Fliege hat geschrieben:(15 Jan 2020, 20:52)
Auch ohne problemlösungsorientierte Beteiligung der Gegnerinnen könnte es erkenntnisfördernd sein, die womöglich inkompatiblen Prämissen herauszuarbeiten, um Klarheit darüber zu bekommen, an welcher Stelle sich die Wege trennen.
Zunächst eine Eingangsfrage: Ist strittig, ob durch Abtreibung von ungeborenen Kindern mit Down-Syndrom eine genetische Selektion stattfindet?
Die Prämisse der Userin lili kreist primär um den Status des Embryos/Fötus sowie der Stellung des daraus resultierenden Menschen im gesamtgesellschaftlichen Kontext und erst sekundär um die Entscheidungsfreiheit aufgrund von Sorgen und Nöten der Schwangeren, wenn sie eine Abtreibung ablehnt.
Die andere Fraktion fokussiert sich rein auf die Entscheidungsfreiheit der Schwangeren. Das Problem, das dabei auftritt, ist die Illusion, dass in dieser Version der Basis einer möglichen Ethik der Status des Fötus zwar eine Rolle spielt, das aber ausgeblendet wird. Auf diese Logik des theoretischen Umgangs mit dem Fötus bezog sich auch meine rein exemplarisch an der Singerschen Ethik angelehnte Frage, weshalb im Vergleich der Praxis der Spätabtreibung zum Fall des Tötens unmittelbar nach Geburt unter dieser Prämisse eine völlige Umkehr der moralischen Bewertung vollzogen werden kann. Jede Antwort, die dazu käme, würde die vorherige Argumentation vollkommen auf den Kopf stellen.
Also:
1. Es ist ethisch/moralisch vertretbar, im Falle von Trisomie 21 eine Abtreibung vorzunehmen.
2. Es ist zwar nicht vertretbar, aber akzeptabel, im Falle von Trisomie 21 eine Abtreibung vorzunehmen. (Das ist im Grunde das, was BVG und EGMR im Rahmen ihrer Urteile vertreten, weil beide den Widerspruch ausblenden zwischen den beiden Pärmissen - entweder ein Fötus hat generell Menschenrechte, die auch gegen Schwangere durchgesetzt werden müssen, oder man lässt doch selektive Merkmale zu, die rechtlich von dieser Durchsetzung befreit sind).
Das Problem, der blinde Fleck, den Vertreterinnen wie DA nun haben, lässt sich also u.a. anhand des Beispiels der Singerschen Ethik aufzeigen. Denn Ziffer 1. und 2. werden komplett ausgehebelt, wenn ein solches Kind geboren würde und die Eltern verlangen würden, es unmittelbar nach der Geburt zu töten. Was Stunden vorher richtig war, ist nun nicht nur rechtlich, sondern auch (angeblich) moralisch falsch.
Meine Behauptung geht dahin, dass die meisten Anti-lili-Vertreter in ihrer Argumentation verschleiern, dass der Status des Fötus in ihrer eigenen Argumentation sehr wohl eine entscheidende Rolle spielt, und dass das durchaus nachvollziehbare Argument der Entscheidungsfreiheit der werdenden Mutter/Eltern das ausblendet, dass man also auf der Basis von illusionären Prämissen hier argumentiert (oder zetert). Man lügt sich etwas vor, um besser zu sein, als man ist bzw. um nicht nachzudenken, was das, was man vertritt, bedeutet. Wer die Entscheidungsfreiheit als ausschließliches Kriterium und Basis einer Ethik möchte, wird Schwierigkeiten haben, erstens eine bestimmte Ausuferung von Selektionskriterien zu verhindern, zweitens vernünftig zu erklären, weshalb eine Tötung unmittelbar nach der Geburt plötzlich unmoralisch wäre.
Nachtrag: Natürlich ist das Selektion. Die Frage ist ja nur, unter welchen ethischen Vorzeichen es vertretbar ist.