Objektive moralische Urteile

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Stoner

Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

Calvadorius hat geschrieben:(26 Nov 2020, 21:41)

Echt?
:?:
Wo denn genau?
"Das Gegenteil" bezog sich nicht auf die Todesstrafe, sondern auf "Konstrukt" in Ihrem Beitrag. Die Menschenwürde in Art. 1 gilt aber nicht als Konstrukt, sondern als Gattungswürde.

Falls Sie je dazu was sagen wollen, es gibt einen inzwischen eingeschlafenen Strang hierzu.
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naddy
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von naddy »

Stoner hat geschrieben:(26 Nov 2020, 19:10)

Also, wenn man die Behauptung Liegestuhls nimmt und den Kant dagegenhält, dann könnte man ihm - die Frage seiner Prämissen mal außer Acht lassend - zumindest ein sicheres Navigieren durch Gut und Böse behaupten, ohne jetzt ein manichäisches Prinzip aus den Begriffen zu machen.
Noch mehr subjektives "Urteil" als die Setzung von "Gut und Böse" geht doch gar nicht, oder sind wir da unterschiedlicher Auffassung?

Diese Begrifflichkeiten sind Leerformeln, die mit beliebigen Inhalten gefüllt werden können - und auch werden. Darauf hat schon der User Progressiver hingewiesen. Banales Beispiel: Für einen "Gotteskrieger" ist das Abschlachten von "Ungläubigen" gut, die Nicht-Befolgung dieses "göttlichen Auftrags" böse. Wir sehen das überwiegend anders. Ist da ein Kompromiß denkbar, der die Anforderungen an ein "objektives moralisches Urteil" erfüllt?

Noch einmal meine grundsätzliche Meinung zu diesem Thema: Von "objektiven Urteilen" zu reden ist schon deshalb unsinnig, weil sich im Urteil die subjektive Bewertung eines Objekts oder Sachverhalts ausdrückt. Ohne diese Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gibt es kein Urteil. Siehe dazu auch die von BlueMonday zitierte Aussage Heinz v. Foersters.
"Das gefährliche an der Dummheit ist, daß sie die dumm macht, die ihr begegnen." (Sokrates).
Stoner

Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

naddy hat geschrieben:(26 Nov 2020, 22:54)

Noch mehr subjektives "Urteil" als die Setzung von "Gut und Böse" geht doch gar nicht, oder sind wir da unterschiedlicher Auffassung?
Nein, ich wollte lediglich darauf hinweisen, dass man vielleicht mit Kant den Satz von Liegestuhl begründen kann.

naddy hat geschrieben:(26 Nov 2020, 22:54)
Diese Begrifflichkeiten sind Leerformeln, die mit beliebigen Inhalten gefüllt werden können - und auch werden. Darauf hat schon der User Progressiver hingewiesen. Banales Beispiel: Für einen "Gotteskrieger" ist das Abschlachten von "Ungläubigen" gut, die Nicht-Befolgung dieses "göttlichen Auftrags" böse. Wir sehen das überwiegend anders. Ist da ein Kompromiß denkbar, der die Anforderungen an ein "objektives moralisches Urteil" erfüllt?

Noch einmal meine grundsätzliche Meinung zu diesem Thema: Von "objektiven Urteilen" zu reden ist schon deshalb unsinnig, weil sich im Urteil die subjektive Bewertung eines Objekts oder Sachverhalts ausdrückt. Ohne diese Beziehung zwischen Subjekt und Objekt gibt es kein Urteil. Siehe dazu auch die von BlueMonday zitierte Aussage Heinz v. Foersters.
Ich hatte die sprachliche Schlamperei schon präzisiert: Es geht um die objektive Gültigkeit moralischer Urteile - hier wäre es die "objektive Angemessenheit" für ein Todesurteil, was aber derjenige, der es behauptet hat, ohnehin wieder zurückgezogen hat. Ob die Förster-Formel nicht auch ein Idealismus oder eine Leerformel ist, wäre ein anderes Thema.

