Misterfritz hat geschrieben:(01 May 2019, 22:26)Ich würde mal behaupten, die durchschnittliche Mitte hat heute allenfalls eine Fahrradtour oder einen Spaziergang gemacht, bevor sie gegrillt haben. Meist mit Familie, ab und an noch mit Freunden. Die durchschnittliche Mitte wirst Du also kaum auf einer Demo gesehen haben, weder auf einer linken noch auf einer rechten.
Die Leute, die Du getroffen hast, waren zumindest politisch interessiert bis engagiert - das ist die Masse nicht. Und in dieser Masse hängt nun mal auch die politische Mitte rum.
Ich habe wirklich keinen Kontaktmangel mit irgendeiner bürgerlichen Mitte. Ich höre allerdings auch genau hin, was bei einer Grillparty so nach einigen Glas Bier geredet wird. Nein. Es geht nicht um Pläne für irgendeine Gewalt-Aktion. Es geht dabei häufig um den ganz alltäglichen beschissenen erbärmlichen Alltagsrassismus. Der sich in "gebildeten" Kreisen auch schon mal darin äußert, dass man "Rassismus" und "Rechtsruck" geographisch zu Osteuropa zuordnet und nicht zu den demokratiefeindlichen politischen Kräften in Osteuropa. So sei er nunmal, der "Osteuropäer". Das ist natürlich nicht rechts oder rassistisch sondern ganz bürgerlich demokratisch ... Oder? Da schließt sich der Maurer auf der Baustelle, der "Albaner nicht leiden kann" (letztens gehört) mit den "Gebildeten" zusammen, die am liebsten den Eisernen Vorhang wieder errichten würden.
Ein Problem in diesem Thread besteht darin, dass nicht klar ist, ob das Problem der "bürgerlichen Mitte" im Verhältnis zu einem Rechtsruck auf Deutschland bezogen sein oder in größerem Maßstab verhandelt werden soll. Die Sorge vor einem neuen nationalistischen Fiasko in Europa leitet sich für mich in erster Linie aus der Erfahrung der Jugoslawien-Kriege ab. Auch wenn ich nicht direkt vor Ort war. Ich wüsste nicht, warum eine historische Aufarbeitung dieser Kriege weniger angebracht sein soll als die Aufarbeitung der beiden Weltkriege. Die rein zahlenmäßig unterschiedlichen Bedeutsamkeiten sind jedenfalls kein Grund. Es zeigt sich dabei auf jeden Fall eines: Menschen, die über Jahrzehnte hinweg zumindest äußerlich friedlich nebeneinander lebten und sehr wohl so etwas wie eine bürgerliche Mitte bildeten, teils befreundet und verschwägert waren, gehen mit Messern und Gewehren aufeinander los und glauben, es nicht miteinander aushalten zu können. Da ich das eben nicht auf irgendeine Kulturprägung, geographische Herkunft, Ethnie oder gar Rasse schiebe ... kommt für mich als Schlussfolgerung nur in Betracht, dass diese "bürgerliche Mittigkeit" auch in Deutschland nur ein dünner, provisorischer Film ist, unter dem die Wölfischkeit des Menschen jederzeit wieder hervorbrechen kann. Für die bürgerliche Mitte in Deutschland und Mitteleuropa sind die Schrecknisse des 20. Jahrhunderts inzwischen so etwas wie die vagen Erinnerungen an einen Alptraum irgendwann um 10 Uhr vormittags nach einem guten Frühstück: Was hast du da schreckliches geträumt? Und inzwischen weiß man wieder: Gestern, das war Aufklärung, Humboldt, Mozart, Goethe, Kant. Heute, das ist die verfassungspatriotische Bundesrepublik, DGB, Bundesliga, ZDF-Sportstudio. War da was?
Der Rechtsruck in der bürgerlichen Mitte ist gleichzeitig eine entschiedene Abkehr von diesem Rechtsruck. Zumindest in dieser sogenannten "bildungsbürgerlichen" Mitte. In Frankreich läuft im rechten Teil dieser bildungsbürgerlichen Mitte in jüngerer Zeit zum Beispiel eine Renaissance rund um die (ja schon seit Jahrhunderten) überhöhte Figur der Jungfrau von Orleans. Ständig gibt es neue Bücher zum Thema. Und nun mit dem Brexit und einer vermeintlichen historischen Parallele der "Engländer-Vertreibung" nach zig Jahrhunderten nimmt diese nationalistische "Jeanne d'Arc"-Verehrung noch einmal richtig Fahrt auf. Ja, bitte, kneif' mir mal jemand in den Arm. In welchem Jahrhundert leben wir denn? Und gibts da wirklich einen fundamentalen Unterschied zur Trianon-Bewegung in Ungarn oder zu den Amselfeldschlachten-Beschwörern in Serbien? Es gibt in dieser bürgerlichen Mitte sowohl in Frankreich als auch in Ungarn nicht wenige entsetzte Intellektuelle, die um nix in der Welt bei diesen Entwicklungen dabei sein wollen. Und dann schon mal als Panikmacher bezeichnet werden.
Anderes Beispiel aus Deutschland: Voriges Jahr ist es einer Mehrheit der Belegschaft der Uni Greifswald nun doch gelungen, den Namen "Ernst-Moritz Arndt", der ihr 1933 ehrenhalber verliehen wurde und vom DDR-Regime wohlfeil verlängert wurde, abzulegen. Eigentlich gegen ein entsprechendes Referendum. Es gibt den einen Teil der bildungsbürgerlichen Mitte, der unter keinen Umständen bei einer Recherche seiner Publikationen in irgendeinen Zusammenhang mit Joseph Göbbels oder Walter Ulbricht gebracht werden will. Verständlich! Und es gibt den anderen Teil, der auf Vaterlandstradition beharrt und
gerade mit Arndt in Verbindung gebracht werden will. Gerade in der juristischen Fakultät in Greifswald sind Personen-Netzwerke über schlagende Verbindungen so relevant, als hätte es 40 Jahre DDR nie gegeben.
Die "bürgerliche Mitte" in Europa arbeitet sich durchaus am Rechtsruck und am Nationalismus ab. Nur natürlich nicht mit einer eindeutigen Tendenz.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)