Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

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Stoner

Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Stoner »

Ich möchte gerne hier diesen Begriff, der eine steile Karriere in der Bundesrepublik gemacht hat, ein wenig beleuchten.

Ich werde mich dabei, dies vorab, im Wesentlichen an zwei Suhrkamp-Bücher halten, nämlich erstens

Menschenwürde - Eine philosophische Debatte über Dimensionen ihrer Kontingenz
Herausgegeben von Mario Brandhorst und Eva Weber-Guskar

https://www.suhrkamp.de/buecher/mensche ... 29811.html

und zweitens:

Manfred Baldus
Kämpfe um die Menschenwürde - Die Debatten seit 1949

https://www.suhrkamp.de/buecher/kaempfe ... 29799.html

Natürlich ist Artikel 1 "das" Dokument der Menschenwürde schlechthin.

Es heißt bekanntlich:
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Nur - was ist sie eigentlich, diese Würde, woher kommt sie? Was allen so "klar" scheint, entzieht sich meistens unmittelbar, wenn nach diesem "Was" und "Woher" gefragt wird, der großen Karriere, die der Begriff gemacht hat, zum Trotze.

Zur Karriere des Begriffes, dies zum ersten Einstieg, bevor ich auf ein paar Konzepte aus dem Sammelband eingehe, schreibt Baldus Folgendes:
Die Würdenorm war keinesfalls von Anbeginn an das Nonplusultra des nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland neu entstehenden Verfassungsrechts. Zu Anfang war sie allein deren antitotalitäres Versprechen. Erst nach und nach erwuchs ihr eine so von niemandem erwartete, allenfalls vorsichtig erahnte, dann aber kaum mehr steigernder Bedeutung zu, einhergehend mit einem im Grunde grenzenlosen Anwendungsbereich.

Mit dieser Erkenntnis verknüpft ist sodann ein äußerst frappierender Befund: Inhaltlich ist die Norm weitestgehend unbestimmt geblieben. Der Eifer, sie anspruchsvoll auszudeuten, ließ zwar nie nach, doch keinem der miteinander wetteifernden Konzepte gelang es, über eine längere Zeit eine unangefochtene Dominanz zu erlangen. Mehr noch: In den Meinungskämpfen, in denen die Norm eingesetzt wurde, beriefen sich am Ende sogar gegenüberstehende, ja mitunter bissig gegeneinander streitende Lager gleichermaßen auf sie. Und schließlich: Die zu ihr entwickelte Dogmatik ist inzwischen mit zahlreichen Inkonsistenzen und problemträchtigen Annahmen befrachtet.
Quelle: Kämpfe um Menschenrechte, Berlin 2017, S. 246

Heute, in postmodernen, dekonstruktivistischen Zeiten, ist der Begriff ungewisser denn je, seine metaphysische Grundlegung trägt eigentlich nicht mehr.

So viel erst einmal zum Einstieg. Falls hier Interesse besteht, werde ich drei oder vier Positionen aus dem Sammelband nach und nach zusammenfassend darstellen. Grundsätzlich bieten sich natürlich aus dem Philosophischen Nietzsche und Kant an, die auch für die modernen Antipoden im Wesentlichen noch die klassischen Gewährsleute sind.

(Kleines Off-Topic am Rande: Ich habe auf dieser Plattform nie herausgefunden, wie man Links in Text umwandelt, um nicht die ganze URL reinzukopieren. Wie geht das hier?)
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Selina
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Selina »

Im Moment diskutieren einige Leute im konservativen und rechten Lager intensiv die Frage, ob der Staat unter Corona nicht gegen das Prinzip des Schutzes der Menschenwürde verstößt. Denn das Prinzip besagt ja, dass der Staat Menschen nicht zu Objekten seines Handelns machen darf. So darf der Staat die Menschen nicht erniedrigen, brandmarken, verächtlich machen, foltern. Ich finde jedoch, wie eine Mehrheit im Lande, dass mit den Corona-Schutz-Maßnahmen nicht gegen dieses Prinzip verstoßen wird. Im Gegenteil: Hier zeigt sich, wie wertvoll dem Staat die Menschenwürde ist. Denn die Menschen vor Ansteckung, vor Intensivstation, Triage und Tod in einer Pandemie zu schützen, ist ein sehr edler und hoher Zweck. Besser kann man quasi die Menschenwürde als Staat nicht schützen... in so einer für alle extrem schlimmen Lage.

