungspersonal ihnen keine Sorgen macht.

Um es einmal anders aus zu drücken: Frau Merkel haben die wohl nicht gewählt... :p
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(20 Sep 2021, 10:12)

Also erstmall: Häh? Ich hab doch überhaupt nix von "Untergang" geschrieben. Oswald Spengler stand mit ganzem Herzen auf einer bürgerlich-konservativ-nationalistischen Seite. Und von daher ist es verständlich, dass er Veränderungen jeder Art als "Untergang" wahrnahm. Ich habe geschrieben, dass ich lediglich nicht in einer altväterlich-zurückgelehnten Art von der Überlegenheit des Westens sprechen will sondern zumindest versuche, die Welt so zu sehen wie sie wirklich ist.

Selbstverständlich erkenne ich eine Bevölkerungsbewegung "weg vom Westen". Genauer müsste man eigentlich sagen Weg von einem in sich geschlossenen Westen. Was ist denn zum Beispiel der Brexit anderes? Und gerad heute früh hörte ich einen Kommentar ... da hieß es: Man solle sich Biden nicht etwa als eine Art gutwilligen Politik-Opa vorstellen, der nun wieder die gute alte multilaterale Welt und das Atlantik-Bündnis der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederherstellt. In der Frage "America First" sei er keinen Deut weniger knallhart als Trump. Und ein Land wie Ungarn ist viel viel zu klein und unbedeutend als dass es da jemals eine Richtung "hin" geben könnte. Wobei das auch nicht ganz stimmt. Eine der deutschsprachigen und eigentlich schon fast untergegangen Wochenzeitungen ("Balaton-Zeitung") feiert seine Wiederauferstehung. Wegen der Tatsache des anhaltenden Booms der Errichtung von "Rentner-Refugien" in touristisch attraktiven Regionen. Es liegt eben einfach ein Stück näher an Deutschland als Mallorca. Und da musst du einfach mal die Augen und Ohren öffnen: Was meinst du wieviele Menschen es in Deutschland gibt, die offen oder versteckt denken oder auch sagen: Orbán: Der macht es richtig! Warum hat uns der liebe Gott statt eines Orbáns eine Merkel gesandt? Und auch hier denke ich mir meinen Teil dazu.
Ist bei mir so angekommen wie "Untergang" in dem Versuch die Welt so zu sehen wie sie wirklich ist.

"Genauer müsste man eigentlich sagen Weg von einem in sich geschlossenen Westen." Jetzt verstehe ich Dich besser.

Gab es denn je einen ?

Frankreich ist mit der NATO nie wirklich glücklich gewesen und GB nie mit der EU. Deutschland (Italien, Spanien ?) jedoch mit beidem. Ich bitte mir in meiner deutschen Arroganz zu verzeihen, wenn ich jetzt viele Nachbarn einfach so weggedacht habe mit ihren Eigenheiten.

Die USA war als Weltmacht immer der "Taktgeber" des Westens und versucht wieder nach Trump in diese Position zurückzukehren. Wird wohl gelingen, wenn sie die Republikaner von der Macht weghalten. Soll die EU (jetzt ohne GB) sich hierzu wie verhalten ?
Ein Ziel scheint zumindest nach der Asien-Nato sicher: gegen China.
Zuletzt geändert von Haegar am Mo 20. Sep 2021, 10:42, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

H2O hat geschrieben:(20 Sep 2021, 10:18)

Diese Frage ist aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang nicht zulässig. In der EU gibt es ein Wohlstandsgefälle von West-Mitteleuropa nach Ost-Mitteleuropa, für das ich die EU aber nicht verantwortlich mache, sondern die Nachkriegsgeschichte Europas. Es gibt also schon eine nennenswerte Zuwanderung aus der Ukraine nach Ost-Polen... und Polen nutzt diese Zahlen, um sich der Verteilung von Asylbewerbern auf alle EU-Partner zu widersetzen.

In Deutschland leben und arbeiten 700.000 Polen; an solche Zahlen kommt die Zuwanderung aus dem Westen natürlich nicht heran.

