Ende der Debattenkultur?

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Ein Terraner
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Ein Terraner »

Progressiver hat geschrieben:(17 Sep 2020, 21:05)

Ich bin AKW-Gegner. Gibt es denn keine Möglichkeit, direkt auf erneuerbare Energien plus Speicher umzusteigen? Möglich wäre das sicher, wenn der politische Wille da wäre. Die Regierung pampert aber lieber die fossilen Großkonzerne und macht die Solar- und Windkraftenergieproduzenten kaputt.
Die aktuelle Energie Politik ist eine Katastrophe, auch das alte Schrott Zeug an AKWs ist eine Katastrophe, das lässt sich nicht weg diskutieren. Aber der Energieverbrauch der Menschheit wird sich nicht durch Solar, Wind, Gezeiten, Geothermie ... decken lassen. Das wäre zwar schön, ist aber leider vollkommen Utopisch. Die fortschrittlichen Reaktoren der 4-5 Generation lassen sich mit den Schrott der aktuell betrieben wird nicht mehr vergleichen. Die Teile könnten inzwischen sogar den angefallenen Atommüll verarbeiten.

https://www.zeit.de/2019/41/kernkraftwe ... -atommuell
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naddy
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von naddy »

Progressiver hat geschrieben:(17 Sep 2020, 20:25)

Man muss sich nicht die philosophischen Programme herholen. Es reicht schon, sich die philosophischen Fragen wieder zu stellen. Beispiel: Was ist Gerechtigkeit?
Die "Erkenntnis aus dem Begriffe" ist ja laut Kant eben Philosophie, im Gegensatz zur Mathematik, die er als "Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe" definiert. Natürlich wäre es allgemein wünschenswert, wenn die Leute sich wieder mehr Gedanken über die Steine machen würden, aus denen sie sich ihre Weltanschauungen und Ideologien zusammenbasteln. Aber warum sollte jemand über etwas nachdenken, von dem er sich absolut sicher ist die Bedeutung zu kennen? Ohne Fragwürdigkeiten und Wundern gibt es keine Philosophie - und die Welt hat aufgehört sich zu wundern, weil Alles bestens "erklärt" ist.
Welche Partei stellt noch solche Fragen? Und versucht auch noch, sie zu beantworten?
Eine Partei? Und dann auch noch eine heutige? Solche Fragen wurden in Platons idealtypischem "Philosophenstaat" gestellt, aber doch nicht heute. Da haben die Parteien andere Sorgen. :)
Natürlich kann man die Fragen auch totschweigen. Viele Menschen fühlen sich aber dennoch benachteiligt. Und das Schweigen erschafft dann aber unter Umständen Verschwörungstheorien und andere Monster. Ist das denn besser?
Nein, aber Fragen die nicht gestellt werden, kann man auch nicht beantworten. Wen, außer den bereits erwähnten kleinen esoterischen Zirkeln, interessieren denn heute noch die vier Kant'schen Grundfragen:

Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?

"Kein Schwein" würde ich schreiben, wären wir nicht im Philosophiethread. Ausgenommen vielleicht die dritte, da holen sich die Verängstigten dann die Antwort in der Kirche ab. Oder bei schlechter Diagnose auch ganz pragmatisch beim Onkologen.
Ich bin jedenfalls dafür, dass sich die Parteien die Fragen wieder stellen: Was ist Gerechtigkeit? Wie erreiche ich ein gutes Leben für die meisten Menschen? Und es wäre auch nicht schlecht, die Bürger zu befragen.
Dazu fällt mir nur ein Satz von Dostojewski(?) ein, der in diesem Zusammenhang etwas zynisch wirkt:

"Der Anführer von Ratten kann kein Löwe sein.".

Aber so ist es wohl. Das, was heute einigen Parteien und Politikern als "Populismus" vorgeworfen wird, trifft im Grunde auf Alle zu. Muß es in einer Demokratie bis zu einem gewissen Grade auch, weil "geistige Führerschaft" sich nicht allzuweit vom Mainstream entfernen darf. Vornehmer wird das dann als "Wählerwille" bezeichnet.

Um beim Gros der aktuellen Wählerschaft anzukommen empfiehlt es sich, der "Gib-Gas-ich-will-Spaß"-Mentailtät so weit wie irgend möglich entgegen zu kommen. Siehe die Tempolimit-Diskussion, die Corona-Party-Szene usw., usf.

Mit anderen Worten: Der Hedonismus hat gesiegt, wie von Nietzsche bereits angekündigt. Zumindest vorläufig.
"Das gefährliche an der Dummheit ist, daß sie die dumm macht, die ihr begegnen." (Sokrates).
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von midlifecrisis »

@Progressiver: Etwas spät, aber danke, hier lernt man was.
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BlueMonday
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von BlueMonday »

Progressiver hat geschrieben:(17 Sep 2020, 20:59)

Der Vorteil des Sozialismusbegriffs ist, dass er relativ klar ist, klarer jedenfalls als diese völlige "links-rechts"-Verwässerung heutzutage. Der Nationalismus war jedenfalls eine progressive Bewegung. Ein raumgreifender, einfangender, hinwegsehender Kollektivismus. Fragwürdig dies nun als "rechts" einzutüten. Dann wäre der EU-Zentralismus, diese Bestrebung zum Überstaat auch eine rechte Bewegung. Rechts geht es aber in die umgekehrte Richtung. Das ist das heutige Missverständnis, links und rechts als Standorte und nicht als Bewegungsrichtungen zu begreifen. Und die "Wirklichkeit" ist das Reibungsergebnis. Da irgendwo kann man vielleicht Nietzsche finden. Jedenfalls irgendwo im Diesseits, auf irgendeinem Schlachtfeld oder zurückgezogen in einer Waldhütte.

Die "Filterblase" überwindest du, indem du das Ressentiment ablegst, welches diese Filterblase ja erst schafft. Was ist dein größtes Ressentiment? Was würdest du sagen? Nachdem, was ich von dir gelesen habe, wohl das "Rechte", was immer du darunter auch verstehst. Hauptsache links herumstehen. Warum die "linke" Debatte beleben? Damit hockst du ja wieder mit denselben Spezialisten in der engen Kiste. Aus der Kiste steigen. Darum ginge es. Die geistigen Beschränkungen ablegen. Das wären jedenfalls die geeigneten Übungen in der Umkleidekabine, wenn draußen auf dem Platz eine Partie Philosophie angesagt ist. Frische Luft atmen.

Ich finde jedenfalls Nietzsche nicht irgendwo links und auch nichts nach links strebend. Nietzsche ist die Philosophie des Willens, der Machtergreifung, eines Machtbewusstseins, des Machens, des Vermögens, der Entledigung des "Mitgefühls" und sonstiger Fesseln. Das sind stirnerische Ausläufer mit ein paar Schnörkeln mehr. "Das Wissen muss sterben, um sich als Wille täglich neu zu schaffen." Wille vor Wissen. Den Willen hinter allem Wissen hervorzuholen. Das ist Nietzsche.
Heute zittert der gute "linke" Mensch schon wie Espenlaub, wenn man ihn für einen "Verschwörunsgtheoretiker" halten könnte. Das sind doch alles keine hammerschwingenden Menschen mit einem Willen.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Sören74 »

BlueMonday hat geschrieben:(18 Sep 2020, 15:41)

Der Nationalismus war jedenfalls eine progressive Bewegung. Ein raumgreifender, einfangender, hinwegsehender Kollektivismus.
Weil er aus der Kleinstaaterei in Deutschland entstanden ist. Das war progressiv. Im Gegensatz dazu sind beispielsweise Trumps Bemühungen von multilateralen Beziehungen wegzukommen alles andere als progressiv.
BlueMonday hat geschrieben: Die "Filterblase" überwindest du, indem du das Ressentiment ablegst, welches diese Filterblase ja erst schafft. Was ist dein größtes Ressentiment? Was würdest du sagen? Nachdem, was ich von dir gelesen habe, wohl das "Rechte", was immer du darunter auch verstehst. Hauptsache links herumstehen. Warum die "linke" Debatte beleben? Damit hockst du ja wieder mit denselben Spezialisten in der engen Kiste. Aus der Kiste steigen. Darum ginge es. Die geistigen Beschränkungen ablegen. Das wären jedenfalls die geeigneten Übungen in der Umkleidekabine, wenn draußen auf dem Platz eine Partie Philosophie angesagt ist. Frische Luft atmen.
Oh, interessant. Kannst Du auch von Deinen aus der Kiste steigen-Momenten berichten?
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Progressiver
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Progressiver »

naddy hat geschrieben:(17 Sep 2020, 21:45)