Daher wäre es interessant zu erfahren, warum einige Leute im Moment durch derartiges staatliches Handeln die Menschenwürde und das staatliche Prinzip des Schutzes der Menschenwürde verletzt sehen. Und weil das Thema hier in den Philosophie-Thread gestellt worden ist, gibt es für derartige Zweifel am momentanen staatlichen Handeln in Bezug auf die Menschenwürde vermutlich auch eine philosophische Basis. Wie sieht die aus?
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Stoner »

Nur der Eile geschuldet ganz kurz: In der deutschen Politik- und Rechtspraxis leitet sich der Begriff der Menschenwürde als eine sog. Wesenswürde grundsätzlich vom Gottesbezug, von Kant und von der Stoa her. Das politische Handeln orientiert sich demgemäß an dem von BVG-Urteilen vorgegebenen Rahmen, wie er u.a. auch bei der Betrachtung zum berühmten Flugzeugabschuss zum Ausdruck kommt. Es gilt also ein totales Aufrechnungs- und Abwägungsverbot eines einzelnen Lebens vs. viele Leben, was letztendlich die Präventivmaßnahmen begründet.

Aber um die aktuelle praktische Politik geht es erst einmal nicht, sondern um die Geschichte und die Herleitung des Prozesses. In einem Islam-Strang hat die Userin Dark Angel von einer "angeborenen Menschenwürde" gesprochen. Das entspricht dann etwa dieser Ableitung vom Gottesbezug, von Kant von der Stoa her.

Dies auf die Schnelle. Ich werde morgen oder übermorgen einen kurzen geschichtlichen Abriss des Begriffs geben und danach die kontroverse Diskussion auch in der Verfassungswirklichkeit überblickartig darstellen.
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naddy
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von naddy »

Einen wesentlichen Punkt hat Userin Selina schon genannt:
Selina hat geschrieben:(07 Nov 2020, 10:16)

Denn das Prinzip besagt ja, dass der Staat Menschen nicht zu Objekten seines Handelns machen darf.
Das ist die einfachste und allgemeinverständlichste Formel des Begriffs.

Grenzen staatlichen Handelns sind allerdings nur eine Dimension, "Menschenwürde" wurde in der laufenden Rechtsprechung des BVerfG als "individuelles subjektives Grundrecht", und nicht lediglich als "objektive Verfassungsnorm" interpretiert. Ein informativer Überblick über die rechtsdogmatische Einordnung und Entwicklung des Begriffs findet sich in diesem Essay. Darin heißt es u.a.:
bpb hat geschrieben:Menschenwürde als unabwägbares Menschenrecht

Die wichtigste und folgenreichste Weichenstellung des Gerichts im Umgang mit der Menschenwürde liegt darin, Artikel 1 Absatz 1 GG als individuelles subjektives Grundrecht zu verstehen und anzuwenden. Das Gericht hätte angesichts des Verfassungstextes auch anders verfahren können: Es hätte Artikel 1 Absatz 1 GG nicht als subjektives Grundrecht, sondern ausschließlich als objektive Verfassungsnorm interpretieren können. Heißt es doch in Artikel 1 Absatz 3 GG, dass die darauffolgenden Grundrechte Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Insoweit war es möglich den Katalog der Grundrechte des Grundgesetzes erst bei Artikel 2 GG beginnen zu lassen und aus Artikel 1 Absatz 1 GG kein subjektives Grundrecht zu folgern, sondern nur einen objektiven Rechtssatz. Während Ersteres ein vom Individuum einklagbares Recht ist, bezeichnet Letzteres einen "Grundsatz", welcher den Staat zu einem bestimmten Tun verpflichtet.
(f.v.m.).

Das betrifft allerdings nur die "steile Karriere in der Bundesrepublik" der "Menschenwürde". Bezüglich des Begriffs "Würde" im Allgemeinen wird man sich im philosophisch-historisch-religiösen Bereich umsehen müssen. ;)
"Das gefährliche an der Dummheit ist, daß sie die dumm macht, die ihr begegnen." (Sokrates).
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BlueMonday
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von BlueMonday »