Was die Frage des Guten oder des Bösen angeht, halte ich es mit Safranski:
„Mir geht es beim Nachdenken über das Böse darum, den Reichtum der Beschreibung wiederherzustellen gegenüber den menschlichen Tatsachen. Die Begriffe, mit denen die Wissenschaft arbeitet, erscheinen mir notorisch harmloser als die Wirklichkeit. “


Wobei der Begriff natürlich immer schon etwas aufgeladen klingt. Aber sich über das radikal Negative Gedanken zu machen und es nicht irgendwelchen Wissenschaftlern, manchen Sozialwissenschaftlern zumal, zu überlassen, kann durchaus sinnvoll sein.
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Calvadorius
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Calvadorius »

Stoner hat geschrieben:(26 Nov 2020, 21:53)

"Das Gegenteil" bezog sich nicht auf die Todesstrafe, sondern auf "Konstrukt" in Ihrem Beitrag. Die Menschenwürde in Art. 1 gilt aber nicht als Konstrukt, sondern als Gattungswürde.

Falls Sie je dazu was sagen wollen, es gibt einen inzwischen eingeschlafenen Strang hierzu.
Wenn Du meinen Beitrag richtig gelesen hättest, wäre Dir aufgefallen, daß die "Gattungswürde" in dieser Betrachtung völlig unerheblich ist.
Es ging in meiner Mitteilung schlicht darum, daß unsere (sehr gute) Verfassung keinerlei "Objektivität" begründet.
Leben ist eine sexuell übertragbare Krankheit, die in jedem Fall tödlich endet.
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aleph
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von aleph »

Skeptiker hat geschrieben:(19 Nov 2020, 20:10)

Ethik und Moral sind keine messbaren Größen. Sie entstammen menschlicher Wahrnehmung und einem gesellschaftlichen und politischen Prozess. Nichts daran ist objektiv.

Folglich kann es auch keine objektiv richtige Strafe geben, weil diese sich an Recht orientiert, welches dem Moralverständnis der jeweiligen Zeit entstammt.
Der grad des schadens, den eine tat anderen oder dich selbst zufügt, könnte man irgendwie bewerten, schließlich auch die verhältnismäßigkeit, beliebt für solche Gedankenspiele sind inseln. Wenn man da einen mörder hat, der wieder morden will und den man nicht wegsperren kann, wäre es objektiv gerechtfertigt, ihn zu töten.
Auf dem Weg zum Abgrund kann eine Panne lebensrettend sein. Walter Jens
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von schokoschendrezki »

"Objektiv" wäre zum Beispiel, wenn man in vergleichenden Studien nachweisen könnte, dass die Verhängung der Todesstrafe für die Verbrechen, die gemeint sind, zu einem relevanten Absinken der entsprechenden Raten führen würde im Vergleich zu Regionen, in denen die Todesstrafe dafür nicht verhängt wird. Das besagt zwar noch nix über irgendein moralisches Urteil. Weder zu diesen Verbrechen noch zur Verhängung der Todesstrafe. Aber es wäre ersteinmal ein objektiver Zugang.

Ich wüsste aber nicht, dass es Studien mit solchen Ergebnissen gibt. In den Niederlanden zum Beispiel gibt es eine extrem strafvermeidende Justiz. In den USA dagegen eine regelrechte Gefängnisindustrie. In China oder dem Iran eine hohe Rate von Todesurteilen. Zu einer besseren Gesellschaft hat wohl weder die eine noch die andere Praxis geführt.

Auch über die grundsätzliche Unangemessenheit einer "Vergeltungsjustiz", bei der also Strafen nicht in Hinsicht auf eine Verbesserung des Sozialgefüges ausgerichtet sind sondern im Sinne einer Vergeltung eine Äquivalenz zur Straftat sein sollen, ließe sich objektiv philosophieren.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

Calvadorius hat geschrieben:(27 Nov 2020, 01:21)

Wenn Du meinen Beitrag richtig gelesen hättest, wäre Dir aufgefallen, daß die "Gattungswürde" in dieser Betrachtung völlig unerheblich ist.
Es ging in meiner Mitteilung schlicht darum, daß unsere (sehr gute) Verfassung keinerlei "Objektivität" begründet.
Ich empfehle dazu die Lektüre des Lüth-Urteils des Verfassungsgerichts sowie des Artikels 1 GG.
Stoner

Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

aleph hat geschrieben:(27 Nov 2020, 01:58)

Der grad des schadens, den eine tat anderen oder dich selbst zufügt, könnte man irgendwie bewerten, schließlich auch die verhältnismäßigkeit, beliebt für solche Gedankenspiele sind inseln. Wenn man da einen mörder hat, der wieder morden will und den man nicht wegsperren kann, wäre es objektiv gerechtfertigt, ihn zu töten.
Oben hat schon jemand auf den Utilitarismus hingewiesen. Innerhalb eines Ansatzes des Handlungsutilitarismus sind solche Überlegungen möglich.
Stoner

Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(27 Nov 2020, 06:47)

"Objektiv" wäre zum Beispiel, wenn man in vergleichenden Studien nachweisen könnte, dass die Verhängung der Todesstrafe für die Verbrechen, die gemeint sind, zu einem relevanten Absinken der entsprechenden Raten führen würde im Vergleich zu Regionen, in denen die Todesstrafe dafür nicht verhängt wird. Das besagt zwar noch nix über irgendein moralisches Urteil. Weder zu diesen Verbrechen noch zur Verhängung der Todesstrafe. Aber es wäre ersteinmal ein objektiver Zugang.
Richtig, denn es ist ja nur eine Beschreibung. Daraus dann eine Norm abzuleiten würden wir ja als naturalistischen Fehlschluss einstufen.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von ThorsHamar »

schokoschendrezki hat geschrieben:(27 Nov 2020, 06:47)

Ich wüsste aber nicht, dass es Studien mit solchen Ergebnissen gibt. In den Niederlanden zum Beispiel gibt es eine extrem strafvermeidende Justiz. In den USA dagegen eine regelrechte Gefängnisindustrie. In China oder dem Iran eine hohe Rate von Todesurteilen. Zu einer besseren Gesellschaft hat wohl weder die eine noch die andere Praxis geführt. ....
"bessere Gesellschaft" kann man gar nicht belegen, denn dazu müsste es im selben Land eine gegenteilige Praxis zum objektiven Vergleich geben.
So bleibt Deine Behauptung eine Vermutung, eine subjektiv determinierte Gleichsetzung.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von aleph »

ThorsHamar hat geschrieben:(27 Nov 2020, 10:13)

"bessere Gesellschaft" kann man gar nicht belegen, denn dazu müsste es im selben Land eine gegenteilige Praxis zum objektiven Vergleich geben.
So bleibt Deine Behauptung eine Vermutung, eine subjektiv determinierte Gleichsetzung.
Man kann verschiedene Länder vergleichen. Man könnte Norwegen und die USA vergleichen oder Kanada und die USA.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

aleph hat geschrieben:(27 Nov 2020, 10:14)

Man kann verschiedene Länder vergleichen. Man könnte Norwegen und die USA vergleichen oder Kanada und die USA.
Die Frage ist doch dann: WAS vergleichen Sie eigentlich, wenn Sie vergleichen?

Wenn ich etwas vergleiche, dann muss ich doch möglichst viele Parameter haben für einen Vergleich. Welche also würde man sinnvollerweise heranziehen?
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von aleph »

Stoner hat geschrieben:(27 Nov 2020, 10:25)

Die Frage ist doch dann: WAS vergleichen Sie eigentlich, wenn Sie vergleichen?

Wenn ich etwas vergleiche, dann muss ich doch möglichst viele Parameter haben für einen Vergleich. Welche also würde man sinnvollerweise heranziehen?
Nicht möglichst viele, sondern die relevanten. Was will ich mit der todesstrafe erreichen? Eine geringere mordrate? Dann reicht es doch, die mordrate in ländern mit und ohne todesstrafe zu vergleichen, um festzustellen, ob die todesstrafe eine abschreckende wirkung hat.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Stoner »

aleph hat geschrieben:(27 Nov 2020, 10:29)

Nicht möglichst viele, sondern die relevanten. Was will ich mit der todesstrafe erreichen? Eine geringere mordrate? Dann reicht es doch, die mordrate in ländern mit und ohne todesstrafe zu vergleichen, um festzustellen, ob die todesstrafe eine abschreckende wirkung hat.
Das wäre mir zu dürftig. Ich wüsste dann gar nicht, warum Länder mit ähnlichen Mordraten womöglich zu unterschiedlichen Ansätzen kämen: Hier die Todesstrafe, dort nicht.

