Orwells 1984 rückt näher...

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Atue001
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von Atue001 »

Es passiert immer wieder gerne, dass man Orwells 1984 im Kontext mit Überwachungsmaßnahmen einbringt. Regelmäßig halte ich das für eine zu kurze und viel zu einseitige Würdigung seines Werkes - mit der Folge, dass ein Bedrohungsszenario konstruiert wird, welches an der Realität dann doch grob vorbeigeht.

Die Technik für sich alleine ist weder gut noch schlecht. Sie ist Technik. Der Rest ist eine Frage, wie die Nutzung der Technik in den Staat und die Gesellschaft eingebunden ist.
Richtig ist, dass es bei Orwells Szenario einen in Richtung totaler Überwachung gehenden Staat gibt - und wenn unser Staat heute Gesetze macht, die für bestimmte Szenarien eine Überwachung in engen Grenzen ermöglichen, dann kann man munter darüber spekulieren, dass es in Richtung des Szenarios von Orwell geht.....

Aber: Bei Orwells Szenario gibt es keine Demokratie, kein Streikrecht, keine freien Medien (ganz im Gegenteil), keine unabhängige Justiz etc. etc. etc......
Und selbst in China, einem Land welches Überwachung und sogar soziale Disziplinierung deutlich mehr einsetzt, weiß die regierende Partei sehr wohl, dass ihrer Macht Grenzen dadurch gesetzt sind, dass die Bevölkerung sich nur dann vieles gefallen lässt, wenn permanent zumindest die Hoffnung auf stetige (persönliche) Verbesserung der Lebensumstände für ausreichend viele gewährleistet wird. Stabilität in einem großen Staatswesen zu erhalten, ist mit und ohne Überwachung ein sehr anfälliges Unterfangen.

Orwell hat deshalb für den Erhalt der Stabilität noch eine Art "Machtgleichgewicht" dreier großer Staatsgebilde hergestellt, von denen permanent wenigstens zwei miteinander im Kriegszustand waren. Dabei ist nicht wichtig, ob es diesen Kriegszustand ganz praktisch tatsächlich gibt, sondern nur, dass über den permanenten Kriegszustand immer wieder gesellschaftliche Repressalien akzeptabel für die Bevölkerung begründet werden können.

Die heutige Welt ist da aber deutlich anders organisiert!


Speziell in Deutschland neigen wir dazu, jegliches Sammeln und Auswerten von Daten überhöht kritisch zu sehen - regelmäßig werden dann auch Forderungen aufgestellt, die bei genauer Betrachtung eher rückschrittlich zu nennen sind. Im Grunde genommen aber ist es relativ unproblematisch, wenn der Staat Daten sammelt und vielleicht zunächst auch anonymisiert auswertet, wenn es um die Bekämpfung von Verbrechen geht. Kritisch wird es allenfalls dann, wenn dieses Auswerten und anschließende Personalisieren nicht mehr rechtsstaatlichen Bedingungen genügt. Zu den rechtsstaatlichen Bedingungen gehört auch, dass der normale Bürger nicht permanent einem Überwachungsdruck ausgesetzt sein darf. Es muss sehr viele Freiräume geben, in denen sich jeder sicher sein kann, dass er/sie seine/ihre Meinung frei entwickeln, entfalten und äußern kann.
Entscheidend ist also nicht, ob Daten erhoben, gespeichert und ausgewertet werden, sondern in welchem rechtlichen Gesamtrahmen dies geschieht. Solange sowohl die Wirtschaft als auch der Staat selbst hier Grenzen einhalten muss, ist die technische Neuzeit etwas völlig anderes als der dystopische Ansatz von Orwells 1984.
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BlueMonday
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von BlueMonday »

Atue001 hat geschrieben:(29 Jan 2021, 23:52)

Es passiert immer wieder gerne, dass man Orwells 1984 im Kontext mit Überwachungsmaßnahmen einbringt. Regelmäßig halte ich das für eine zu kurze und viel zu einseitige Würdigung seines Werkes - mit der Folge, dass ein Bedrohungsszenario konstruiert wird, welches an der Realität dann doch grob vorbeigeht.