Im Grunde ein Hohn mit so einem uneinlösbaren, gegenläufigen Anspruch eine Staatsverfassung einzuleiten. "Kalt lügt es..." (Nietzsche) Und schon im ersten Satz seines selbst gegebenen Anspruches ist es so weit: "...ist unantastbar". Jeden Tag läuft sie Gefahr angetastet zu werden und wird es auch, die "Würde des Menschen". Also die des wirklichen tatsächlichen Menschen. Du und ich. Was ist der Staat anderes als Entwürdigung, alsTeilentmündigung, Entwaffnung, Demütigung. Steuern, das Lebensblut eines Staatswesens, heißen so, weil sie andere steuern sollen. Fremdbestimmung. Damit wird also Lebenszeit und Lebensergebnis wiederkehrend von Fremden überstimmt. Der Einzelne muss sich dazu regelmäßig offenbaren, erklären, durchleuchten lassen, wie ein kleiner Schulbub seinen Ranzen bei der Taschenkontrolle vorweisen muss. Weil der Einzelne nicht mündig genug ist über sein ganzes Arbeitsergebnis oder sein Investionsergebnis zu bestimmen und selbst in die Auseinandersetzung darüber zu ziehen. Er wird "vertreten", ob er will oder nicht. In absurden Mehrheitsentscheidungen lässt er es sich aus der Hand nehmen. Und das soll die unantastbare Würde des Menschen sein... Am ersten Tag, an der Garderobe des Staates hat er sie längst abgegeben, unser Mensch.
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Maikel
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Maikel »

BlueMonday hat geschrieben:(08 Nov 2020, 16:35)
Und schon im ersten Satz seines selbst gegebenen Anspruches ist es so weit: "...ist unantastbar". Jeden Tag läuft sie Gefahr angetastet zu werden und wird es auch, die "Würde des Menschen". Also die des wirklichen tatsächlichen Menschen. Du und ich.
Ich habe auch ein Problem mit dem Begriff "unantastbar" bzw. mit der Formulierung. Man könnte sie auch anders interpretieren:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" im Sinne von unkaputtbar; egal, was man einem Menschen antut, seine Würde kann man ihm nicht nehmen.
Die menschliche Sprache ist einzigartig, aber nicht eindeutig.
Jeder Versuch, sich mitzuteilen, kann nur mit dem Wohlwollen der anderen gelingen.
Stoner

Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Stoner »

Maikel hat geschrieben:(08 Nov 2020, 18:49)

Ich habe auch ein Problem mit dem Begriff "unantastbar" bzw. mit der Formulierung. Man könnte sie auch anders interpretieren:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" im Sinne von unkaputtbar; egal, was man einem Menschen antut, seine Würde kann man ihm nicht nehmen.
Das Problem wäre doch erst einmal die Frage nach dem, was da unantastbar ist: Woher kommt sie, was ist sie usw. Haben Sie eine Definition?

naddy hat geschrieben:(07 Nov 2020, 13:46)

Das betrifft allerdings nur die "steile Karriere in der Bundesrepublik" der "Menschenwürde". Bezüglich des Begriffs "Würde" im Allgemeinen wird man sich im philosophisch-historisch-religiösen Bereich umsehen müssen. ;)
Die Karriere ist tatsächlich phantastisch, wobei die Urteile des BVG da ganz erstaunliche Dinge behaupten oder setzen. Da kommen wir vielleicht noch ausführlicher dazu. Jetzt geb ich erst einmal eine Position aus dem Sammelband wieder, die sich stark mit meiner persönlichen deckt:

Ich möchte jetzt kurz auf den Beitrag Rüdiger Bittners im Sammelband "Menschenwürde" eingehen. Bittner plädiert für einen "Abschied von der Menschenwürde", weil der Begriff nicht haltbar sei.

Er weist zunächst auf einige begriffsgeschichtliche Punkte hin, wonach Würde eigentlich einen Vorrang bezeichnet oder unterstellt. Würde habe immer etwas von einem höheren Rang, der an ein Amt oder eine Leistung geknüpft sei. Würde könne man deshalb auch vortäuschen, ohne über die an den entsprechenden Rang und die für seine Erlangung üblichen Eigenschaften zu verfügen. Würde ist also historisch gesehen immer an solche Eigenschaften und eine damit einhergehende Rangerhöhung gebunden.

Dann wendet er sich dem berühmten Satz im GG zu. Bittner sagt, mit dem Satz werde nicht behauptet, daß der Mensch Würde habe, sondern das würde im Kollektivsingular für alle und jeden Menschen unterstellt. Der Satz sei zu verstehen wie "Das Blatt der Akazie ist gefiedert", wo auch nicht von einer speziellen sondern von allen Akazien die Rede sei. Das bedeutet nun, daß der Begriff der Würde, so verstanden, anders als seine Herkunft, abgeleitet aus dem althochdeutschen wirdi = Wert, keine Rangordnung mehr enthält und auch nichts mehr von seiner Ursprungsbedeutung "Wertschätzung" mehr enthält.