Die "Erkenntnis aus dem Begriffe" ist ja laut Kant eben Philosophie, im Gegensatz zur Mathematik, die er als "Erkenntnis aus der Konstruktion der Begriffe" definiert. Natürlich wäre es allgemein wünschenswert, wenn die Leute sich wieder mehr Gedanken über die Steine machen würden, aus denen sie sich ihre Weltanschauungen und Ideologien zusammenbasteln. Aber warum sollte jemand über etwas nachdenken, von dem er sich absolut sicher ist die Bedeutung zu kennen? Ohne Fragwürdigkeiten und Wundern gibt es keine Philosophie - und die Welt hat aufgehört sich zu wundern, weil Alles bestens "erklärt" ist.
Na, ich weiß nicht. Wenn alles bestens "erklärt" wäre, würden die Leute ja alle den Parteien und Medien glauben. Stattdessen gibt es eine große Minderheit, die die Journalisten der Lüge bezichtigt und die etablierten Politiker wohl am liebsten aufhängen würde, wenn man sie ließe. Und geglaubt wird von denen eher irgendwelchen Verschwörungstheorikern.
Eine Partei? Und dann auch noch eine heutige? Solche Fragen wurden in Platons idealtypischem "Philosophenstaat" gestellt, aber doch nicht heute. Da haben die Parteien andere Sorgen. :)
Die größten Sorgen der Parteien sollten längerfristig die Überalterung ihres Apparats und der Mitgliederschwund sein. Wer sich nicht andauernd selbst reflektiert und sich immer wieder beispielsweise die Frage stellt, wie Gerechtigkeit in der heutigen Zeit aussehen könnte, der steht kurz vor dem Tod. Und wenn das alle machen, dann schaufelt sich die Demokratie ihr eigenes Grab. Ich selbst bin auf jeden Fall für die Revitalisierung der Demokratie.
Nein, aber Fragen die nicht gestellt werden, kann man auch nicht beantworten. Wen, außer den bereits erwähnten kleinen esoterischen Zirkeln, interessieren denn heute noch die vier Kant'schen Grundfragen:

Was kann ich wissen?
Was soll ich tun?
Was darf ich hoffen?
Was ist der Mensch?

"Kein Schwein" würde ich schreiben, wären wir nicht im Philosophiethread. Ausgenommen vielleicht die dritte, da holen sich die Verängstigten dann die Antwort in der Kirche ab. Oder bei schlechter Diagnose auch ganz pragmatisch beim Onkologen.
Das bedeutet ja nur, dass die Leute orientierungslos durch die Gegend rennen, ohne zu wissen, was sie tun und warum.


Dazu fällt mir nur ein Satz von Dostojewski(?) ein, der in diesem Zusammenhang etwas zynisch wirkt:

"Der Anführer von Ratten kann kein Löwe sein.".

Aber so ist es wohl. Das, was heute einigen Parteien und Politikern als "Populismus" vorgeworfen wird, trifft im Grunde auf Alle zu. Muß es in einer Demokratie bis zu einem gewissen Grade auch, weil "geistige Führerschaft" sich nicht allzuweit vom Mainstream entfernen darf. Vornehmer wird das dann als "Wählerwille" bezeichnet.
Es ist aber meines Erachtens etwas anderes, ob eine Partei jetzt sich vordergründig volksnah gibt, aber dafür im Endeffekt dann das tut, was die Lobbyisten der Finanz- oder Autoindustrie ihnen vorbeten. Ich sprach auch von dem Gemeinwohl, welches nicht mehr bedient wird. Wenn die Parteien den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt haben und nach der Wahl das Gegenteil davon tun, was sie vorher versprochen haben, dann sorgt das nur dafür, dass die Wähler die Parteien immer unglaubwürdiger finden. Als Ergebnis verstärkt dies dann noch den Graben zwischen den Wählern und den Parteien. Und die Parteien selbst kriegen erst Recht keine jungen Neumitglieder mehr.
Um beim Gros der aktuellen Wählerschaft anzukommen empfiehlt es sich, der "Gib-Gas-ich-will-Spaß"-Mentailtät so weit wie irgend möglich entgegen zu kommen. Siehe die Tempolimit-Diskussion, die Corona-Party-Szene usw., usf.

Mit anderen Worten: Der Hedonismus hat gesiegt, wie von Nietzsche bereits angekündigt. Zumindest vorläufig.
Meines Wissens hatte Nietzsche vor allem den Nihilismus angekündigt. So passt es dann aber, wenn du mit dem Rest Recht haben solltest.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Progressiver »

BlueMonday hat geschrieben:(18 Sep 2020, 15:41)

Der Vorteil des Sozialismusbegriffs ist, dass er relativ klar ist, klarer jedenfalls als diese völlige "links-rechts"-Verwässerung heutzutage. Der Nationalismus war jedenfalls eine progressive Bewegung. Ein raumgreifender, einfangender, hinwegsehender Kollektivismus. Fragwürdig dies nun als "rechts" einzutüten. Dann wäre der EU-Zentralismus, diese Bestrebung zum Überstaat auch eine rechte Bewegung. Rechts geht es aber in die umgekehrte Richtung. Das ist das heutige Missverständnis, links und rechts als Standorte und nicht als Bewegungsrichtungen zu begreifen. Und die "Wirklichkeit" ist das Reibungsergebnis. Da irgendwo kann man vielleicht Nietzsche finden. Jedenfalls irgendwo im Diesseits, auf irgendeinem Schlachtfeld oder zurückgezogen in einer Waldhütte.

Die "Filterblase" überwindest du, indem du das Ressentiment ablegst, welches diese Filterblase ja erst schafft. Was ist dein größtes Ressentiment? Was würdest du sagen? Nachdem, was ich von dir gelesen habe, wohl das "Rechte", was immer du darunter auch verstehst. Hauptsache links herumstehen. Warum die "linke" Debatte beleben? Damit hockst du ja wieder mit denselben Spezialisten in der engen Kiste. Aus der Kiste steigen. Darum ginge es. Die geistigen Beschränkungen ablegen. Das wären jedenfalls die geeigneten Übungen in der Umkleidekabine, wenn draußen auf dem Platz eine Partie Philosophie angesagt ist. Frische Luft atmen.

Ich finde jedenfalls Nietzsche nicht irgendwo links und auch nichts nach links strebend. Nietzsche ist die Philosophie des Willens, der Machtergreifung, eines Machtbewusstseins, des Machens, des Vermögens, der Entledigung des "Mitgefühls" und sonstiger Fesseln. Das sind stirnerische Ausläufer mit ein paar Schnörkeln mehr. "Das Wissen muss sterben, um sich als Wille täglich neu zu schaffen." Wille vor Wissen. Den Willen hinter allem Wissen hervorzuholen. Das ist Nietzsche.
Heute zittert der gute "linke" Mensch schon wie Espenlaub, wenn man ihn für einen "Verschwörunsgtheoretiker" halten könnte. Das sind doch alles keine hammerschwingenden Menschen mit einem Willen.

Ja, ich sehe mich als politisch links stehend. Ich kann aber mit kollektivistischen und autoritären Ideologien nichts anfangen, egal ob es sich um Faschismus, Nationalismus oder Kommunismus handelt. Nietzsche war Individualist. Und ich sehe mich selbst ebenso als linken, individualistischen, gesellschaftskritischen Freigeist. Und ich bin für einen "Green New Deal". Die gelebte Demokratie ist mir jedenfalls lieber als ein autoritärer Staat, in der ein Führer oder eine einzige Partei alles bestimmen.