Die Technik für sich alleine ist weder gut noch schlecht. Sie ist Technik. Der Rest ist eine Frage, wie die Nutzung der Technik in den Staat und die Gesellschaft eingebunden ist.
Richtig ist, dass es bei Orwells Szenario einen in Richtung totaler Überwachung gehenden Staat gibt - und wenn unser Staat heute Gesetze macht, die für bestimmte Szenarien eine Überwachung in engen Grenzen ermöglichen, dann kann man munter darüber spekulieren, dass es in Richtung des Szenarios von Orwell geht.....

Aber: Bei Orwells Szenario gibt es keine Demokratie, kein Streikrecht, keine freien Medien (ganz im Gegenteil), keine unabhängige Justiz etc. etc. etc......
Und selbst in China, einem Land welches Überwachung und sogar soziale Disziplinierung deutlich mehr einsetzt, weiß die regierende Partei sehr wohl, dass ihrer Macht Grenzen dadurch gesetzt sind, dass die Bevölkerung sich nur dann vieles gefallen lässt, wenn permanent zumindest die Hoffnung auf stetige (persönliche) Verbesserung der Lebensumstände für ausreichend viele gewährleistet wird. Stabilität in einem großen Staatswesen zu erhalten, ist mit und ohne Überwachung ein sehr anfälliges Unterfangen.
.
Orwells Szenario ist vor allem eines, das sich aus vorangegangenen realen, auch "demokratischen" Zuständen entwickelt hat. Ein Szenario, das sich aus Orwells Erfahrungen mit der Wirklichkeit speist, das er daraus extrapoliert.
Orwells "Big Brother" ist die konzentrierte "well intention", der sorgende, ständig präsente Staat. Dabei geht es um "Gehirnwäsche", Gedankenkontrolle als Mittel, um das Gute zu bewerkstelligen. Kontrolle über die Geschichte, die Vergangenheit, für die es nur die eine offizielle zweckdienliche Version gibt. Revision - tabu. Relativismus - tabu. Eigenständige Gedanken - tabu. Privater Raum - tabu ("Das Private ist das Politische"). Keine Absonderung, keine Weigerung, keine alternativen Räume, kein aus der Reihe tanzen. Vollständig greifbar, kontrollierbar werden. "memory holes", bewusstes Verdrängen, Vergessen unpassenden Geschehens. Gedankenverbrechen verfolgen. Das Falsche zu denken als Verbrechen. Das Gefährlichste überhaupt sind die Gedanken, die unkontrolliert durch die Köpfe irrlichterieren und querschießen.

Steuernummer, Identifkationsnummer, das sind dann allenfalls nur Ausprägungen eines viel subtileren Vorgangs, der sich vielmehr auf sprachlicher Ebene zuvor abspielt. Das eigentlich Bemerkenswerte ist das sich Nummerierenlassen. Die Hinnahme. Das Normalwerden. Die Nummer steht am Ende, wenn der Mitmensch, der Nachbar wie selbstverständlich Jagd macht auf die Nummerlosen. Hass als Bürgerpflicht aus Liebe zum Staat. Wenn der große Bruder überall die Augen hat, die Augen der Blockwarte, nicht unbedingt nur technische Kameraaugen. Wenn es breiten Beifall gibt, wenn es den Abseitigen ordentlich an den Kragen geht. Orwells Szenario wird nicht plötzlich wundersam Wirklichkeit, sondern es nimmt einen langen schleichenden Weg. Wenn ältere Prinzipien irgendwann von gegensätzlichen "Gepflogenheiten" verdrängt, ersetzt werden und unter denselben Bezeichnern laufen (wie "demokratisch") und nur noch das Wort als Bedeutungsruine stehenbleibt. Den Dingen, auch den übelsten, einen guten Klang zu verleihen, das ist das Ziel der "politischen Sprache", transformierende Wortketten, bis Krieg Friede ist, bis man das eigene Land auch am Hindukush verteidigt. Wir haben unzählige Sprach- und Denkentwicklungen dieser Art mittlerweile. Und die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen nimmt zu.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
franzmannzini

Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von franzmannzini »

Senexx hat geschrieben:(29 Jan 2021, 12:36)

Jetzt werden wir durchnummeriert

https://www.welt.de/politik/deutschland ... ummer.html

Allgemeine Bürgeridentifikationsnummer.