Schaut man auf die Tradition, ergibt sich eine Vorrangstellung nur noch gegenüber allem nicht-menschlichen Leben, klassischerweise gegenüber den Tieren, weil schon nach Cicero die Natur des Menschen hoch über den Tieren stehe und ihn daher auch zu bestimmtem Verhalten verpflichte.

Das allerdings kann im Rahmen eines modernen Naturbegriffs, den ich aber nicht wie den Neuen Naturrechtsbegriff aus dem Beitrag @pascual ansetzen würde, nicht aufrecht erhalten werden, "Es gibt in der Natur keinen Adel." (Bittner, a.a.O. S. 93) Alle Wesen leben auf ihre Art und tun, was ihrer Art zukommt gemäß ihrem Vermögen, woraus sich jedoch kein Vorrang ergibt. Eine Würde, so Bittner, brauche aber einen solchen Vorrang, ein Vorrang nur von Menschen gegenüber anderen Menschen rechtfertige keine Würde des Menschen (Kollektivsingular). Sobald man aber versuche, Würde über Rangordnungen innerhalb der Menschheit zu definieren, entfällt die Geschäftsgrundlage des ersten Artikels.

Bittner prüft noch den Gedanken, ob man Würde als Teil unseres Selbstverständnisses oder unserer Identität retten könne, meint jedoch, man würde kein anderer und verstünde sich so gut wie vorher, wenn man den Begriff der Würde fallen lasse. Selbst wenn wir das glauben, würde der Gedanke ja dadurch nicht wahr. Kurzum, er empfiehlt die Fahrt zum Sperrmüll.

Damit geht er über zu etwas, nämlich zu den Verfassungsfragen. Das GG konstituiert im Selbstverständnis seiner Väter und durch Urteile des BVG sowie ablesbar an den Kommentaren eine objektive Wertordnung, die Menschenwürde ist der entsprechende objektive Wert, wenn man Art 1 (1) und (2) richtig liest.

Bittner nun bestreitet, daß das Grundgesetz eine solche Wertordnung errichten könne. Unter Werten, so Bittner, verstünde die Wertphilosophie ideale Gegenstände wie Freiheit, Gerechtigkeit, Schönheit oder Treue usw. Diese stehen dann zueinander in einer bestimmten Rangordnung. Aber so etwas kann man nicht aufrichten, nicht einmal per Gesetz, sondern so eine Wertordnung besteht einfach.

Und das ist für mich ein wichtiger Gedanke. In der heutigen Diskussion kann man feststellen, dass viele eine geradezu religiöse Einstellung zu bestimmten Aspekten haben. Deshalb glaube ich auch, daß es besser um die Freiheit bestellt ist, wenn solche Wertordnungen nicht einfach verfügt werden - weder von Gesetzgebern noch von Gerichten. Natürlich kann das behauptet werden oder es können Werte als wichtiger eingestuft werden, aber nicht gesagt werden: Das IST so. Die Aufgabe der Gerichte ist zu sagen, welche Rechte wir haben. Eine Wertordnung aufzurichten ist dagegen keine Aufgabe eines Gerichts.

Bittners Schlußgedanken gelten dem Zusammenhang von Moral und Menschenwürde und dem Stellenwert, den die Menschenwürde in der Domäne der Moral einnimmt. Kurz gesagt empfiehlt er, von der Würde abzulassen, wenn es sie ohnehin nicht gibt, und er ist der Meinung, daß wir nichts entbehren, wenn wir sagen, jemand kämpfe gegen Diskriminierung, Folter oder Ausbeutung und nicht noch hinzufügen, gegen die Verletzung seiner Menschenwürde. Die Gründe gegen die drei Demütigungen oder Gewalttaten seien so stark, daß sie keine weiteren brauchen.
Sowenig die Rechtsordnung die Grundrechte aus dem Menschenwürde-Satz abzuleiten vermag, so wenig besitzt das Kämpfen gegen Diskriminierung, gegen Folter und gegen Ausbeutung in der Menschenwürde der unter diesen Praktiken Leidenden eine gemeinsame Grundlage. Von einer in all diesen Bemühungen verteidigten Menschenwürde zu reden, gibt nur den wohligen Eindruck, dass alle Guten am selben Strang ziehen. Aber wenn dieser Satz nicht eine Tautologie ist (gut ist, wer mit mir am selben Strang zieht), so ist er falsch und auch gefährlich. Wir Guten haben verschiedene Dinge im Sinn, müssen uns also, so gut wir sind, erst noch zusammenraufen; und dies Erfordernis zu verkennen, ist gefährlich, weil es unduldsam, zumindest ungeduldig macht. Von Menschenwürde als einem Ziel, in dem wir uns, diesem Streit voraus, moralisch schon einig sind, können wir also ohne Bedauern, ja mit Gewinn, ablassen.
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Fuerst_48 »