Ich glaube, erst einmal müsste man wissen, wie man in einer Gesellschaft zu Gewalt steht, zum Strafen, welche Weltanschauungen dem zugrunde liegen, welche Traditionen. Man müsste ermitteln, wie hoch oder wie niedrig die Rate des gegenseitigen Vertrauens ist, wie stark das Vertrauen in das Handeln der Institutionen. Um nur einmal einen Anfang zu nennen.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von ThorsHamar »

aleph hat geschrieben:(27 Nov 2020, 10:14)

Man kann verschiedene Länder vergleichen. Man könnte Norwegen und die USA vergleichen oder Kanada und die USA.
Natürlich kann man verschiedene Länder vergleichen, aber eben nicht gleichsetzen.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von ThorsHamar »

aleph hat geschrieben:(27 Nov 2020, 10:29)

Nicht möglichst viele, sondern die relevanten. Was will ich mit der todesstrafe erreichen? Eine geringere mordrate? Dann reicht es doch, die mordrate in ländern mit und ohne todesstrafe zu vergleichen, um festzustellen, ob die todesstrafe eine abschreckende wirkung hat.
Was soll so ein Vergleich bringen? :p
Beispiel:
Welcher Staat hatte eine "bessere Gesellschaft" (Zitat schoko), die DDR oder die Bundesrepublik?
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von aleph »

ThorsHamar hat geschrieben:(27 Nov 2020, 11:05)

Was soll so ein Vergleich bringen? :p
Beispiel:
Welcher Staat hatte eine "bessere Gesellschaft" (Zitat schoko), die DDR oder die Bundesrepublik?
Das haben die bürger der ddr mit ihren füßen entschieden
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von ThorsHamar »

aleph hat geschrieben:(27 Nov 2020, 11:08)

Das haben die bürger der ddr mit ihren füßen entschieden
Nicht ablenken, bitte ....
Es geht hier um eine Gleichsetzung zur Analyse.
In der DDR gab es offenbar weniger Kriminalität als bei uns. Nach statista waren es 1989 in der DDR ca. 100 000 Straftaten, incl. politischer Vorgänge.
In der Bundesrepublik waren es letztes Jahr ca. 5 400 000. (gleiche quelle)
Was kann man daraus jetzt für eine "bessere Gesellschaft" konstruieren, wenn man als Vergleichs-Basis die Judikative selbst plus Strafvollzug heranzieht?
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Meruem »

In Japan ist die Kriminalitätsrate offiziell auch niedriger , wollen da deswegen alle nach Japan auswandern? :?:
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(27 Nov 2020, 06:47)

"Objektiv" wäre zum Beispiel, wenn man in vergleichenden Studien nachweisen könnte, dass die Verhängung der Todesstrafe für die Verbrechen, die gemeint sind, zu einem relevanten Absinken der entsprechenden Raten führen würde im Vergleich zu Regionen, in denen die Todesstrafe dafür nicht verhängt wird. Das besagt zwar noch nix über irgendein moralisches Urteil. Weder zu diesen Verbrechen noch zur Verhängung der Todesstrafe. Aber es wäre ersteinmal ein objektiver Zugang.
.
Objektiv(=intersubjektiv, gemeinsam beobachtbar) sind nur die bloßen Fälle. Wobei die Grenze, die man um eine Zahl von Fällen zieht (was betrachten wir, was schließen wir ein und aus, in welchem Zeitraum, wofür interessieren wir uns) ja schon wieder Werturteil ist.
Die Zahl vollstreckter Todesurteile und die Zahl der Straftaten, die mit mit Todesstrafe bestraft werden, das ist nur - Korrelation. Also ein bloßer statistischer Zusammenfall verschiedener vergangener Fälle. Kausalität("Todesstrafe bewirkt ein Absinken von Straftaten") ist hingegen nicht beobachtbar(Hume), sondern nur eine gedankliche Zuschreibung eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Also eine gedachte "Gesetzmäßigkeit", die nicht nur für die gemeinsam beobachtbare Vergangenheit gilt, sondern sich vom zeitlichen Rahmen löst und gleichförmig immer und überall gelten soll, wie eine "Kraft", die etwas ursächlich antreibt. Nur hängt so eine Vorstellung, Zuschreibung oder Spekulation eben von einem Zuschreibenden oder Spekulierenden ab. Objektivität im strengeren Sinne hängt letztlich hinter dem Vorhang der Metaphysik. Eine Spekulation darüber, was hinter der Beobachtung "wirkt". Eine der frühesten Spekulationen darauf war "Gott".