Sie hätten aber auch fragen können, ob es denn eine relevante Bevölkerungsbewegung von Deutschlands Westen in die östlichen Bundesländer gibt. Da wäre meine Antwort sehr ähnlich ausgefallen.
Mich hätten schon auch die Einwanderer aus F, ESP, I, GR usw. interessiert. Deshalb meine hinterfotzige Frage... :D
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Haegar hat geschrieben:(20 Sep 2021, 10:38)

Mich hätten schon auch die Einwanderer aus F, ESP, I, GR usw. interessiert. Deshalb meine hinterfotzige Frage... :D
Diese "Westler" fragen natürlich auch nach ihren Lebensbedingungen vor Ort in der Fremde. Und wenn die nicht besser sind als zu Hause, dann ist die Entscheidung, wohin man allenfalls auswandern würde, doch wohl klar. :)
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(20 Sep 2021, 10:27)

Klar gibt es die. Die Sonntagsfrage zeigt, daß etwa 11% unserer befragten Mitbürger sich in nationalstaatlicher Enge wohler zu fühlen scheinen als in der EU, und daß auch zwielichtiges Führungspersonal ihnen keine Sorgen macht.

Um es einmal anders aus zu drücken: Frau Merkel haben die wohl nicht gewählt... :p
Ja, das ist natürlich richtig. Das müsste man zuallererst jenen sagen, die überall und immer das Märchen vom Opferstatus verbreiten. Dass man hoffnungslos der Meinungsherrschaft eines linksgrünen Mainstreams, eines "Systems" einschließlich einer nach links verschobenen CDU ausgesetzt ist. Immer mit einem Pflaster auf dem Mund. Und dass eigentlich niemand mehr in der Bundesrepublik seine eigene Meinung aussprechen dürfe, wenn sie diesem linkgrünen Mainstream nicht in den Kram passt.

Bei diesen Umfragen muss man aber aufpassen. Wenn man sich den Gang der Weltpolitik anschaut. Der wird eher selten von mehr oder weniger passiven Mehrheiten bestimmt.

Sie leben ja in Polen. Polen hat rein statistisch in der Bevölkerung eine der höchsten Zustimmungsraten zur EU in Europa. Und gleichzeitig so ziemlich die größten Differenzen zwischen den EU-Institutionen und der Landesregierung. Wie lässt dieser eklatante Widerspruch erklären? Ist die Regierung auf nichtdemokratischem Weg an die Macht gekommen? Klares Nein. Bekennen sich so viele Polen zur EU, weil sie sich deshalb einfach Vorteile ohne Eigenleistung versprechen? Eher nein. An der Ablehnung der Namensänderung im heute Nordmazedonien genannten Staat durch einen großen Teil der Menschen mit der möglichen Folge eines Endes der EU-Perspektive wegen der Blockade Griechenlands sieht man ganz klar, dass man solche Vorteilserwägungen nicht einfach als prinzipiell gegeben voraussetzen kann. Der Gang der Weltpolitik folgt nicht einfach nur einem Mehrheitswillen. Weil dieser Mehrheitswillen von, ich nenne es mal "tektonischen Verschiebungen" abhängig ist. Es gibt global betrachtet schon seit einiger Zeit eine Verschiebung hin zu "Identität, Tradition, Souveränität". Auch wenn die gleichnamige EU-Parlamentsfraktion klein und unbedeutend war und inzwischen nicht mehr existiert. Für die übergroße Mehrheit der Menschen in Deutschland ist - so vermute ich jedenfalls - "EU" vor allem und inzwischen mit Sicherheit und Stabilität verbunden. Sie werden das Konzept "EU-Gemeinschaft" nicht einfach so in die Tonne treten. Nicht weil sie die EU lieben, sondern weil sie - wie vermutlich alle Lebewesen - eher auf die Strategie "Minimierung des maximalen Risikos" als auf die Strategie "Maximierung des minimalen Gewinns" setzen.