Hier auch Dämmerschlaf??
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Dampflok94 »

Stoner hat geschrieben:(10 Nov 2020, 17:50)
Ich möchte jetzt kurz auf den Beitrag Rüdiger Bittners im Sammelband "Menschenwürde" eingehen. Bittner plädiert für einen "Abschied von der Menschenwürde", weil der Begriff nicht haltbar sei.

Er weist zunächst auf einige begriffsgeschichtliche Punkte hin, wonach Würde eigentlich einen Vorrang bezeichnet oder unterstellt. Würde habe immer etwas von einem höheren Rang, der an ein Amt oder eine Leistung geknüpft sei. Würde könne man deshalb auch vortäuschen, ohne über die an den entsprechenden Rang und die für seine Erlangung üblichen Eigenschaften zu verfügen. Würde ist also historisch gesehen immer an solche Eigenschaften und eine damit einhergehende Rangerhöhung gebunden.

Dann wendet er sich dem berühmten Satz im GG zu. Bittner sagt, mit dem Satz werde nicht behauptet, daß der Mensch Würde habe, sondern das würde im Kollektivsingular für alle und jeden Menschen unterstellt. Der Satz sei zu verstehen wie "Das Blatt der Akazie ist gefiedert", wo auch nicht von einer speziellen sondern von allen Akazien die Rede sei. Das bedeutet nun, daß der Begriff der Würde, so verstanden, anders als seine Herkunft, abgeleitet aus dem althochdeutschen wirdi = Wert, keine Rangordnung mehr enthält und auch nichts mehr von seiner Ursprungsbedeutung "Wertschätzung" mehr enthält.
...
Herr Bittner ist Philosoph. Und als solcher betrachtet er den Begriff der Menschenwürde. Seine Versuch der Definition ist eine philosophische. Nun steht die Menschenwürde im Grundgesetz. Das macht sie zu einem juristischen Begriff. Er ist letztlich ein unbestimmter Rechtsbegriff. Aber damit haben Juristen wenig Probleme. Sie füllen derartige Begriffe mit Leben. Durch Urteile und auch durch die juristische Literatur.

Er beklagt, daß der Begriff keine Rangordnung mehr enthält. Ich verstehe da das Problem nicht. Genau darum geht es doch. Um etwas was Würde genannt wird, das jeder hat. Unabhängig von irgendwelchen Rängen. (Und anderen Dingen wie Herkunft, Religion etc.) Was soll das werden? Rabulistik? Geht es darum, daß der Begriff "Würde" von ihm anders definiert wird?

Du zitierst dann noch von ihm "Sowenig die Rechtsordnung die Grundrechte aus dem Menschenwürde-Satz abzuleiten vermag...". Aber genau das macht die Rechtsordnung. Für sie sind die Grundrechte direkter Ausfluß der Menschenwürde. Der unantastbaren Menschenwürde. Denn die Menschenrechte sind eben nicht vom Himmel gefallen. Sie alle gehen auf eine Sache zurück. Etwas, welches das Grundgesetz Menschenwürde nennt. Den begriff kann man rein semantisch für falsch halten. Aber ist das wirklich ein Problem?
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lemonitor
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von lemonitor »

Dass "die Würde des Menschen" ein "unbestimmter" Rechtbegriff ist ergibt sich aus der Tasache, dass der Begriff aus ethischen Überlegungen stammt. Ethiken
können zwar in sich logisch sein- den Anspruch aber, allgemeingültig und logisch zwingend zu sein, können sie nicht erheben. Ethiken sind nun mal keine
(naturwissenschaftlich zwingende) Fakten. Ethik kann aber handlungsbestimmende werden- so man denn will.
Und damit sind wir bei der Problematik - und der Antwort- welcher jede Ethik mit auf den Weg gegeben werden muss:

„Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein
GUTER WILLE“ Kant

Der "gute Willen" jedoch ist gebunden an Vernunft- und Vernunft bedeutet nichts andere als "Verzicht aus Einsicht in Notwendigkeiten." Wenn aber die Würde des
Menschen "Verzicht aus Einsicht in Notwendigkeiten" voraussetzt, wird sofort deutlich, warum sowohl die Juristen als auch die "Anderen" den Begriff der "Würde
des Menschen" solange drehen und wenden, bis er am Ende vor lauter Deutungen unwirksam wird.

