ThorsHamar hat geschrieben:(11 Jun 2019, 00:55)
In einer Welt, in der es eben noch menschliche Gesellschaften gibt, die auf dem Entwicklungsstand der Moderne von vor 10 000 Jahren sind, in einer Welt, in der es Religioten unter dem Halbmond gibt, deren Vorstellungen von Gesellschaft 600 Jahre hinterher sind, ist der Nationalsstaat oder meinetwegen ein Bündnis von Nationalstaaten die einzige Möglichkeit, die Errungenschaften der Aufklärung vor der Zerstörung durch Barbarei zu bewahren!
"Aufklärung" und "Fortschritt" sind zwei Phänomen, die man häufig als "Große Erzählungen" bezeichnet. 1979 erschien von dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard eine der meiner Ansicht nach wichtigsten politisch-philosophischen Schriften des 20. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk "La condition postmoderne". Darin ist von einem "Ende der großen Erzählungen" die Rede. Und aktuell gibts von dem Zeithistoriker Frank Bösch ein Buch, das heißt "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann". Da geht es - natürlich - um Lyotard aber vor allem auch um die politischen Ereignisse, die das Jahr 1979 bestimmten. Als da wären:
- die Errichtung der islamischen Republik im Iran
- der Beginn des Pontifikats des ersten nichtitalienischen Papstes seit etlichen hundert Jahren, des Polen Karol Wojtyla bzw. Johannes Paul II#
- die Gründung der rechtsreligiösen Organisation "Moral Majority" in den USA
- die Machtübernahme Deng Xiaopings in China und der Beginn der wirtschaftlichen Öffnung Chinas
Ab 1979 war die Welt nicht mehr mit den Begriffen der modernen Erzählungen zu fassen. Also Fortschrittsglaube, Sozialismus, Libealismus, Konservatismus.
An den Beispielen Iran, POlen, USA kann man ersehen, dass die Renaissance der Religionen keineswegs auf die Welt des Islam beschränkt war. Nur als ein Beispiel: Der polnische Papst und die katholisch geprägte Gewerkschaft Solidarnosc. Von unabsehbarer Bedeutung für den weiteren Verlauf der Weltpolitik. Aber "Gewerkschaft" ...das war über etwa hundert Jahre hinweg: Kampf um Arbeiterrechte, Gehälter, Mitbestimmung und dergleichen. Sozialdemokratisch geprägt. Nun haben wir eine katholisch-nationalkonservative Gewerkschaft, die sich anschickt, das gesamte bestehende Ost-West-System aus den Angeln zu heben. Der Kommunismus, die kommunistische Partei Chinas ist raubtierfrühkapitalistisch wie nur irgendetwas. Die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei. Kein traditionelles politisches Denk-Schema ist einfach so mehr handhabbar.
Es ist nur so: Die deutsche Einheit, der Mauerfall ... das
scheint so als wäre es, wie es phrasenhaft heißt, "die Vollendung der Einheit", das letzte Kapitel in einer Erzählung über Deutschland. Ist aber ein Irrtum. Der Mauerfall ist eines der Mosaiksteine in den politischen Gesamtumbrüchen der Welt.
Die Wiederberufung auf den Nationalstaat ist aus meiner Sicht eine der Versuche, wieder Ordnung und Orientierung in diese nicht mehr im Gesamtmaßstab verstehbare Welt zu bringen. Der Brexit ist das beste Beispiel dafür. Es wird vergeblich sein!
Polen ist nicht "postkommunistisch" sondern katholisch-rechtsnational, die USA sind nicht mehr das Symbol für Freiheit und Liberalismus, das sie lange waren. China ist nicht mehr steinzeitkommunistisch sondern eine technologisch-wirtschaftliche Weltführungsmacht. Russland wird nicht vom Denken Lenins oder Stalins beherrscht sondern von den Ideen des Zarenreichs. Jedes Phänomen muss im Grunde einzeln und gesondert betrachtet werden.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)