Objektive moralische Urteile

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schokoschendrezki
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(27 Nov 2020, 18:46)

Objektiv(=intersubjektiv, gemeinsam beobachtbar) sind nur die bloßen Fälle. Wobei die Grenze, die man um eine Zahl von Fällen zieht (was betrachten wir, was schließen wir ein und aus, in welchem Zeitraum, wofür interessieren wir uns) ja schon wieder Werturteil ist.
Die Zahl vollstreckter Todesurteile und die Zahl der Straftaten, die mit mit Todesstrafe bestraft werden, das ist nur - Korrelation. Also ein bloßer statistischer Zusammenfall verschiedener vergangener Fälle. Kausalität("Todesstrafe bewirkt ein Absinken von Straftaten") ist hingegen nicht beobachtbar(Hume), sondern nur eine gedankliche Zuschreibung eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Also eine gedachte "Gesetzmäßigkeit", die nicht nur für die gemeinsam beobachtbare Vergangenheit gilt, sondern sich vom zeitlichen Rahmen löst und gleichförmig immer und überall gelten soll, wie eine "Kraft", die etwas ursächlich antreibt. Nur hängt so eine Vorstellung, Zuschreibung oder Spekulation eben von einem Zuschreibenden oder Spekulierenden ab. Objektivität im strengeren Sinne hängt letztlich hinter dem Vorhang der Metaphysik. Eine Spekulation darüber, was hinter der Beobachtung "wirkt". Eine der frühesten Spekulationen darauf war "Gott".
Für mich - als "Frequentisten" - steckt hinter eine Korrelation ohne bekannte Kausalität nicht zwangsläufig und immer nur eine subjektive Zuschreibung sondern sehr häufig ein nur (noch) nicht erkannter, noch nicht theoretisch ausformulierter, aber durchaus objektiver Zusammenhang.

Und selbst die subjektiven Zuschreibungen sind als objektive Zusammenhänge erkennbar. Beispiel: Kommerziell angebotene genetische Herkunftsanalysen. Für diese benötigt man Referenzdatenbanken als Hintergrundmodell. Wie entstehen die? Man fragt vereinfacht gesagt eine Menge Leute, ob sie genau und lückenlos wissen woher ihre Großeltern stammen und wenn ja, ob diese aus der gleichen Region stammen. In diesem Falle kommen die genetischen Daten in die Referenzdatenbank. In allen anderen Fällen werden die Daten gar nicht erst erhoben. Schon als Mensch mit einem statistischen Laienwissen kann man sich denken, dass Gen-Tests auf der Basis dieser Referenzmodelle tendenziell höchst fehlerhaft sein werden. Denn hinter diesem Aussondern steht die (natürlich fälschliche) Modell-Annahme, dass Menschen Vorfahren im Wesentlichen aus gleichen Großregionen haben. Und dass die, die das so nicht beantworten können lediglich Ausreißer sind. Sind sie natürlich nicht. Weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne.

Diese Zusammenhänge bzw. diese meine Ansichten jetzt aber auf so etwas wie "moralische Urteile" anzuwenden ... da bin ich mir sicher, dass ich mich da verrennen werde. Da lass ich die Finger weg!
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Oliver Krieger
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Oliver Krieger »

Recht und Gesetz sind (persönlich) äußere Regel, Moral ist (persönlich) innere Regel. Darum hat Moral mit Strafmaßen nichts zu tun. Recht muss einheitliche Strafmaße definieren, soweit möglich, die Moral muss charakterlich einheitlich sein.

Ein Verbrecher ist, wer durch die Verübung eines Verbrechens eine äußere Regel bricht, die für alle gilt. Ohne Moral handelt, wer die eigenen Regeln, Werte, Tugenden willkürlich und je nach Sachverhalt ändert oder ignoriert.

Bislang wurde in diesem Diskurs beides miteinander weitestgehend gleichgesetzt.

Ein objektives Recht, oder Gesetz kann es nicht geben, weil kein Gesetzgeber und keine Justiz sämtliche möglichen Rechtsbrüche und Freiheitsmaße kennen kann. Das Recht hinkt der Realität immer hinterher. Außerdem sind gesellschaftliche Zustände viel zu uneinheitlich hierfür.

Um Objektivität des Rechts zu erreichen, hätte nicht nur nie ein Gesetz geändert werden dürfen, und es müssten nicht nur alle Gesetzbücher aller Gesellschaften gleich sein, sondern es müsste auch die Endgültigkeit des Rechts erreicht werden können, weil der Mensch sich nie mehr ändert. Das alles ist undenkbar.

Recht kann allenfalls allgemein sein, in Abgrenzung zum besonderen Recht, oder international, in Abgrenzung zum staatlichen.

Die Zwecke der Strafen festlegenden und verhängenden Staatsgewalten sind vielfältig. Durch die Strafe wird gebessert, gerächt, geschützt, wiedergutgemacht, abgeschreckt, gesondert, demonstriert, befriedet und gepeinigt, um die wichtigsten zu nennen.

Eine objektive Moral kann es nur unter einer einzigen Bedingung geben, und diese ist denkbar unerquicklich : Alle Menschen lebten unter exakt gleichen gesellschaftlichen Bedingungen, und hätten aufgrund seelischer Identität und identischer Mentalität überhaupt keine andere Möglichkeit, als dasselbe zu fühlen, zu wollen, zu urteilen, und zu schließen. Diese Vorstellung entspricht einer Menschheit der Klone mit einem einzigen Geschlecht in einer klassenlosen, ideologisierten und totalitären Dystopie. Es hätte eine feste, immer gleiche Hierarchie der Tugenden, Menschen änderten sich nie, weil der Charakter sonst moralisch abwiche.

Kant empfahl die Objektivität der Moral. Der Mensch solle eigene Maximen entwickeln, die für alle gleich sein können, und denen er zu folgen, und in deren Gebrauch er idealerweise so wenig Freiheit genießen solle, wie der unbelebte Himmelskörper in seinem Orbit. Derlei ist nicht mehr Liberalität, es ist Dogmatik, und es überfordert jede Vernunft, weil kein Mensch jedes Menschenschicksal apriori kennen kann.
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Wichtiger, als die Frage, ob und wann Skepsis angemessen ist, ist die Erkenntnis, wo sie regelmäßig endet.
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