schokoschendrezki hat geschrieben:(19 Dec 2018, 08:57)
Aus meiner Sicht ist "Pure Vernunft darf niemals siegen" (2005) - zumindest auch! - eine Abrechnung mit einem bestimmten Geist der 90er Jahre. Stichwort T-Aktie. Der naive Glauben, dass alles irgendwie machbar ist. Wenn man nur auf den richtigen Kurs setzt. Dass eine Kuh auch dann Milch gibt, wenn sie kein Gras mehr frisst. Dieser Glaube ist natürlich einerseits in höchstem Maße unvernünftig. Indem er "Vernunft" zum Fetisch macht. Bzw. indem Vernunft zu Machbarkeitswahn und Komplexitätsunterschätzung verkommt. Andererseits erwies sich mit den Bankencrashs kurz nach Erscheinen das ganze Album als regelrecht prophetisch.
Max Horkheimer prägte hierzu den Begriff der "instrumentellen Vernunft". Ich würde zu der Frage nach dem richtigen Maß an Vernunft noch einen anderen Aspekt nennen, der sozusagen parallel damit einhergeht: Der Erosion der Identität in der Moderne. Nachdem man in weiten Teilen Europas Gott vom Sockel gestoßen hatte und an seiner Stelle die Nation emporhob, stellt sich die Frage, ob und was wir heute eigentlich haben. Hat unsere Ethik, Stichwort Humanismus, tatsächlich Fortschritte gemacht? Erinneren wir uns an John Grays Dekonstruktion in seinem bissigen "Abschied vom Humanismus". Mag Sklaverei bsp. verachtet werden, so hat es uns doch nicht daran gehindert, ein globales Wirtschaftssystem zu schaffen, dass auf Ausbeutung ärmerer Länder beruht.
[Der bedeutende
John Locke bsp. wird eingehend in den Büchern als äußerst vernünftiger Philosoph dargestellt. Und so fand es Locke auch äußerst vernünftig, das von indigenen Einheimischen bevölkerte Land in Besitz zu nehmen, da die Indianer das Land schließlich nicht bewirtschaften]
Oder haben wir einfach das Nichts auf dem Sockel? Vor nicht allzulanger Zeit (2014 glaube ich) auf dem berühmten vierten Sockel auf dem Trafalgar Square ein großer blauer Hahn aus Plastik enthüllt wurde (übrigens vom Brexiteer und damaligen Bürgermeister Boris Johnson) - der quasi für das Ende der Bedeutung stellvertretend stand. Post-Aufklärung sozusagen. Oder wie Max Frisch, die meisten kennen ihn als Autor von "Homo Faber" und seinem "Fragebogen", es ausdrückte in einem Vortrag: "Am Ende der Aufklärung steht das Goldene Kalb."
Gleichzeitig gibt es auf technischem Niveau ständig etwas neues, was uns das Leben bequem macht. All dies wird angetrieben durch die ungeheure kreative Energie, entstanden aus dieser alles befreienden Leere. Alles ist in Bewegung, auch wenn offenbar keiner weiß, wohin eigentlich. Gut, man kann sich auf Facebook registrieren und man hat die Auswahl zwischen mehreren dutzend Geschlechtern. Es stehen einige grundlegende Veränderung in Bereichen wie Genetik an, doch können wir uns selbst eigentlich überhaupt noch definieren, wer/was wir eigentlich sind?
Ob sich diese, ich würde sie mal "Krise der Weisheit" nennen durch Algorythmen lösen lässt, die von einer Gruppe äußerst junger und äußerst gutbezahlter Informatiker in Kalifornien programmiert werden und die alle so ungemein vernünftig, weil bequem, klingen?
Vielleicht lassen sich die modernen Radikalisierungen wie das Revival des Nationalismus sowie der Islamismus u.a. auch dadurch erklären. Denn diese Ideologien füllen die Lücken, sie verleihen dem Menschen Identität. Und gerade wenn Religion zur Verleihung einer Identität herhält (statt ein Prozess der intellektuellen Reife darzustellen), so ist die Welt notwendigerweise augustinisch, wenn nicht gar manichäisch (Schwarz und Weiß)
Der Dichter und Maler William Blake (gest. 1827) schuf in seinen Werken einst vier Gestalten, die sozusagen jeweils einen menschlichten Aspekt darstellten. Eine davon, "Urizen" genannt, steht dabei für Rationalität und Wissenschaft und habe, so Blake, habe die Macht an sich gerissen und unterdrückt seither die anderen Aspekte der menschlichen Psyche. Für ihn stellte sich dieser "Urizen" als blinde Ignoranzda , gefangen in den von Newton enthüllten Kausalgesetzen, gleichzeit versunken in ungezügeltem Pathos.
Diese "instrumentelle Vernunft" lässt sich, da stimme ich mit Jekyll, so wie ich ihn verstanden habe, überein, nicht mit der "puren Vernunft", oder das was Aristoteles mit "nous" (Intellekt, Geist, Vernunft) bezeichnete, gleichsetzen.
„Wir sollten keine Scham empfinden, die Wahrheit anzuerkennen und sie zu verarbeiten, selbst wenn sie von früheren Geschlechtern und fremden Völkern kommt." (al-Kindi, gest. 873)