Was die Rechten betrifft, so bin und bleibe ich skeptisch. Rechts wird vor allem für Gott, Vaterland und Herrscher gekämpft. Die ganz Rechten kann man sowieso vergessen. Die Unionsparteien sind immer noch vor allem Anhänger des Obrigkeitsstaats. Ich jedoch bin kein Untertan, der sich freiwillig herumschubsen lässt. Und wenn man mich zu sehr einengt, dann "kriege ich keine Luft". Im Übrigen bin ich auch Atheist und Laizist.

Mit anderen linken Freigeistern würde ich gerne diskutieren. Aber als Kollektiv mit anderen Leuten aufzumarschieren, das behagt mir nicht. Am ehesten gefällt mir da noch der Begriff der "Multitude" eines Duos Hardt und Negri -wenn ich sie seinerzeit richtig verstanden hatte. Ich will aber nicht in den Kommunismus. Am Ende bin ich bereit, die Offene und demokratische Gesellschaft zu verteidigen und weiterhin auszubauen.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Progressiver »

Ich habe im Übrigen vor ein paar Tagen ein YouTube-Video mit Richard David Precht angesehen. Da wurde er in der Reihe" Jung & Naiv" von einem gewissen "Tilo Jung" interviewt.

Siehe hier:



Precht vertritt jedenfalls gleich zu Beginn des Videos eine Position, die meiner ähnlich ist.

Je weiter die Zeit voranschreitet, umso mehr schwankt der Boden unter den Füßen der Politiker -metaphorisch gedacht. Aber anstatt kühn Pläne zu entwerfen und Schritte zu gehen, die einen schnell in die Zukunft auf sicheres Territorium bringen, drängen alle Parteien von der CSU bis zur LINKEN in die sogenannte "Mitte", damit der Boden dann weniger schwanken soll. Sie haben zwar Ängste. Aber niemand hat wirkliche Zukunftsvisionen, wie man die Probleme der Gegenwart und der bald beginnenden Zukunft lösen könnte. Mir selbst fällt bei so etwas immer ein: "In Zeiten der Not bringt der Mittelweg den Tod."

Insofern kann auch nichts debattiert werden, weil niemand wirkliche Ideen hat, die man ausdiskutieren könnte. In zwei Büchern, die ich neulich gekauft habe, konnte ich noch lesen, dass -früher- die Parteien dafür zuständig waren, den politischen Willensbildungsprozess in der Bevölkerung zu generieren. Über die Ostpolitik eines Herrn Willy Brand muss seinerzeit die ganze Bundesrepublik und jeder Ortsverein der verschiedenen Parteien diskutiert haben. Aber wie wollen die Parteien heute noch die Wähler mitnehmen? Was haben heute noch die Ortsvereine zu sagen, wenn die Politiker alle vor allem über den indirekten Weg der Medien kommunizieren anstatt im Austausch mit der eigenen Basis? In dieser Hinsicht sind die Parteien jedenfalls Totalausfälle. Sie erfüllen ihren Verfassungsauftrag nicht wirklich. Die Wahlbeteiligung in der Bevölkerung sinkt. Bzw. sie steigt nur deshalb wieder an, weil die abgehängten Wutbürger jetzt alle AfD wählen.

Am Beispiel von Olaf Scholz zeigt sich jedenfalls auch laut Richard David Precht, wie ideenarm die derzeitige Politik ist. Derzeit versucht der Bundesfinanzminister alles, um wieder einen Status quo ante der Coronakrise herzukriegen. Es wird nicht in die Zukunft investiert. Sondern die alte Industriegesellschaft soll konserviert werden. Dabei ist abzusehen, dass beispielsweise die Autoindustrie, die immer noch auf den Verbrennungsmotor setzt, bald entweder am Tropf des Staates hängen wird. Oder aber es werden hunderttausende von Arbeitsplätzen verloren gehen, weil die Montage von Elektroautos eben viel weniger Arbeiter braucht. Auch das ist nur ein x-beliebiges Beispiel. Wieso schenkt die Politik den Wählern nicht reinen Wein ein? Warum hält niemand eine Schweiß- und Tränen-Rede mit folgendem Inhalt: Die nächste Zeit wird hart sein. Wir werden das Land radikal umändern müssen, um zu überleben. Aber "wir schaffen das", wenn wir kämpfen! Oder wie ein ehemaliger CDU-Politiker aus dem Saarland es mal sagte: "Alles muss anders werden, damit es bleibt kann, wie es ist." Oder in meinen Worten: Alles muss sich ändern, damit die Lebensqualität nicht schlechter wird.

Aber stattdessen schläft selbst Merkel. Und die Bevölkerung wird weiterhin im Tiefschlaf gehalten. Hauptsache, die eigene Komfortzone wird nicht verlassen. Das böse Erwachen wird aber kommen. Und je später es eintritt, umso grausamer wird der Schock sein.

Was die Coronakrise betrifft: Hier haben die Politiker tatsächlich geschlafen, da schon vorher vor einer Pandemie gewarnt wurde, die so schlimm sein könnte wie eben jetzt Corona. Aber kommende Probleme wie die Folgen der Klimakrise -Dürren, Überschwemmungen usw.- werden von den entsprechenden Stellen schon durchgerechnet. Auch die Parlamente müssten Bescheid wissen. Dennoch passiert weder in der Politik etwas noch treten Politiker an die Bevölkerung heran, um die Leute aufgrund der Klimakrise auf die kommenden Probleme einzustimmen.

Und da wir hier im Philosophieforum sind: Es gibt sicher auch Philosophen, die auf unsere derzeitigen Probleme etwas zu sagen hätten. Auch beispielsweise Richard David Precht hat eine Meinung. Es entsteht aber weder in der Politik noch zwischen den Politikern und der Zivilgesellschaft eine Debatte, wie es weiter gehen könnte.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von BlueMonday »

Progressiver hat geschrieben:(18 Sep 2020, 23:42)

Ja, ich sehe mich als politisch links stehend. Ich kann aber mit kollektivistischen und autoritären Ideologien nichts anfangen, egal ob es sich um Faschismus, Nationalismus oder Kommunismus handelt. Nietzsche war Individualist. Und ich sehe mich selbst ebenso als linken, individualistischen, gesellschaftskritischen Freigeist. Und ich bin für einen "Green New Deal". Die gelebte Demokratie ist mir jedenfalls lieber als ein autoritärer Staat, in der ein Führer oder eine einzige Partei alles bestimmen.

Was die Rechten betrifft, so bin und bleibe ich skeptisch. Rechts wird vor allem für Gott, Vaterland und Herrscher gekämpft. Die ganz Rechten kann man sowieso vergessen. Die Unionsparteien sind immer noch vor allem Anhänger des Obrigkeitsstaats. Ich jedoch bin kein Untertan, der sich freiwillig herumschubsen lässt. Und wenn man mich zu sehr einengt, dann "kriege ich keine Luft". Im Übrigen bin ich auch Atheist und Laizist.

