Warum interveniert Europa überhaupt in Syrien?

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liszt

Warum interveniert Europa überhaupt in Syrien?

Beitrag von liszt »

Für manche hier ist es sicher common sense, aber ich brauche mal ein wenig Nachhilfe.

1) Warum interveniert bspw. Frankreich überhaupt (schon vor den Anschlägen in Paris) in Syrien?
2) Warum unterstützt Putin Assad? Geopolitisches Interesse?
3) Wer außer Frankreich und den Peschmerga war noch im Kampf gegen den IS in Syrien/Irak beteiligt vor den Anschlägen,
und mit welcher Motivation?
4) Was würde passieren, wenn man den IS einfach "machen ließe"? Also seitens Europa gar nicht mehr eingreifen würde,
auch nicht mit Waffenlieferungen? Warum tut man dies nicht?

Danke schonmal!
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Platon
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Registriert: Sa 31. Mai 2008, 19:27
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Re: Warum interveniert Europa überhaupt in Syrien?

Beitrag von Platon »

1) Die Hauptgefahr die vom IS ausgeht ist eine Destabilisierung der Region und die Durchführung von Anschlägen im Westen. Aus diesem Grunde führen die USA seit Sommer 2014 eine internationale Koalition an, welche den IS "eindämmen und am Ende vernichten" soll. Ursache war, dass der IS im Begriff war sich den Städten Erbil und Bagdad zu nähern. Dazu gab es Berichte eines bevorstehenden Völkermordes an den Yeziden bei Sinjar. Um also eigene Verbündete im Irak die alle gleichzeitig vor einer totalen Niederlage standen und einen Völkermord zu verhindern, war man gezwungen militärisch einzugreifen. Die europäischen Mächte haben sich am Kampf gegen den IS beteiligt um den USA als Verbündete beizustehen und um eigene politische Interessen zu verfolgen, wie beispielsweise sich eine Stimme bei zukünftigen politischen Eintscheidungen und diplomatischen Verhandlungen zu sichern. Deutschland beteiligt sich vor allem durch Waffenlieferungen an die Peshmerga und ebenfalls dort die Ausbildung von Soldaten und wohl seit längerem auch durch nachrichtendienstliche Aufklärung, wie es so schön heißt. Dieses Engagement wird nun anlässlich der französischen Initiative nach dem Anschlag in Paris ausgebaut. Man ist nun als Aufklärer und Versorger direkt in das Kampfgeschehen der Verbündeten eingebunden.

2) Russland ist ein traditioneller Verbündeter Assads und sein Machterhalt garantiert den russischen Einfluss in der Region, der sonst vollständig verloren ginge. Man wäre sonst schlichtweg irrelevant und könnte keine eigenen Interessen mehr verfolgen, dazu kommt die Basis im Mittelmeer welche den Russen mehr militärische Bewegungsfreiheit in der Region verschafft. Dazu hatte man Assad in der Vergangenheit eine Menge Waffen geliefert, würde er gestürzt und durch ein völlig anderes System ersetzt, müssten die entsprechenden Schulden in Milliardenhöhe abgeschrieben werden. Daher hat Russland ein politisches, militär-strategisches und ökonomisches Interesse an Assad festzuhalten. Zu einem Zeitpunkt wo man auch im traditionellen Einflussgebieten wie in Osteuropa und Zentralasien Rückzugsgefechte führen muss, kämpft man da sehr verbissen.