Und wenn man nun zum "moralischen Urteil" springt, dann lässt sich das nun auch nicht beobachten und wie ein Apfel vom Baume pflücken. Der Grund für "Strafe" ist auch nicht nur die vermeintlichen Abschreckung der Straftat, sondern da gibt es tausend andere Gründe. Ein Strafrechtler meinte einmal, dass wir vor allem strafen würden, um uns selbst zu kennzeichnen als die besseren Menschen, um allen anderen zu sagen: "Schaut her, so sind wir nicht wie diese Halunken, so wollen wir nicht sein". Beweggründe der Anschauung also, eines ästhetischen Urteils letztlich.

Warum will mancher selbstbestimmt sterben? Weil es eine hässliche Vorstellung ist sinnlos weitervegetieren zu müssen. Der katholische Pfarrer lebt hingegen eine andere Ästhetik. Die Ästhetik des durchhaltenen, ertragenen, für alles dankbaren, demütigen Menschen, in dessen Hand es nicht liegt, das "Geschenk des Lebens" abzuweisen und vorzeitig zu beenden.
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(27 Nov 2020, 18:46)

Objektiv(=intersubjektiv, gemeinsam beobachtbar) sind nur die bloßen Fälle. Wobei die Grenze, die man um eine Zahl von Fällen zieht (was betrachten wir, was schließen wir ein und aus, in welchem Zeitraum, wofür interessieren wir uns) ja schon wieder Werturteil ist.
Die Zahl vollstreckter Todesurteile und die Zahl der Straftaten, die mit mit Todesstrafe bestraft werden, das ist nur - Korrelation. Also ein bloßer statistischer Zusammenfall verschiedener vergangener Fälle. Kausalität("Todesstrafe bewirkt ein Absinken von Straftaten") ist hingegen nicht beobachtbar(Hume), sondern nur eine gedankliche Zuschreibung eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung. Also eine gedachte "Gesetzmäßigkeit", die nicht nur für die gemeinsam beobachtbare Vergangenheit gilt, sondern sich vom zeitlichen Rahmen löst und gleichförmig immer und überall gelten soll, wie eine "Kraft", die etwas ursächlich antreibt. Nur hängt so eine Vorstellung, Zuschreibung oder Spekulation eben von einem Zuschreibenden oder Spekulierenden ab. Objektivität im strengeren Sinne hängt letztlich hinter dem Vorhang der Metaphysik. Eine Spekulation darüber, was hinter der Beobachtung "wirkt". Eine der frühesten Spekulationen darauf war "Gott".
Für mich - als "Frequentisten" - steckt hinter eine Korrelation ohne bekannte Kausalität nicht zwangsläufig und immer nur eine subjektive Zuschreibung sondern sehr häufig ein nur (noch) nicht erkannter, noch nicht theoretisch ausformulierter, aber durchaus objektiver Zusammenhang.