Mit anderen linken Freigeistern würde ich gerne diskutieren. Aber als Kollektiv mit anderen Leuten aufzumarschieren, das behagt mir nicht. Am ehesten gefällt mir da noch der Begriff der "Multitude" eines Duos Hardt und Negri -wenn ich sie seinerzeit richtig verstanden hatte. Ich will aber nicht in den Kommunismus. Am Ende bin ich bereit, die Offene und demokratische Gesellschaft zu verteidigen und weiterhin auszubauen.
Was ist "gelebte Demokratie"? Sobald wir von einem Staat sprechen, sprechen wir von einer Autorität, die die Entscheidungsfindung monopolisiert, die Rechtssprechung, die Rechtsdurchsetzung, die Gewalten... und eben Unterordnung verlangt. Nach den vorgesetzten "Spielregeln" soll jeder spielen. Da hat der "Philosoph" Precht ja schon Probleme, weil sich jemand selbst erlaubt und erdreistet, sich auf die Treppe eines Staatsgebäudes zu stellen (s. dein verlinktes Video), die "Spielregeln" für ein paar Minütchen bricht. Dabei dreht sich die eigentliche Auseinandersetzung immer um die Spielregeln selbst. Sie zu verändern, notfalls zu verletzen, sie zu erweitern, sie zu vereinfachen, oder sich ganz aus einer Regelsphäre zu verabschieden, um in einer neuen oder anderen aufzugehen. Was soll da "links", was soll da "rechts" sein? Dass man sich gegen eine Autorität, gegen etwas Etabliertes, gegen ein Establishment stellt, das kann nun nicht das Unterscheidungsmerkmal sein. Dann würden ständig Links und Rechts die Plätze und den Namen tauschen.
Bei Ernst Jünger bspw., der nun eher nicht als typisch "Linker" bekannt ist, wirst du einen starken Hang zum Rückzug zum Persönlichen oder "Individuellen" finden, in der Figur seines "Anarchen"(Eumeswil) oder des Waldgängers. Der Ausgangspunkt ist da jedenfalls nicht das Kollektiv. Oder allein wenn man sich die "Prepper"-Szene anschaut. Da geht es um Autarkie, Autonomie, um möglichst große Unabhängigkeit von anderen, von einem "Kollektiv". Zu den "Reichsbürgern" zählt man die "Selbstverwalter", die das Selbstverwalten ernster meinen als jeder "linke Autonome". Oder eine Ayn Rand: "Civilization is the progress of a society towards privacy. The savage’s whole existence is public, ruled by the laws of his tribe. Civilization is the process of setting man free from men." Den Menschen vom Menschen zu befreien. Am Ende steht der Privatmensch. Rand dürfte für Linke kaum eine Stichwortgeberin gewesen sein. Was man heute als "Rechte" wahrnimmt, sind Strömungen, die auf irgendeiner Kollektivebene in der Mitte des Wege hängen geblieben sind, die nicht weiter den Menschen vom Menschen separieren, also bis zur letzten Separation vordringen. Foucault wäre vielleicht noch zu nennen, als weiterer Philosoph des Machtbegriffs, nach Stirner, nach Nietzsche. Links-rechts verschwimmt da zur Nutzlosigkeit.

Aber wofür steht für dich das "Linke"? Was ist typisch links? M.E. wirst du da ohne einen Kollektivismus, ohne einen Kollektivkörper nicht auskommen.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von lemonitor »

Progressiver hat geschrieben:(15 Sep 2020, 19:51)
Ende der Debattenkultur

Sieht man sich die politische Streitkultur in den Medien an, so ist diese gekennzeichnet von „ins Wort fallen“ diffamieren des Andersdenkenden und Meinung manipulierenden Eingriffen der Moderatoren. Je turbulenter solche Sendungen verlaufen, desto höher scheint ihr Stellenwert zu sein. Diese Turbulenten Verläufe politische Debatten haben bei mir Erinnerungen an eine Film geweckt, der einer Arbeitsgruppe als Grundlage zum Studium gruppendynamischer Prozesse diente.

Es war der Film „Die 12 Geschworenen“, der mich erstmal mit der Frage konfrontierte, weshalb es so schwer ist, vernünftig und sachbezogen zu debattieren. Es ging dabei immerhin um das Leben eines Menschen.
Jedoch drohte die Debatte chaotisch zu scheitern, denn eine Person war nicht bereit, ein Urteil zu akzeptieren, welches geprägt war von gedankeloser Gleichgültigkeit und vom Widerwillen, den notwendige gedanklichen Aufwand zu betreiben. Dieser Person genügten weder emotional vorgefertigte Urteile, noch ideologisch geprägte, in sich geschlossen Weltbilder noch philosophisch angehauchte Ansätze.
Jedoch lassen sich die Ursachen des Scheiterns der meisten Debatten aus dem Film sehr gut ableiten:

1. gedankelose Gleichgültigkeit
2. widerwillige Faktenresistenz
3. emotionale Vorurteile
4. ideologische geprägt geschlossenen Weltbildern
5. philosophische legitimierte Überlegenheitsgefühle

Wo die aus biologisch-energetischen Gründen dem Gehirn zu eigene geistige Trägheit das Interesse fehlen läst und gegen die daraus resultierenden gedankenlose Gleichgültigkeit ist wohl nichts zu machen.
Die nächste Stufe, die Faktenresistenz, hängt wohl direkt mit der ersten zusammen- und beide zusammen führen in die bequeme Komfortzone emotionaler Vorurteile.
Treffen ideologische geprägte, in sich geschlossenen Weltbildern aufeinander, endet solche Debatten meistens im Tumult des „Meins ist besser als Deins“. Dass jedoch jemand sein geschlossenen Weltbild verlässt, ist sehr unwahrscheinlich, vielleicht sogar unmöglich, denn den eigenen Standpunkt überdenken zu müssen, ruft gleich drei Widerstände auf: gedankenlose Gleichgültigkeit, widerwillige Faktenresistenz und emotionale Vorurteile.
Bleibt scheinbar die Philosophie übrige. Jedoch scheitert selbst die Philosophie, denn alle Philosophie betrachtet Mensch und Welt nur aus einer bestimmten Perspektive heraus.

Richtig ist, dass in der Welt der schnelllebigen Bilder hautsächlich an Emotionen appelliert wird. Die Flüchtlingsfrage mündet in „die armen Kinder“, das Verständnis für Corona endet bei der Notwendigkeit des eigenen Verzichts, den Klimawandel sollen zuerst andere bekämpfen, Wachstum ist unverzichtbar, wohl ahnend, dass der eigen Wohlstand davon abhängt…..die Beispiele ließen sich wohl beliebig lange fortsetzen.

Zwei Faktoren dürfen nicht unerwähnt bleiben:
Debatten brauchen Zeit. Einerseits für den Faktenabgleich, der zwangsläufig wegen seiner inhärenten Unvollständigkeit niemals abgeschlossen sein kann und andererseits für die notwendige Nachdenklichkeit bezogen auf die Argumente der anderen.

Statt also Fragen zu stellen, werden mit Kurzbeiträgen Ansichten anderer diffamiert, die Hauptsache, man kann als scheinbarer Sieger das „Schlachtfeld“ verlassen.
Dass dabei jeder Diskurs (erörternder Vortrag oder hin und her gehendes Gespräch) kaputt geht, wird entweder beabsichtigt oder billigend in Kauf genommen.
Nur eines kann man damit nicht: Diskursiv Diskutieren.

Auf deine Frage:
Wo ist die linke Partei, die sich auf all diese Namen und Strömungen beruft?!
gehe ich in einem gesonderten Beitrag ein.
Zuletzt geändert von lemonitor am Do 1. Okt 2020, 08:52, insgesamt 1-mal geändert.
lemonitor
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von lemonitor »

Progressiver hat geschrieben:(15 Sep 2020, 19:51)
Wo ist die linke Partei, die sich auf all diese Namen und Strömungen beruft?!
Du schreibst dass du dich als politische links stehend und als Laizist siehst.
Ich möchte dir darauf mit einem Auszug aus einem Dialog antworten den ich vor ca. 15 Jahren führte.

User: Bist Du eigentlich gläubiger Christ ? Oder wandelst Du nur fromm in diesem Raum um dort zu sein, wo das Volk leidet?
lemonitor: Christ bin ich in sofern als dass ich Gott als eine Art letzten Prüfstein für mein ethisches Denken sehe
User:spannend
lemonitor: Das Kuriosum dabei ist, das aus dieser Sichtweise die Existenz oder nicht Existenz
Gottes völlig bedeutungslos ist: Gott kann als bloßer Begriff im Denken wirksam sein- und das genügt
User: Und wie vereinbarst Du das mit Deinem Marxismus ?
lemonitor: Für mich ist die Notwendigkeit des Wirtschaftens und seine Bedingungen die eine Frage -und darauf geben die Wirtschaftswissenschaften –also auch Marx- eine Auskunft
lemonitor: Entscheidend hat der Mensch zu sein- und zwar nicht der Mensch wie er ist- sondern wie er sein kann wenn man ihm wirklich und ernsthaft hilft
User: Ich sehe Du bist ein Spinozist.

Ich habe diesen Dialog vorangestellt, um deutlich zu machen, dass man Debatten nicht führen kann in dem man eigene Weltanschauungen hervorhebt und gleichzeitig andere Weltanschauungen bekämpft.
Eine der Errungenschaften der Aufklärung ist die Gewaltenteilung. Die Gesetzgebung betreffend ist die Trennung von Kirche und Staat längst vollzogen. Deshalb stell ich dir die Frage: Wenn du eine Vertretung der Atheisten forderst- was willst du damit erreichen?