Ich wusste das bislang gar nicht so richtig und vielleicht ist das ja auch eine neuere Erkennntis oder vielleicht habe ich das ganze auch nicht richtig oder überhaupt nicht kapiert: Die Evolution auf der Ebene der Genetik vollzieht sich nicht einfach nach einem blinden Trial-and-Error-Prinzip. Es gibt sozusagen immer einen großen konservativen Teil der Gene und einen kleineren "explorierenden" Teil. Der konservative Teil sorgt dafür, dass Änderungen nicht in die Katastrophe führen. Der explorierende Teil sorgt dafür, dass immer auch nach neuen Möglichkeiten gesucht wird. Tut sich so eine (wirkliche oder vermeintliche) Möglichkeit auf, so wird im Nu der konservative Teil überstimmt. Und es findet ein auch möglicherweise radikaler Übergang statt. Und in gewisser Hinsicht scheint es mir, dass es da Parallelen in der politischen Entwicklung gibt.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von schokoschendrezki »

Haegar hat geschrieben:(20 Sep 2021, 10:34)

Ist bei mir so angekommen wie "Untergang" in dem Versuch die Welt so zu sehen wie sie wirklich ist.

"Genauer müsste man eigentlich sagen Weg von einem in sich geschlossenen Westen." Jetzt verstehe ich Dich besser.

Gab es denn je einen ?
Ja. Ich denke schon. Mir sind die Ambitionen Frankreichs, sich als eigenständige Supermacht zu etablieren, auch als eigenständige Atommacht, bekannt. Es gab diesen mehr oder weniger in sich geschlossenen "Westen" u.a. deshalb, weil es einen "Osten" gab. Und es gibt ihn u.a. deshalb nicht mehr, weil es diesen "Osten", sprich das SU-beherrschte System des Staatssozialismus nicht mehr gibt.

Man betrachte dazu nur einmal und als Beispiel die Entwicklung der Türkei. Sie wurde - fast völlig unabhängig von innenpolitischen Entwicklungen - gebraucht als NATO-Mitglied. Als strategisch äußerst wichtiges Land direkt am Südrand der SU. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass diese kemalistisch-nationalistische, säkulare NATO-Türkei fester Bestandteil dieses sogenannten "Westens" war. Ist sie nicht mehr. Überhaupt nicht mehr. Weil sich diese Ost-West-Polarisierung aufgelöst hat. Und an ihre Stelle ein diffuses Kämpfen um globale oder regionale Vorherrschaft getreten ist.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(20 Sep 2021, 11:21)

..
Ich wusste das bislang gar nicht so richtig und vielleicht ist das ja auch eine neuere Erkennntis oder vielleicht habe ich das ganze auch nicht richtig oder überhaupt nicht kapiert: Die Evolution auf der Ebene der Genetik vollzieht sich nicht einfach nach einem blinden Trial-and-Error-Prinzip. Es gibt sozusagen immer einen großen konservativen Teil der Gene und einen kleineren "explorierenden" Teil. Der konservative Teil sorgt dafür, dass Änderungen nicht in die Katastrophe führen. Der explorierende Teil sorgt dafür, dass immer auch nach neuen Möglichkeiten gesucht wird. Tut sich so eine (wirkliche oder vermeintliche) Möglichkeit auf, so wird im Nu der konservative Teil überstimmt. Und es findet ein auch möglicherweise radikaler Übergang statt. Und in gewisser Hinsicht scheint es mir, dass es da Parallelen in der politischen Entwicklung gibt.
Das liest sich für mich, wohl in der Kürze, sehr sozialdarwinistisch an. Und damit wieder in der Nähe von Oswald Spengler. ;) :D
Und wird daher in der Tradition des moralischen Fehlschlusses von mir abgelehnt.
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Haegar »

Frankreich steht nicht alleine da, nachdem sich Australien nicht an Verträge zu halten gedenkt:

https://www.spiegel.de/ausland/u-boot-s ... 870fdff596
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von H2O »