Und selbst die subjektiven Zuschreibungen sind als objektive Zusammenhänge erkennbar. Beispiel: Kommerziell angebotene genetische Herkunftsanalysen. Für diese benötigt man Referenzdatenbanken als Hintergrundmodell. Wie entstehen die? Man fragt vereinfacht gesagt eine Menge Leute, ob sie genau und lückenlos wissen woher ihre Großeltern stammen und wenn ja, ob diese aus der gleichen Region stammen. In diesem Falle kommen die genetischen Daten in die Referenzdatenbank. In allen anderen Fällen werden die Daten gar nicht erst erhoben. Schon als Mensch mit einem statistischen Laienwissen kann man sich denken, dass Gen-Tests auf der Basis dieser Referenzmodelle tendenziell höchst fehlerhaft sein werden. Denn hinter diesem Aussondern steht die (natürlich fälschliche) Modell-Annahme, dass Menschen Vorfahren im Wesentlichen aus gleichen Großregionen haben. Und dass die, die das so nicht beantworten können lediglich Ausreißer sind. Sind sie natürlich nicht. Weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinne.

Diese Zusammenhänge bzw. diese meine Ansichten jetzt aber auf so etwas wie "moralische Urteile" anzuwenden ... da bin ich mir sicher, dass ich mich da verrennen werde. Da lass ich die Finger weg!
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Re: Objektive moralische Urteile

Beitrag von Oliver Krieger »

Recht und Gesetz sind (persönlich) äußere Regel, Moral ist (persönlich) innere Regel. Darum hat Moral mit Strafmaßen nichts zu tun. Recht muss einheitliche Strafmaße definieren, soweit möglich, die Moral muss charakterlich einheitlich sein.

Ein Verbrecher ist, wer durch die Verübung eines Verbrechens eine äußere Regel bricht, die für alle gilt. Ohne Moral handelt, wer die eigenen Regeln, Werte, Tugenden willkürlich und je nach Sachverhalt ändert oder ignoriert.

Bislang wurde in diesem Diskurs beides miteinander weitestgehend gleichgesetzt.

Ein objektives Recht, oder Gesetz kann es nicht geben, weil kein Gesetzgeber und keine Justiz sämtliche möglichen Rechtsbrüche und Freiheitsmaße kennen kann. Das Recht hinkt der Realität immer hinterher. Außerdem sind gesellschaftliche Zustände viel zu uneinheitlich hierfür.

Um Objektivität des Rechts zu erreichen, hätte nicht nur nie ein Gesetz geändert werden dürfen, und es müssten nicht nur alle Gesetzbücher aller Gesellschaften gleich sein, sondern es müsste auch die Endgültigkeit des Rechts erreicht werden können, weil der Mensch sich nie mehr ändert. Das alles ist undenkbar.

Recht kann allenfalls allgemein sein, in Abgrenzung zum besonderen Recht, oder international, in Abgrenzung zum staatlichen.

Die Zwecke der Strafen festlegenden und verhängenden Staatsgewalten sind vielfältig. Durch die Strafe wird gebessert, gerächt, geschützt, wiedergutgemacht, abgeschreckt, gesondert, demonstriert, befriedet und gepeinigt, um die wichtigsten zu nennen.

Eine objektive Moral kann es nur unter einer einzigen Bedingung geben, und diese ist denkbar unerquicklich : Alle Menschen lebten unter exakt gleichen gesellschaftlichen Bedingungen, und hätten aufgrund seelischer Identität und identischer Mentalität überhaupt keine andere Möglichkeit, als dasselbe zu fühlen, zu wollen, zu urteilen, und zu schließen. Diese Vorstellung entspricht einer Menschheit der Klone mit einem einzigen Geschlecht in einer klassenlosen, ideologisierten und totalitären Dystopie. Es hätte eine feste, immer gleiche Hierarchie der Tugenden, Menschen änderten sich nie, weil der Charakter sonst moralisch abwiche.

Kant empfahl die Objektivität der Moral. Der Mensch solle eigene Maximen entwickeln, die für alle gleich sein können, und denen er zu folgen, und in deren Gebrauch er idealerweise so wenig Freiheit genießen solle, wie der unbelebte Himmelskörper in seinem Orbit. Derlei ist nicht mehr Liberalität, es ist Dogmatik, und es überfordert jede Vernunft, weil kein Mensch jedes Menschenschicksal apriori kennen kann.
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Wichtiger, als die Frage, ob und wann Skepsis angemessen ist, ist die Erkenntnis, wo sie regelmäßig endet.
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