Nun zum Thema links.
Von der Sitzordnung in den Parlamenten abgesehen definiert sich links aus den Klassenkämpfen der Frühzeit des Kapitalismus. Es war der Interessengegensatz zwischen der Arbeitnehmerseite und der Arbeitgeberseite, der die soziale Bewegung hervorbrachte. Diese bestand aus einer starken (Massen) Arbeiterschaft, welche organisiert war in starken Gewerkschaften und die in sozialistischen Parteien eine politische Vertretung fanden.
Inzwischen sind die Massenarbeitsplätze wegrationalisiert und die Arbeitgeberseite hat Mittel und Wege gefunden, die Macht der Gewerkschaften zu zersplittern und aus den Betrieben herauszuhalten. Die Sozialdemokratie, welche nie wirklich das Wesen des Kapitalismus verstanden hat, ist zu einem zahnlosen Tiger geworden, dem das Klientel Arbeiterschaft abhanden gekommen ist.
Weder die Gewerkschaften noch die Sozialdemokratie haben auf den Wegfall der Massenarbeitsplätze einen strategische Antwort gefunden, mit der sie das alte Machtinstrument Arbeiterklasse- Gewerkschaften- Sozialdemokratie hätten erhalten können. So konnte die Arbeiterklasse –obwohl nach wie vor existent- "geistig zerstört" werden: Die Arbeiter haben das Bewusstsein dafür verloren, dass sie nach wie vor eine Klasse sind, welche für die Arbeitgeberseite als Humankapital zur beliebig austauschbaren Ware geworden ist.

Es jedoch keineswegs so, dass diese Entwicklungen nicht vorhersehbar gewesen ist. Das Wesen des Kapitalismus ist der Ersatz der menschlichen Arbeitskraft durch Maschinen, Kapitalismus führt global zur Kapitalisierung des (Human)Kapitals in Niedriglohnregionen, Kapitalismus führt zur Kapitalakkumulation(Geldmittel konzentrieren sich in Händen weniger) und Herausbildung eines von der Wirtschaft losgelösten Finanzmarktes (nicht Kapitalmarkt). Um all das zu erkennen genügt es, die Volkswirtschaftslehre als Ideologie zu entlarven, zu verstehen, weshalb der Kapitalismus ein Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell ist, für das Marx den Begriff „politische Ökonomie“ geprägt hatte.

Es gibt jedoch eine Warnung vor Revolutionen:
Alle Revolutionen vervollkommneten [...] nur die Staatsmaschinerie, statt diesen ertötenden Alp abzuwerfen. Die Fraktionen und Parteien der herrschenden Klassen, die abwechselnd um die Herrschaft kämpften, sahen die Besitzergreifung (Kontrolle) (Bemächtigung) und die Leitung dieser ungeheuren Regierungsmaschinerie als die hauptsächliche Siegesbeute an. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit stand die Schaffung ungeheurer stehender Armeen, eine Masse von Staatsparasiten und kolossaler Staatsschulden.“

Genau das ist eingetreten in der russischen Revolution, die recht schnell zu einer monopolistischen Parteien- und Staatsdiktatur verkam, die aber niemals auch nur in die Nähe dessen kam, was Kommunismus ist: Die Überwindung des Kapitalismus- und damit die Überwindung der Ausbeutung des Menschen und der Natur durch den Menschen.
Die Folge des russischen Experiment einer von Intellektuellen geführten "Revolution von oben" für moderne soziale Bewegungen besteht darin, dass die theoretischen Grundlagen einer Strategie gegen den Kapitalismus argumentativ verbrannt sind. Sagt jemand Marx- kommt das Gegenargument der ist schuld am kalten Krieg oder ähnlicher Unsinn. Und wird er Kapitalismus kritisiert, wird der Staatskapitalismus der UdSSR gleichgesetzte mit Kommunismus.

Die Sozialdemokratie steht also vor dem Problem, sich völlig neu erfinden zu müssen. Dabei wurde gegen die Übermacht des Kapitals noch nie so dringend eine Gegenmacht gebraucht als heute.
Wer aber meint, man müsse Marx nicht kennen, der irrt. Auch wenn sich Marx mit der Prognosen eines baldigen Endes des Kapitalismus irrte, so hat Marx das Wesen des Kapitalismus bis heute gültig und unwiderlegt so beschrieben, wie es ist: Zerstörend für Mensch und Umwelt.

Die große historische Leistung von Karl Marx besteht darin, dass er die Schattenseiten des aufstrebenden Kapitalismus, die ungleiche Vermögensverteilung, die Ausbeutung und Ausnutzung der Arbeiter bewusst gemacht hat. Seine Antwort darauf war der Klassenkampf, die Aufforderung an alle Unterdrückten, sich zusammenzuschließen und auf die irgendwann notwendigerweise kommende Umwälzung zu vertrauen. Der Kapitalismus, so lautete seine Lehre, geht irgendwann natürlich zugrunde, als historische Gesetzmäßigkeit. Aber die Abhängigen hätten den Auftrag, sich für die Umschwung zu einer neuen Zeit ständig zu rüsten.

Inzwischen erleben wir nicht nur eine Krise der politischen Ökonomie, sonder wir erleben auch eine Krise der von Parteien dominierten und geführten parlamentarischen Demokratie, die immer weniger verleugnen kann, dass wir bestenfalls in einer Oligarchie leben, welche ihre Unzulänglichkeit durch Wahlen und Wahlergebnisse zu kaschieren versucht.
Nach dem Modell der Gewaltenteilung sollte das Parlament die Regierung beauftragen und diese kontrollieren. Wenn jedoch das Wahlergebnis so verfälscht wird, dass mit der Rückendeckung von Koalitionen die Regierung machen kann was sie will, weil sie sich auf ein ihr höriges Parlament stützt, wenn also das Parlament nur noch sich selbst und nicht mehr das Volk vertritt, dann ist es nicht verwunderlich, wenn das Volk als ganze und quer durch alles Schichten sich von Parteien und Parlament nicht mehr vertreten sieht- und sich abwendet. In einer solchen Scheindemokratie ist es kein Wunder, dass ALLE Parteien ihre Reputation verlieren- zumal keine Partei noch für die Werte steht, für die sie einst angetreten sind.

Die Probleme haben sich verlagert: Das Klassenbewusstsein der Arbeiter existiert nicht mehr, die Sozialdemokratie ist tot. Und die alten, wertekonservativen Parteien wurden überrollt von einer neuen Mittelklasse, welche ohne jegliche soziale Verantwortung nur noch den eigene finanziellen Vorteil sucht.

Eine neue soziale Bewegung hat nicht mehr den Arbeitgeber als Gegner- eine neue soziale Bewegung wird die neue (Finanz)Mittelklasse bekämpfen müssen.

Alles andere ist Schnee von gestern.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Progressiver »

BlueMonday hat geschrieben:(27 Sep 2020, 01:10)

