Genau diesen Eindruck habe ich nicht!Selina hat geschrieben:(21 May 2020, 14:17)
Ich hatte das deshalb so verknappt gesagt, was ich vom Begriff "Schuldkult" halte, weil wir diesen Aspekt hier schon dutzendfach besprochen haben. Also nochmal: Es geht bei den heutigen Generationen selbstverständlich nicht um Schuld, sondern immer um Verantwortung, dass sich so etwas nicht wiederholt. Schuld an den Naziverbrechen haben die allermeisten heutigen Menschen natürlich nicht auf sich geladen, wie auch? Sie haben ja zumeist noch nicht gelebt in dieser Zeit. Aber ob sie sich mit der finsteren Geschichte auch genau befassen, sie wirklich verstehen lernen und das verinnerlichen, was damals geschah, und ja, die richtigen Schlüsse daraus ziehen, das wird mit dem Begriff Verantwortung umschrieben. Zur Frage "Schuld - Verantwortung" hat vor Jahren auch Weizsäcker gute Worte gefunden.
Eine Ritualisierung dieser ganzen Aufarbeitung und ein bloßes immerwährendes leeres Bekenntnis "nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus" abzugeben, wäre falsch. Da gebe ich dir recht. Ich habe jedoch den Eindruck, dass durchaus eine Mehrheit im Land die Verantwortung sieht und die richtigen Schlüsse für die Zukunft zieht. Das Argument, es werde ein "Schuldkult" betrieben, ist eine Erfindung derjenigen, die auch gerne von "Schlussstrich ziehen unter diesem düsteren Kapitel" reden oder von einer angeblich benötigten "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad". Gerade das wäre aber der falsche Weg. An diese von Deutschen verursachten Naziverbrechen muss immer wieder erinnert werden. Und es müssen immer wieder die Details vermittelt werden. Daher halte ich es zum Beispiel für ein absolutes No-Go, dass das Fach Geschichte an einigen Schulen nur noch fakultativ angeboten werden soll. Dennoch gehe ich mal davon aus, dass die allermeisten Eltern ihren Kindern sehr genau erzählen, was damals geschah und mit ihnen darüber reden, ihnen entsprechende Bücher und Filme empfehlen, Fragen beantworten. In meinem Umfeld ist das jedenfalls der Fall.
Im Gegenteil, mein Eindruck ist viel mehr der, dass eben keine Verantwortung übernommen wird, weil eben keine Lehren aus der Geschichte gezogen werden und es deshalb bei leeren Lippenbekenntnissen bleibt.
Der Grund dafür ist, dass eben keine Aufarbeitung stattfindet, sondern immer nur "erinnert" wird.
Und genau das nenne ich "Schuldkult". Es wird an begangene Verbrechen erinnert, die frühere Generationen begangen haben und das spricht nur Emotionen an, erzeugt Entsetzen, führt aber nicht dazu Lehren aus den Ereignissen/aus der Geschichte zu ziehen und Verantwortung zu übernehmen, sondern nur zu Lippenbekenntnissen "das darf nie wieder geschehen".
Um Lehren aus der Geschichte zu ziehen und Verantwortung zu übernehmen, reichen Emotionen nicht, dazu bedarf es der Ratio und dafür wiederum braucht es Wissen - Wissen darüber, welche Ideologie dahinter steckt, wie und wann sich diese Ideologie entwickelte, auf welchen gesellschaftlichen Verhältnissen sie gedieh. Dazu muss man jedoch weiter zurück als zum Ende des WK1.
Es bedarf Wissen darüber wer (welcher Personenkreis) Hitlers Aufstieg und den der NSDAP überhaupt ermöglichte, welche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse dies begünstigten u.v.m.
Und dazu reicht es eben nicht aus nur zu "erinnern", dazu bedarf es einiges mehr und dieses "mehr" vermisse ich.
Und nein, ich gehe nicht davon aus, dass "die allermeisten Eltern ihren Kindern sehr genau erzählen, was damals geschah und mit ihnen darüber reden, ihnen entsprechende Bücher und Filme empfehlen"
Vielmehr ist das Gegenteil der Fall, zum einen, weil es die "allermeisten Eltern" gar nicht interessiert und zum anderen, weil den "allermeisten Eltern" genau dieses Hintergrundwissen fehlt, weil auch sie nur "das daran erinnern" kennen.
Bestes Beispiel ist doch wohl die nichtthematisierte Blockade von Leningrad.
Nein, es soll und darf kein Schlusstrich gezogen werden, aber es muss ein "erinnerungspolitisches Umdenken" erfolgen und zwar ein grundlegendes - weg vom (reinen) Ansprechen von Emotionen, hin zur rationalen Aufarbeitung und Vermittlung von Hintergrundwissen.