Liegestuhl hat geschrieben:(31 Aug 2021, 10:23)
Ich halte es generell für einen Fehler, das Schweizer Modell auf direkte Demokratie zu reduzieren. Das System dort steht auf 4 Säulen, die meiner Meinung nach nicht beliebig austauschbar sind:
- direkte Demokratie
- Konsensdemokratie
- ein ausgeprägter Föderalismus, der die "Gewalten-Pyramide" auf den Kopf stellt und den einzelnen Bürger zum Souverän macht.
- die Neutralität des Landes
Da sehe ich bei der AFD aber noch grundsätzliche Defizite.
Ja. Ich habs ja auch andersherum formuliert. Nicht die Schweiz ist ein Teil der direkten Demokratie. Sondern direkte Demokratie ist ein Teil der Schweiz. Und auch in einer repräsentativen Demokratie ist der Bürger mit seiner Wahl letztendlich Souverän. Das Problem ist nicht so sehr die Aushebelung der Bürgermacht sondern die des Parlaments.
So. Und nun mal zu der betreffenden Passage im AfD-Programm (Seite 10/11)
Als freie Bürger treten wir ein für direkte Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit, soziale Marktwirtschaft, Subsidiarität, Föderalismus, Familie und die
gelebte Tradition der deutschen Kultur. Denn Demokratie und Freiheit stehen auf dem Fundament gemeinsamer kultureller Werte und historischer Erinnerungen. ... Wir sind offen gegenüber der Welt, wollen aber Deutsche sein und bleiben. Wir wollen die Würde des Menschen, die Familie mit Kindern, unsere abendländische christliche Kultur, unsere Sprache und Tradition in einem friedlichen, demokratischen und souveränen Natioalstaat des deutschen Volkes dauerhaft erhalten.
Politische Vordenker wie Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill haben das Demokratieverständnis um die "Kultivierungsbedürftigkeit demokratischer Entscheidungsprozesse" erweitert. Im Wesentlichen ist damit die Verhinderung der Dominanz einer Mehrheit über eine Minderheit gemeint. Aber auch das Prinzip der Verantwortlichkeit gewählter Vertreter und Regierender gegenüber dem Parlament. Das ist einfach ein Prinzip, um die Konsistenz und Gerechtigkeit und auch einfach den Sinn von Demokratie in Hinsicht auf Wohlergehen des Volks abzusichern. Das sind kluge und sinnvolle Überlegungen und nicht "gemeinsame kulturelle Werte und historische Erinnerungen". Wo bleiben die - um auf den Programmtext zu kommen - für die Familie oder abendländisch-christliche Kultur eben keine Rolle spielen?
Man könnte das Demokratieverständnis der AfD in diesem Programm auch als "völkisch" bezeichnen. Denn es zielt auf das Volk als
Gemeinschaft und nicht auf den souveränen Bürger als Individuum.
Die Relativitätstheorie hat Einstein auch nicht "aus einer Erinnerung" heraus entwickelt. Mehr denn je brauchen wir neue Antworten auf neue Fragen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)