Was ist "gelebte Demokratie"? Sobald wir von einem Staat sprechen, sprechen wir von einer Autorität, die die Entscheidungsfindung monopolisiert, die Rechtssprechung, die Rechtsdurchsetzung, die Gewalten... und eben Unterordnung verlangt. Nach den vorgesetzten "Spielregeln" soll jeder spielen. Da hat der "Philosoph" Precht ja schon Probleme, weil sich jemand selbst erlaubt und erdreistet, sich auf die Treppe eines Staatsgebäudes zu stellen (s. dein verlinktes Video), die "Spielregeln" für ein paar Minütchen bricht. Dabei dreht sich die eigentliche Auseinandersetzung immer um die Spielregeln selbst. Sie zu verändern, notfalls zu verletzen, sie zu erweitern, sie zu vereinfachen, oder sich ganz aus einer Regelsphäre zu verabschieden, um in einer neuen oder anderen aufzugehen. Was soll da "links", was soll da "rechts" sein? Dass man sich gegen eine Autorität, gegen etwas Etabliertes, gegen ein Establishment stellt, das kann nun nicht das Unterscheidungsmerkmal sein. Dann würden ständig Links und Rechts die Plätze und den Namen tauschen.
Bei Ernst Jünger bspw., der nun eher nicht als typisch "Linker" bekannt ist, wirst du einen starken Hang zum Rückzug zum Persönlichen oder "Individuellen" finden, in der Figur seines "Anarchen"(Eumeswil) oder des Waldgängers. Der Ausgangspunkt ist da jedenfalls nicht das Kollektiv. Oder allein wenn man sich die "Prepper"-Szene anschaut. Da geht es um Autarkie, Autonomie, um möglichst große Unabhängigkeit von anderen, von einem "Kollektiv". Zu den "Reichsbürgern" zählt man die "Selbstverwalter", die das Selbstverwalten ernster meinen als jeder "linke Autonome". Oder eine Ayn Rand: "Civilization is the progress of a society towards privacy. The savage’s whole existence is public, ruled by the laws of his tribe. Civilization is the process of setting man free from men." Den Menschen vom Menschen zu befreien. Am Ende steht der Privatmensch. Rand dürfte für Linke kaum eine Stichwortgeberin gewesen sein. Was man heute als "Rechte" wahrnimmt, sind Strömungen, die auf irgendeiner Kollektivebene in der Mitte des Wege hängen geblieben sind, die nicht weiter den Menschen vom Menschen separieren, also bis zur letzten Separation vordringen. Foucault wäre vielleicht noch zu nennen, als weiterer Philosoph des Machtbegriffs, nach Stirner, nach Nietzsche. Links-rechts verschwimmt da zur Nutzlosigkeit.

Aber wofür steht für dich das "Linke"? Was ist typisch links? M.E. wirst du da ohne einen Kollektivismus, ohne einen Kollektivkörper nicht auskommen.
Unter "gelebter Demokratie" verstehe ich vor allem, dass alle Gewalt vom Volk ausgeht. Also nicht von einer Obrigkeitsstaatspartei, die womöglich noch alleine die Herrschaft ausübt. Die Demokratie soll von unten und aus der Zivilgesellschaft mit Leben gefüllt werden, anstatt dass alle duckmäuserisch der herrschenden Regierungspartei gehorchen. Ich bin auch für eine pluralistische Mehrparteiendemokratie, in der auch ein Regierungswechsel unbedingt möglich sein sollte. In der DDR war so etwas zum Beispiel genauso wenig möglich wie im Dritten Reich. Aber auch in der heutigen Situation hat die CDU ja ein Abonnement auf den Kanzlerstuhl, was ich schlecht finde. Und natürlich braucht es auch Regeln und Gesetze, um das menschliche Zusammenleben zu managen. Ohne solche Dinge würde das Gesetz des Urwalds herrschen, also ein völlig rechtloser Zustand. Mit so etwas gäbe es nur Gewalt, Chaos und Anarchie. Gleiches gilt, wenn sich zum Beispiel in den USA ein Donald Trump weigert, den Präsidentensessel zu räumen, wenn er die Wahl verliert. Dann gibt es danach eben einen Bürgerkrieg, wie man es nur aus irgendwelchen afrikanischen Staaten kennt. Aber natürlich kommt es auch auf die Legitimation des Rechts und der Regeln an. Genauso auf Fairness. Wenn zum Beispiel vor dem Gesetz oder beim Steuerrecht die Superreichen sich mehr erlauben dürfen als Otto Normalverbraucher, dann ist dieses Gerechtigkeitsprinzip verletzt. Das ist nicht gut für den gesellschaftlichen Frieden. Und linke Politik sollte dafür sorgen, dass beispielsweise die Spreizung der Vermögen und der Einkommen nicht immer noch mehr zunimmt. Da muss ich wieder auf das Beispiel USA zurückkommen, wo die Masse der Bevölkerung nur wenig verdient. Viele sind sogar von Lebensmittelmarken abhängig, obwohl sie gleich mehrere Jobs haben. Gleichzeitig gibt es aber ein paar wenige superreiche Milliardäre, denen ein Großteil des Volksvermögens gehört. Und das wiederum ist nicht nur extrem ungerecht, sondern undemokratisch. Diese Milliardäre benutzen auch ihr Geld als Druckmittel, um der Gesellschaft insgesamt zu schaden. Sie investieren zudem in fossile Energieträger, um sich selbst kurzfristig zu bereichern. Aber leider lassen sich die Amerikaner auch von diesen Reichen spalten. Mich würde es nicht wundern, wenn es nach der nächsten Wahl in den USA zu gewaltsamen Auseinandersetzungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt.

Links ist also -immer noch-, dass jeder Mensch vor dem Gesetz und beim Steuerrecht gleich behandelt werden soll. Starke Schultern haben mehr zu tragen als schwache. Und da die größte Gefahr für die Menschheit die Klimaerwärmung plus das Artensterben etc. und der drohende Kollaps der Ökosysteme ist, muss echte linke Politik auch dies berücksichtigen! Die Rechten können den Klimawandel entweder leugnen wie die AfD oder aber in der praktischen Politik zu ignorieren versuchen wie die CDU und CSU. Aber echte linke Politik sollte eben auch auf die Werte sozialen Ausgleich setzen und sich für das Leben einsetzen. Unter letzterem verstehe ich, dass es auch in beispielsweise sieben Generationen und später noch einigermaßen möglich sein soll, als Mensch ein gutes Leben auf dieser Erde zu führen. Erst vor kurzem habe ich auch in den Medien -also Zeitung und bei Harald Lesch im ZDF- mitbekommen, dass die Ackerflächen auch in Deutschland total ausgelaugt sind. Und wenn das so weitergeht, wird berichtet, dann sind in sechzig oder mehr Jahren keine guten Ernten mehr möglich. Links steht also dafür, die Leben der größtmöglichen Zahl von Menschen zu erhalten und zu verbessern. Rechte Politiker und ihre Befürworter sind entweder Nihilisten, die alles aktiv zerstören wollen. Dazu zähle ich im Übrigen nicht nur die neuen Faschisten, sondern auch beispielsweise die Islamisten. Oder aber sie sind derart blind, dass sie meinen, es könnte ewig so weiter gehen wie bisher, wenn wir weiter Raubbau an der Umwelt betreiben, als hätten wir noch zehn weitere Planeten in Reserve. Und auch die gesellschaftliche Spaltung wird zunehmen, wenn nichts dagegen unternommen wird. Und wenn der gesellschaftliche Frieden nicht mehr hält, weil sich einige wenige reiche und mächtige nicht an den Gesellschaftsvertrag halten wollen, dann kriegen wir hierzulande eben auch bald Spannungen zwischen den Leuten wie in den USA.

Ernst Jünger wiederum ist meines Wissens ein Rechter. Das ist doch der, der von den "Stahlgewittern" schrieb, oder?

Und natürlich müssten sich die vielen linken Leute, die für eine demokratische und soziale, solidarische, humanistische Gesellschaft sowie einen ökologischen Wandel stehen, viel mehr zusammentun und offensiver für ihre Werte kämpfen. Aber wieso man dann aus dieser Masse an Individuen gleich einen Kollektivkörper erschaffen muss, verstehe ich nicht. Unter Kollektivkörper verstehe ich vor allem, dass sich dann das Individuum im Extremfall für die Masse aufopfern muss. Und dies wäre der Punkt, wo dieses Kollektiv selbst toxische Eigenschaften bekäme. Es geht mir, wie gesagt, darum, dass die Individuen zwar gemeinsam kämpfen müssten. Aber im Endeffekt sollte jedes Individuum nicht seine eigenen Rechte, sein Leben oder sein eigenes Streben nach Glück zugunsten dieser Masse opfern müssen.