3) Wie gesagt die westlichen Mächte haben ein Interesse daran, dass der IS sich nicht weiter ausbreitet und die ganze Region destabilisiert. Eine weitere Ausbreitung im Irak nach Bagdad, Irakisch-Kurdistan wäre unhilfreich, ebenso wäre ein Machtgewinn in Syrien auf Kosten anderer Rebellen oder eine Eroberung von Teilen Damaskus ein Horrorszenario - Assad hin oder her - auch umliegende Länder wie Jordanien, Saudi-Arabien oder der Libanon sind potenziell gefährdet, dass der IS dort interne Spaltungen zwischen Bevölkerungsgruppen nutzt Bürgerkriege anzuzetteln und sich überall fest zu setzen. Daher gilt es den IS in die Schranken zu weisen und seine Ausbreitung zu verhindern.
Die arabischen Staaten sind als Verbündete des Westens und weil der IS eben auch das arabische Staatensystem bedroht motiviert sich an dieser Militärallianz zu beteiligen, sofern sie nicht dem Iran oder Assad nützt.
Der Iran bekämpft wiederum den IS um eine Niederlage der eigenen schiitischen Verbündeten im Irak zu vermeiden die im Moment den Südirak und Bagdad kontrollieren. Die Argumentation ist hier in der Art "Deutschland wird am Hindukusch verteidigt", hier als "Die Sicherheit der iranischen Nation wird vor Bagdad verteidigt". Dazu verteidigt man natürlich auch die heiligen Stätten der Schiiten im Irak, in Kerbala, Najaf und Samarra.
In Syrien wurde der IS lange Zeit kaum bekämpft, weil er keine strategische Bedrohung für Assad dargestellt hat. Vielmehr hat man ihn gefördert um der Aufstandsbewegung eine ideologisch radikaleres Antlitz zu geben. Das hat sich mit der Eroberung von Palmyra und dem Vordringen des IS nach Zentralsyrien langsam geändert, was einher geht mit der zunehmenden Bereitschaft Assad als Verbündeter gegen den IS zu akzeptieren. Assad sieht den IS aber nach wie vor als Gegner Nummer 2 in Syrien, seine militärischen Aktivitäten richten sich nach wie vor hauptsächlich gegen andere Gruppen.
Die Rebellen in Syrien haben lange Zeit Seite an Seite mit dem IS gekämpft bzw. haben ihn als Mitglied der Opposition akzeptiert. Als jedoch klar wurde, dass der IS nicht beabsichtigt sich als Teil der syrischen Opposition gegen Assad zu stellen, sondern er einen Alleinvertretungsanspruch hat und es ihm auch nicht um Assad sondern um den Aufbau eines eigenen islamischen Staates geht, mit dem man sich nicht verbünden sondern lediglich unterwerfen kann, kam es zum Konflikt und einer Aufteilung der von Assad befreiten Gebiete in Syrien. Seitdem geht es darum, dass man miteinander um Territorium konkurriert.

4) Er könnte sich ausbreiten und würde dann vitale Interessen des Westens bedrohen, wie die Stabilität Saudi Arabiens, des Libanon und Jordaniens, er würde die Sicherheit der Kurden bedrohen in Syrien und Irak, er hätte die Möglichkeit im Westen Anschläge durchzuführen um Prestige zu gewinnen und al Qaida weiter den Rang abzulaufen, er hätte mehr Ressourcen um andere jihadistische Gruppen zu stärken, es würde also nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft bedroht, sondern auch weiter entfernte Gebiete wie Ägypten, Afghanistan, Libyen, Jemen etc. überall dort haben sich Leute dem IS angeschlossen und erhalten Waffen, Kämpfer und vor allem Geld. Je weniger man den IS bekämpft umso mehr Ressourcen hätte er sich überall wo es geht weiter auszubreiten, daher mag man den IS im Moment keine strategische Niederlage zufügen können, ohne massenhaft Bodentruppen einzusetzen. Den IS aber in Ruhe zu lassen und das beste zu hoffen, wie es die Türken z.B. seit jeher machen, ist keine Option, weil die Folge davon eine Destabilisierung der Region, mögliche militärische Niederlagen von Verbündeten und die Stärkung der lokalen Ableger wäre.
Zuletzt geändert von Platon am Di 8. Dez 2015, 01:13, insgesamt 2-mal geändert.
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H2O
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Re: Warum interveniert Europa überhaupt in Syrien?

Beitrag von H2O »

Schon erstaunlich, wenn ein Gesprächsteilnehmer so
grundsätzliche Fragen stellt, nachdem das Wüten des
IS die Weltöffentlichkeit seit so langer Zeit beschäftigt.

Wahre Romane wären da zu schreiben, um diese
verworrenen Machtinteressen und Menschenschläch-
tereien aus zu breiten, die zu riesigen Fluchtbewegungen
der Menschen führen, die dem Wüten des IS oder
der Anhänger Assads entkommen möchten.
liszt

Re: Warum interveniert Europa überhaupt in Syrien?

Beitrag von liszt »

Vielen Dank Platon für die ausführliche Antwort :)
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