Die Knackpunkte der "Würde des Menschen" sind "Vernunft", "Einsicht" und "Verzicht". Denn Einsicht erfordert Wissen - und Vernunft das Wollen. Aber wer will verzichten?
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BlueMonday
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von BlueMonday »

lemonitor hat geschrieben:(02 Aug 2021, 12:24)

"Verzicht aus Einsicht in Notwendigkeiten." Wenn aber die Würde des
Menschen "Verzicht aus Einsicht in Notwendigkeiten" voraussetzt, wird sofort deutlich, warum sowohl die Juristen als auch die "Anderen" den Begriff der "Würde
des Menschen" solange drehen und wenden, bis er am Ende vor lauter Deutungen unwirksam wird.
Was wollte man nun stattdessen mit einer einzigen Deutung der Würde anfangen, was sollte daran überhaupt noch brauchbar oder wirksam sein? Das wäre dann die Würde "des Menschen", wie sie ganz hohl und inhaltlos im GG verkündet wird. Unantastbar sei sie gar. Leben spielt sich aber im Konkreten ab. Und das Perspektivische ist die "Grundbedingung alles Lebens" (Nietzsche)
Der "Objektivität" eines Gegenstands nähert man sich dann durch möglichst unterschiedliche, möglichst zahlreiche Perspektiven an. Also durch verschiedene Standpunkte und Blickrichtungen.

Welcher konkrete tatsächliche Mensch handelt nun über das hinaus, was er für "notwendig" hält? Eine Handlung also, ein bewusstes Tun im "Nichtnotwendigen", das auf das Übertriebene, Unnötige, Unnütze, gar Schädliche gerade nicht "verzichtet"?
Diese Notwendigkeit ist nichts als Werturteil. Eine Grenze, die also unterschiedlich gezogen wird. Realisierte Nichtnotwendigkeit oder Schädlichkeit gibt es nur als Werturteil über fremdes Handeln oder bereits vergangenes eigenes Handeln, in der Retrospektive, aber nicht im konkreten Handlungsraum, der ja gerade daraus besteht, das Wichtigste, das gerade zu tun ist, vom weniger Wichtigen ("Notwendigen") zu trennen. Sich für das eine zu entscheiden, indem auf das andere verzichtet wird.
"Verzicht aus Einsicht in Notwendigkeiten" ist die Sportart der handelnden Menschen. Und diese unzähligen "Würdenträger" werden sich oft dabei auch in Quere kommen und am Gegenüber und seiner "Würde" versuchen herumzutasten.

Der einen Perspektive wird es nun vielleicht gelingen, sich über andere Perspektiven und Urteile zu erheben mit dem Ziel, sich zur einzigen Perspektive aufzuschwingen, zur scheinbaren perspektivlosen "Vernunft" oder "Würde" an sich. Sollte dies gelingen, wartet aber nicht Wirksamkeit oder Lebbarkeit, sondern die Erstarrung in der alternativlosen Totalen. Wo sollte sich da überhaupt noch irgendeine "Menschenwürde" finden, also messen lassen, in diesem Raum ohne verbliebene Entscheidungsmöglichkeit?
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von lemonitor »

[quote="BlueMonday"](02 Aug 2021, 14:55)

Die historisch gewachsene Idee der Würde des Menschen wurde mit dem Ziel der Überwindung jeglicher ideologisch begründeter Herrschaftsansprüche und Strukturen des Menschen über den Menschen postuliert. Unbestreitbar beruht die Idee der Würde des Menschen auf Werturteilen. Werturteilen zueigen ist, dass sie sich jeder logisch-wissenschaftlichen Objektivierung entziehen. Sie sind keine Naturgesetzlichkeiten- und damit nicht objektivierbar.