Was ich aber als großes Problem sehe, ist: Diese Masse von Individuen existiert gar nicht so richtig. Es gibt keine Partei, die die Probleme offensiv bekämpfen will und den Leuten reinen Wein einschenkt. Aber auch die Bevölkerung schlafwandelt scheinbar unbeeindruckt ohne eine Miene zu verziehen in die Klimakatastrophe hinein. Und auch, wenn sich jemand abgehängt oder benachteiligt fühlt, dann wählt er keine linke Partei mehr, sondern am ehesten die Reaktionäre der AfD. Im Endeffekt tritt er also nach unten, ohne das ökonomische System infragezustellen. Oder aber progressiv für eine Klimawende zu kämpfen. Was aber nötig wäre, das ist eine Art "Partei des Lebens", die an den Stühlen der Reichen und Mächtigen sägt. Dazu fehlt es aber an Rückrat in großen Teilen der Bevölkerung. Und irgendwie bestimmt nicht nur das Sein das Bewusstsein, sondern auch umgekehrt. Solange sich die Mehrheit der Bevölkerung jedoch für dumm verkaufen lässt, indem sie sich sagen lässt, man gehöre doch schließlich zu den Gewinnern im kapitalistischen System, wird auch nichts besser werden. Sondern im Hinblick auf die Klimakrise und die sozialen Verwerfungen wird es eher immer schlimmer werden.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Progressiver »

lemonitor hat geschrieben:(01 Oct 2020, 02:57)

Deshalb stell ich dir die Frage: Wenn du eine Vertretung der Atheisten forderst- was willst du damit erreichen?
Vorab: Ich habe dein Posting der Einfachheit halber nicht ganz zitiert, sondern nur die wichtigen Stellen, auf die ich antworten will. Ansonsten stehen wir wohl nicht so weit auseinander?

Ich habe nichts gegen ein spinozistisches Weltbild. Aber die Religionen und Sekten dieser Welt fordern vor allem eines: Unterwerfung unter ihre Religion, ihren Gott und ihre Werteordnung. So etwas ist mit aufrechten Demokraten nicht zu machen. Wir brauchen nicht mehr Duckmäuser, sondern selbstbewusste und mündige Bürger, die im Sinne der Aufklärung selbstständig und kritisch denken können und für ihre eigenen Interessen eintreten.
Die große historische Leistung von Karl Marx besteht darin, dass er die Schattenseiten des aufstrebenden Kapitalismus, die ungleiche Vermögensverteilung, die Ausbeutung und Ausnutzung der Arbeiter bewusst gemacht hat. Seine Antwort darauf war der Klassenkampf, die Aufforderung an alle Unterdrückten, sich zusammenzuschließen und auf die irgendwann notwendigerweise kommende Umwälzung zu vertrauen. Der Kapitalismus, so lautete seine Lehre, geht irgendwann natürlich zugrunde, als historische Gesetzmäßigkeit. Aber die Abhängigen hätten den Auftrag, sich für die Umschwung zu einer neuen Zeit ständig zu rüsten.
Marx hat meines Erachtens eine gute Kritik der politischen Ökonomie seiner Zeit geliefert. Er hatte aber selbst keine Ideen, wie dieses Problem zu lösen sei. Und das Thema Klimakatastrophe existierte damals auch noch nicht. Heutzutage mag also auch seine Kritik immer noch berechtigt sein. Es gibt aber auch mittlerweile unzählige AutorInnen, die aufzeigen, wie beispielsweise einen sozialökologischen "Green New Deal" machbar wäre, ohne den Rahmen der Demokratie zu verlassen. Leider aber hören die großen Politiker in Deutschland, Europa und anderswo lieber auf die Lobbyisten der klimaschädlichen Wirtschaftszweige oder aber gleich von Blackrock.

Eine offene, gute Debattenkultur entsteht da erst gar nicht, da die ökonomisch Mächtigen daran kein Interesse haben. Und der Rest der Bevölkerung lässt sich zum Großteil entweder einlullen und für dumm verkaufen. Oder aber die selbsternannten rechten "Kritiker" verbreiten lieber ihre Verschwörungstheorien als sachlich richtige, fundierte und durch die wissenschaftlich Expertise gestützte Kritik anzubringen.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von lemonitor »

Progressiver hat geschrieben:(03 Oct 2020, 21:44)

Ich habe nichts gegen ein spinozistisches Weltbild. Aber die Religionen und Sekten dieser Welt fordern vor allem eines: Unterwerfung unter ihre Religion, ihren Gott und ihre Werteordnung. So etwas ist mit aufrechten Demokraten nicht zu machen. Wir brauchen nicht mehr Duckmäuser, sondern selbstbewusste und mündige Bürger, die im Sinne der Aufklärung selbstständig und kritisch denken können und für ihre eigenen Interessen eintreten.
Marx hat meines Erachtens eine gute Kritik der politischen Ökonomie seiner Zeit geliefert. Er hatte aber selbst keine Ideen, wie dieses Problem zu lösen sei. Und das Thema Klimakatastrophe existierte damals auch noch nicht. Heutzutage mag also auch seine Kritik immer noch berechtigt sein. Es gibt aber auch mittlerweile unzählige AutorInnen, die aufzeigen, wie beispielsweise einen sozialökologischen "Green New Deal" machbar wäre, ohne den Rahmen der Demokratie zu verlassen. Leider aber hören die großen Politiker in Deutschland, Europa und anderswo lieber auf die Lobbyisten der klimaschädlichen Wirtschaftszweige oder aber gleich von Blackrock.
Zum Menschsein gehört auch die Fähigkeit, jenseits der Physik Wertesysteme erdenken zu können. Deshalb meine ich, dass zum "aufgeklärt sein" auch die Akzeptanz von Wertesystemen gehört, die letztendlich alle nur persönlich begründet sind. Beginnt man jedoch, persönliche Wertesysteme anderer verändern zu wollen, stehen am Ende nur zerstörte und verstörte Menschen, die eine Ideologie übernommen haben, welche ihrem Naturell nicht entsprichen. Man kann "Glaube ist privatsache" auch so interpretieren: Der Glaube eines Menschen ist zu akzeptieren.

Während der junge Marx wohl noch der Ansicht war, man könnte den Prozess der Transformation des Kapitalismus in ein anderes System beschleunigen, so war der ältere Marx davon überzeugt, dass nur durch einen allgemeinen Bewusstseinswandel eine Transmission des Kapitalismus gelingen kann. Marx war sich jedoch immer darüber in klaren, dass letztendlich der Kapitalismus überwunden werden muss.
Die Frage ist also nicht: Muss der Kapitalismus abschafft werden- sondern die Frage ist: Wie kommen wir aus dem Kapitalismus heraus ohne dass uns alles um die Ohren fliegt?
Richtig ist, dass parteiengebunden Politiker immer darauf achten werden, nichts zu tun, was ihre Wähler verprellen wird. Das heist: Nur wenn der Druck auf die Politiker groß genug ist, werden sie auch bereit sein, entsprechend zu Handeln.
Wenn jedoch die Lobbies mehr Druck ausüben als das Volk, wird der Politiker den Lobbyisten folgen.

Die Kernprobleme einer Veränderung unserer Art des wirtschaftens sind zweifach:
* Lösung des Problems der Ressourcenknappheit und die mit dem Verbrauch der Ressorcen verbundene Umweltbelastung
* Die Versorgung der Menschen mit einem Einkommen, welches nicht mehr auf einer wachstumsbasierten Wirtschaft (Kapitalsimus) beruht.

An sich wäre die Suche nach Lösungen die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaftler. Diese sind jedoch derart auf Wirtschaftswachstum fixiert, dass von deren Seite kaum eine Lösung zu erwarten ist. Selbst der "green deal" wird scheitern, wenn er darauf setzt, eine auf Wachstum fixiertes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, wie es der Kaputalismus nun mal ist, beibehalten zu können.
Vielleicht werden wird zu einem System kommen müssen, dass den Privatebesitz von Produktionsmittel beibehält- aber ein "starker Staat" das, was produziert werden darf, vorgibt.
Konkret könnte das zb bedeutet:
In Stufen werden keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr zugelassen. Denkbar sind Hybridtechniken (für die Fläche unabdingbar) und eine andere Form des öffentlichen Personenverkehrs und des Güterverkehrs.
Aber alle Veränderungen werden Zeit benötigen- und so werden immer Kompromisse nötig sein zwischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten.
Aber zwei Begriffe werden in einer Welt im Umbruch aus dem Vokabular verschwinden müssen: Alternativlos (für das alte) und unmöglich (für das neue).
Zuletzt geändert von lemonitor am So 4. Okt 2020, 13:43, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Ende der Debattenkultur?

