Panarin hat geschrieben:(17 Jul 2021, 16:34)
Kann man so direkt sagen? Die afghanische Armee hat sich bisher als nicht tauglich erwiesen.
Also von dem was ich so lese ist die afghanische Armee auf dem Papier den Taliban klar überlegen. Aber die Kohäsion der Armee ist zweifelhaft, weil ein Großteil der Truppen de facto zu lokalen Warlords gehören und die Loyalität zur Zentralregierung zweifelhaft ist.
Dennoch hat die afghanische Armee (Kommando)Einheiten, welche den Taliban standhalten können. Diese Truppen sind auch aktuell in der Lage Gebiete zurück zu erobern bzw. gegen die Taliban zu halten. Allerdings werden diese wie man so hört gerade überall gleichzeitig eingesetzt und es droht natürlich, dass trotz ihrer militärischen Überlegenheit nach ein paar Monaten ständiger Überlastung nicht mehr viel von ihnen übrig ist.
Auch kontrollieren die Taliban keine großen Städte. Vielmehr sind sie vor allem in den ländlichen Gebieten aktiv und es läuft ja schon seit 20 Jahren so, dass es keine klaren Frontlinien gibt. Vielmehr sind die Taliban in manchen Gebieten aktiver als in anderen. In der Hinsicht gibt es Distrikte wo die Taliban dominant sind, wo sie aktiv sind und wo die Regierung dann zunehmend dominant ist. Das ändert sich aber natürlich schnell und im Moment bauen die Warlords, welche mit der Regierung verbündet sind, ihre Truppen auf, um sich gegen die zugenommene Taliban-Aktivität wehren zu können. Es ist also noch lange nicht das letzte Wort gesprochen, wie sich die Kräfteverhältnisse entwickeln, weil vor allem lokale Kräfte jetzt auch neu aufgebaut werden.
Die erste Stadt bei der man erwarten würde, dass sie an die Taliban fällt ist Kandahar und dort finden aktuell heftige Kämpfe statt. Dort ist ja auch der Reuters-Journalist getötet worden. Bisher ist das aber nicht passiert. Im Norden des Landes haben die Taliban sich überraschend durchsetzen können, weil Regierungstruppen übergelaufen sind. Aber auch dort noch keine Provinzhauptstädte eingenommen. Interessanterweise gibt es aber im Grenzgebiet zur Pakistan (Khost z.B.) vergleichsweise wenig Taliban-Aktivität. Ich vermute das liegt daran, dass Hekmatyar vor ein paar Jahren zur Regierung übergelaufen ist und dortige Millizen sich der Taliban gut erwehren können. In einer Provinz wurde die Tage ein Waffenstillstand lokaler Truppen mit den Taliban geschlossen und auch in der Region um Herat haben die Taliban wohl im ländlichen Bereich Zugewinne gemacht, die Stadt selbst aber nicht angegriffen. Womöglich spielen diplomatische Kontakte mit dem Iran eine Rolle.
Im Moment haben wir eine Situation, wo die afghanische Armee an sehr vielen Stellen gleichzeitig kämpft und so komplett überdehnt ist, aber noch keine wichtigen Städte hat aufgeben müssen, während die Taliban überall im Land agieren können und selbst die Initiative ergreifen und sie so immer wieder strategisch wichtige Gebiete erobern. Früher oder später wird die afghanische Armee sich aus bestimmten Gebieten zurückziehen, um sich nicht überall gleichzeitig aufreiben zu lassen. Das wird dann aber natürlich bei den Verhandlungen die Taliban nochmal stärken, aber irgendwann die Konsolidierung des eigenen Territoriums ermöglichen, weil die afghanische Regierung bei einer direkten Konfrontation, wo man die eigenen Kräfte konzentriert mobilisieren kann, letztlich zahlenmäßig und technologisch trotzdem überlegen ist.
Was wir im Moment erleben ist halt die Folge davon, dass die afghanische Armee nicht überall gleichzeitig im Land aktiv werden kann, wie das den USA und ihren Verbündeten in den letzten 20 Jahren möglich war und sie irgendwann die Entscheidung treffen müssen ihre überdehnten Kräfte zu konsolideren. Dann dürfte der Taliban-Vormarsch aber auch vorbei sein. Und dann sind die Taliban gewissermaßen eine Fraktion unter mehreren in einem von verschiedenen Warlords kontrollierten und sich grob in zwei Lager aufgeteilten Afghanistan. Die Frage ist, ob die dann bis zum Sankt Nimmerlandstag weiter Krieg führen oder irgendwann mal Frieden schließen und es zu einer Machtteilung im Land kommt. Um dieses Szenario geht es ja letztlich bei den diplomatischen Gesprächen.
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