Diese Entwicklung im Westen muß man aber doch auch unter ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Natürlich dürfen Verbündete auch in Friedenszeiten... und besonders dann!... nicht in dieser Weise miteinander umspringen!
https://www.politik-forum.eu/viewtopic. ... 3#p5074825

Frankreich bekommt nun in der EU... zumindest von der Seite der EU-Amtsträger... breite verbale Unterstützung im geplatzten U-Bootsgeschäft mit Australien. Dem DLF zufolge hat auch unser Außenminister Maaß das Vorgehen von USA, GB und AUS getadelt. Alles schön und gut, und einem geprellten und gekränkten Partner tut diese Solidarität sicher gut. Aber Parteinahme kann kein Ersatz für eine zukunftsgerichtete Politik der EU sein!

Genau dort liegt aber doch zu vieles im Argen. Der Weg zu einem gemeinsamen europäischen wirtschaftlichen, politischen und weltpolitischen Auftritt wird versperrt durch engstirnige nationale Interessen der Partner. Im Zweifelsfall sucht jeder EU-Partner seinen bevorzugten Platz im Orchester der ganz Großen, was geradezu lächerlich wirkt angesichts der bestehenden Unterschiede der wirtschaftlichen, weltpolitischen und militärischen Fähigkeiten. GB mit seinen "special relationships" und "Global Britain" will heute nicht mehr so recht passen zu einem Land mit 65 Mio Einwohnern und dennoch beeindruckender Vergangenheit... die nie wieder kommen kann. Aber GB ist seit einiger Zeit auch kein Bestandteil der EU mehr... taugt aber immer noch als schlechtes Beispiel.

Nun kann unsereiner als überzeugter Europäer und Unionsbürger nur hoffen, daß unsere Partnerstaaten die altgewohnten Verbindungen allmählich, aber stetig, auf die EU als gemeinsame Plattform übertragen, also eine gemeinsame Außenpolitik und Sicherheitspolitik entsteht. Das beste, was den wachsam beobachtenden Weltmächten passieren kann, das sind Europäer, die eifersüchtig um den besten Platz an der Tafel der Mächtigen buhlen und sich in ihrer Eifersucht auch anstacheln lassen. Divide et impera; damit hat das alte Rom seine Macht ausgebaut.

Man wird ja wohl noch einmal davon träumen dürfen, was möglich wäre, wenn bestimmte Einsichten sich durchsetzten!
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Re: Sammelstrang: Quo vadis, Europa und EU?

Beitrag von Michael Alexander »

H2O hat geschrieben:(21 Sep 2021, 20:17)
Frankreich bekommt nun in der EU... zumindest von der Seite der EU-Amtsträger... breite verbale Unterstützung im geplatzten U-Bootsgeschäft mit Australien.
Tja, die EU kann halt gut labern; auch weiss von der Leyen sehr gut, vom wem sie inthronisiert wurde und wessen Lied sie zu singen hat. Aussenpolitische Kohärenz und militärische Macht hat die EU keine, und wird sie auch nicht haben, da diese einen halbwegs homogenen Nationalstaat und gemeinsamen Volkswillen voraussetzen.

Von daher hat das ganze Herumlabern keine Konsequenz und andere Mächte handeln eben so, wie sie das für richtig halten, unabhängig von der Einschätzung der EU.

Die EU bekommt allerdings einen Orden als Wächterin der Obermoral, und darf sich dafür einen Lolli kaufen.
H2O hat geschrieben:(21 Sep 2021, 20:17)
Dem DLF zufolge hat auch unser Außenminister Maaß das Vorgehen von USA, GB und AUS getadelt.
:D Die Welt erzittert vor dem Machtwort, das Maas gesprochen hat.

Ernsthaft, glaubst du wirklich, diese Witzfigur würde irgendwo ausserhalb Deutschlands ernst genommen? Maas wird in diversen Entwicklungsländern allenfalls als einfach nutzbares Scheckbuch wahrgenommen, aber in den USA, GB oder Australien ist dieser Mann unbekannt.
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