Beitrag von Progressiver »

lemonitor hat geschrieben:(04 Oct 2020, 11:29)

Zum Menschsein gehört auch die Fähigkeit, jenseits der Physik Wertesysteme erdenken zu können. Deshalb meine ich, dass zum "aufgeklärt sein" auch die Akzeptanz von Wertesystemen gehört, die letztendlich alle nur persönlich begründet sind. Beginnt man jedoch, persönliche Wertesysteme anderer verändern zu wollen, stehen am Ende nur zerstörte und verstörte Menschen, die eine Ideologie übernommen haben, welche ihrem Naturell nicht entsprichen. Man kann "Glaube ist privatsache" auch so interpretieren: Der Glaube eines Menschen ist zu akzeptieren.

Während der junge Marx wohl noch der Ansicht war, man könnte den Prozess der Transformation des Kapitalismus in ein anderes System beschleunigen, so war der ältere Marx davon überzeugt, dass nur durch einen allgemeinen Bewusstseinswandel eine Transmission des Kapitalismus gelingen kann. Marx war sich jedoch immer darüber in klaren, dass letztendlich der Kapitalismus überwunden werden muss.
Die Frage ist also nicht: Muss der Kapitalismus abschafft werden- sondern die Frage ist: Wie kommen wir aus dem Kapitalismus heraus ohne dass uns alles um die Ohren fliegt?
Richtig ist, dass parteiengebunden Politiker immer darauf achten werden, nichts zu tun, was ihre Wähler verprellen wird. Das heist: Nur wenn der Druck auf die Politiker groß genug ist, werden sie auch bereit sein, entsprechend zu Handeln.
Wenn jedoch die Lobbies mehr Druck ausüben als das Volk, wird der Politiker den Lobbyisten folgen.

Die Kernprobleme einer Veränderung unserer Art des wirtschaftens sind zweifach:
* Lösung des Problems der Ressourcenknappheit und die mit dem Verbrauch der Ressorcen verbundene Umweltbelastung
* Die Versorgung der Menschen mit einem Einkommen, welches nicht mehr auf einer wachstumsbasierten Wirtschaft (Kapitalsimus) beruht.

An sich wäre die Suche nach Lösungen die Aufgabe der Wirtschaftswissenschaftler. Diese sind jedoch derart auf Wirtschaftswachstum fixiert, dass von deren Seite kaum eine Lösung zu erwarten ist. Selbst der "green deal" wird scheitern, wenn er darauf setzt, eine auf Wachstum fixiertes Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, wie es der Kaputalismus nun mal ist, beibehalten zu können.
Vielleicht werden wird zu einem System kommen müssen, dass den Privatebesitz von Produktionsmittel beibehält- aber ein "starker Staat" das, was produziert werden darf, vorgibt.
Konkret könnte das zb bedeutet:
In Stufen werden keine Autos mit Verbrennungsmotoren mehr zugelassen. Denkbar sind Hybridtechniken (für die Fläche unabdingbar) und eine andere Form des öffentlichen Personenverkehrs und des Güterverkehrs.
Aber alle Veränderungen werden Zeit benötigen- und so werden immer Kompromisse nötig sein zwischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten.
Aber zwei Begriffe werden in einer Welt im Umbruch aus dem Vokabular verschwinden müssen: Alternativlos (für das alte) und unmöglich (für das neue).
Zu deiner Kernfrage: "Wie kommen wir aus dem Kapitalismus heraus, ohne dass uns alles um die Ohren fliegt?"

Ich habe da so eine dunkle Ahnung, dass uns irgendwann wirklich alles um die Ohren fliegt!

Wenn wir den fossilen Kapitalismus beibehalten, geschieht dies sowieso. Das Klima wird sich immer mehr erhitzen und das Artensterben wird immer schlimmer werden. So, wie es ist, kann es eigentlich nicht bleiben. Ich fürchte jedoch, dass unsere Politiker mehr als zu Sonntagsreden nicht fähig sind. Und für die Wähler sind es genau die Schlaftabletten, die sie sich selbst wünschen. Letztendlich ist die Menschheit in diesem Szenario einfach zu bequem, um sich zu ändern und an die gestiegenen Überlebensanforderungen anzupassen. Und wenn das Klima mal um drei Grad seit der Beginn der Industrialisierung gestiegen sein wird, werden wir es sowieso mit einer unkontrollierbaren Situation zu tun bekommen. Wenn also der fossile Kapitalismus beibehalten wird, zerstört die menschliche Zivilisation die natürlichen Grundlagen ihrer eigenen Existenz. Und es gibt auch wohl genug Leute, die lieber als Kapitalisten sterben wollen als der Menschheit ein Weiterexistieren zu ermöglichen. Früher hieß das noch "Lieber rot als tot". Aber heute hat sich da wohl einiges gedreht, weil die Leute nicht um fünf, zehn, fünfzig oder hundert Jahre vorausrechnen können oder wollen.

Bleibt die Frage, wodurch man den Kapitalismus als Wirtschaftssystem ersetzen kann. Ich denke, am Anfang müssen wir uns von dem Irrglauben befreien, dass der Mensch der Herrscher der Natur sei und er sich, ganz in altchristlicher Denke, die Erde untertan machen solle oder dürfe. Der Mensch als Art ist nur ein Baustein im globalen Ökosystem. Anstatt dem Wachstums- und Machbarkeitswahn weiterhin anzuhängen, sollten wir uns klar werden, dass wir am eigenen Ast sägen, wenn wir weiterhin diesen Raubbau an der Natur betreiben. Ziel sollte sein, dass die Menschen sich wieder als Teil des Ökosystems Erde begreifen. Die Natur ist kein externes System, in dem man alles negative wie die Umweltverschmutzung externalisieren kann. Der Mensch steht weder über diesem System noch außerhalb von diesem, sondern ist als Täter wie Opfer der Folgen der Umweltzerstörung mittendrin im Geschehen. Dies halte ich für die Grundvoraussetzung allen weiteren menschlichen Denkens und Handelns.

Wenn dieser Bewusstseinswandel eingetreten sein wird, kann man dann immer noch für eine Transformation der fossilen Wirtschaft in eine ressourcenschonende postwachstumsgesteuerten Wirtschaft kämpfen. Es gibt sicher auch Pläne und Ideen für einen Green New Deal, die so etwas möglich machen könnten. Aber da muss dann auch der Staat wieder mehr eingreifen. Bisher gilt immer nur die neoliberale Devise "Privat vor Staat". Aber letztendlich müssten die Gesetzgeber Gesetze erlassen, die diese Transformation ermöglichen können. Dass der Staat sich in die Wirtschaft einmischt, ist sowieso eine Tatsache. Und sei es durch Unterlassen von Handlungen. Aber um ein aktuelles Beispiel zu bringen: Der deutsche Staat zerstört zur Zeit die Solarindustrie und die Windkraftindustrie, weil er meint, die fossilen Energielieferanten schützen zu müssen. Warum aber tut er es nicht umgekehrt und fördert die erneuerbaren Energien plus moderne Speichersysteme?

Das technische Knowhow wäre also da. Was noch fehlt, das ist der gesellschaftliche Druck und das Bewusstsein, das sich schleunigst verändern müsste. Von den Mainstream-Wirtschaftswissenschaftlern kann man jedoch in der Tat nichts erwarten, da für sie der Markt frei sein muss. Und von den derzeitigen Politikern ist auch nichts zu erwarten. Wir sollten aber lieber die Menschen befreien und die Wirtschaft dem Menschen dienen lassen, anstatt wie bisher alle nur Sklaven des möglichst riesigen Profits sein zu lassen.

Aber, wie gesagt: Die derzeitig regierende Politikergeneration hat weder Lösungen noch ein Problembewusstsein. Ob das künftig besser sein wird, kann ich nicht sagen. Wenn die globalen Flüchtlingsströme erst einsetzen werden, die durch die Klimaerwärmung verursacht werden, ist zu befürchten, dass ein großer Teil der Bevölkerung noch viel stärker die AfD wählen könnte. Bzw. in anderen Ländern noch mehr Rechtspopulisten in die Regierung bringen kann, die den Klimawandel leugnen, anstatt dass die Menschheit in Zeiten der Not gemeinsam zusammensteht.
"Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum." Friedrich Nietzsche

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