Folgt man den Aufklärern, so ist die Würde des Menschen nicht nur an Rechte sondern auch an Pflichten gebunden, welche sich ergeben aus der menschlichen „Begabung zur Vernunft“ also der Fähigkeit des Menschen, bewusst erkennend und wertend gestalten zu können. Der aufgeklärte Mensch, der bewusst erkennend zu handeln in der Lage ist, bezieht in sein Handeln auch Werturteil mit ein- und geht damit über das hinaus, was er „aus Neigung für notwendig" hält.

Richtig ist, dass Werturteile Konglomerate sind aus reflektiertem fremdem oder bereits vergangenem eigenem Handeln, welche als Erfahrungswissen im konkreten Handlungsraum wirksam werden. Als wesentliches hinzukommen muss die eigene kognitive Leistung die als selbst gefundenen und verwirklichte Entscheidung und Handlung der Inbegriff der Freiheit an sich ist. So wird "Verzicht aus Einsicht in Notwendigkeiten" tatsächlich die Sportart der denkend- handelnden Menschen. Ein solcher Mensch verzichtet notfalls und bewusst auf ein ihm mögliches Tun wenn es übertrieben, unnötige, unnütze oder gar schädliche ist.

Dass (moralisch) die Grenze der Notwendigkeit unterschiedlich gezogen werden, läst sich am besten so erklären: Der Mensch ist ein Wesen, zerrissen zwischen Neigung und Vernunft. Um Neigungen auszuleben genügen Gefühle und Begierden ohne weiter darüber nachzudenken- Vernunft jedoch realisiert nicht notwendiges oder schädliches- und schließt das eigene Leben ebenso ein wie das Leben der anderer.
Die Würde des Menschen lässt also den Entscheidungsspielraum nicht verschwindet „in der Erstarrung einer alternativlosen Totalen“ sondern die Menschenwürde fordert, dass jeder Mensch- trotzdem er ein von seinem Umfeld abhängiges Wesen ist- befähigt werden muss, so weit es irgend geht Entscheidungsmöglichkeiten zu kennen- und wahrzunehmen.

Wenn nun unzählige "Würdenträger" –insbesondere Juristen mit ihrer „Ideologie des positiven Rechts“- sich in Quere kommen und am Gegenüber und seiner "Würde" versuchen herumzutasten, geht es immer darum, Herrschaft auszuüben. Herrschaft jedoch bedeutet, die Möglichkeit zu haben, Abläufe und Verhältnisse so regeln zu können, dass nur andere die negativen Folgen erleiden müssen. Andere sollen verzichten- man selbst will es nicht tun.
Das Problem mit der Menschwürde ist, dass ein ethisch-moralisches Postulat ÜBER dem synthetischen Konstrukt des positiven Rechts steht, das Recht sich also diesem Postulat der Menschenwürde unterzuordnen hat.
Wen wundert es also noch, dass die Würde des Menschen antastbar gemacht werden soll, wenn das Postulat der Würde des Menschen sogar die Macht hat, über dem positiven Recht zu stehen?
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JosefG
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von JosefG »

Ich hatte mal einen Strang Leibesvisitation und Menschenwürde gemacht:
https://www.politik-forum.eu/viewtopic.php?t=45537
Die Praxis der Leibesvisitationen durch die Polizei ist ein Skandal.
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Teeernte
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Teeernte »

JosefG hat geschrieben:(24 Sep 2021, 17:24)

Die Praxis der Leibesvisitationen durch die Polizei ist ein Skandal.
Nö...>>> Arbeitsschutz...
Obs zu kalt, zu warm, zu trocken oder zu nass ist:.... Es immer der >>menschgemachte<< Klimawandel. :D
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Re: Menschenwürde - zwischen Objektivitätsanspruch und Fiktion

Beitrag von Jeeves »

Fuerst_48 hat geschrieben: Sa 26. Jun 2021, 15:53 Hier auch Dämmerschlaf??
Kein Wunder. Viel zu verkopfter Ansatz für soziale Medien. Da fühlt sich niemand emotional gepackt, was aber die Voraussetzung für Beteiligung wäre. Diese braucht fiktive Beispiele. Etwa die Vorstellung, dass man Putin gefangennehmen würde und dann zum Tragen kommt, dass seine Würde unantastbar ist. Damit könnte man vielleicht etwas Aktivität triggern. In öffentlichen Medien muss man Menschen bei ihren Emotionen abholen. Alles andere funktioniert nicht.
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