Wann kommt der Chip?
Der Chip kommt dann, wenn ihn ein Großteil "möchte". Man muß sich nur darum kümmern daß ihn ein Großteil möchte.

Wäre es nicht ganz toll, damit Türen zu öffnen, zu bezahlen, sich auszuweisen u.s.w. ? :)
Atue001
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von Atue001 »

BlueMonday hat geschrieben:(30 Jan 2021, 02:22)

Orwells Szenario ist vor allem eines, das sich aus vorangegangenen realen, auch "demokratischen" Zuständen entwickelt hat. Ein Szenario, das sich aus Orwells Erfahrungen mit der Wirklichkeit speist, das er daraus extrapoliert.
Orwells "Big Brother" ist die konzentrierte "well intention", der sorgende, ständig präsente Staat. Dabei geht es um "Gehirnwäsche", Gedankenkontrolle als Mittel, um das Gute zu bewerkstelligen. Kontrolle über die Geschichte, die Vergangenheit, für die es nur die eine offizielle zweckdienliche Version gibt. Revision - tabu. Relativismus - tabu. Eigenständige Gedanken - tabu. Privater Raum - tabu ("Das Private ist das Politische"). Keine Absonderung, keine Weigerung, keine alternativen Räume, kein aus der Reihe tanzen. Vollständig greifbar, kontrollierbar werden. "memory holes", bewusstes Verdrängen, Vergessen unpassenden Geschehens. Gedankenverbrechen verfolgen. Das Falsche zu denken als Verbrechen. Das Gefährlichste überhaupt sind die Gedanken, die unkontrolliert durch die Köpfe irrlichterieren und querschießen.

Steuernummer, Identifkationsnummer, das sind dann allenfalls nur Ausprägungen eines viel subtileren Vorgangs, der sich vielmehr auf sprachlicher Ebene zuvor abspielt. Das eigentlich Bemerkenswerte ist das sich Nummerierenlassen. Die Hinnahme. Das Normalwerden. Die Nummer steht am Ende, wenn der Mitmensch, der Nachbar wie selbstverständlich Jagd macht auf die Nummerlosen. Hass als Bürgerpflicht aus Liebe zum Staat. Wenn der große Bruder überall die Augen hat, die Augen der Blockwarte, nicht unbedingt nur technische Kameraaugen. Wenn es breiten Beifall gibt, wenn es den Abseitigen ordentlich an den Kragen geht. Orwells Szenario wird nicht plötzlich wundersam Wirklichkeit, sondern es nimmt einen langen schleichenden Weg. Wenn ältere Prinzipien irgendwann von gegensätzlichen "Gepflogenheiten" verdrängt, ersetzt werden und unter denselben Bezeichnern laufen (wie "demokratisch") und nur noch das Wort als Bedeutungsruine stehenbleibt. Den Dingen, auch den übelsten, einen guten Klang zu verleihen, das ist das Ziel der "politischen Sprache", transformierende Wortketten, bis Krieg Friede ist, bis man das eigene Land auch am Hindukush verteidigt. Wir haben unzählige Sprach- und Denkentwicklungen dieser Art mittlerweile. Und die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen nimmt zu.
Seit Orwellls Werk hat vor allem der Individualismus zugenommen, und der Sozialismus abgenommen. Das geht soweit, dass wir heute Übertreibungen der anderen Art haben, also dass gerne "Individualismus" mit purem Egoismus verwechselt wird.

Die Steuernummer/Identifikationsnummer als solches ist keine Bedrohung für die Demokratie und auch nicht für den Einzelnen. Steuerbetrüger hingegen schon. Die implizite Forderung der Verweigerung einer Registrierung des Einzelnen durch den Staat ist letzten Endes nur die Übertreibung des Staatswesens ins Staatenlose, in Anarchie und Chaos. Auch diese Übertreibung ist, wie regelmäßig alle möglichen Übertreibungen, keineswegs wünschenswert.
Ob es wirklich wünschenswert ist, das es Abseitigen nicht an den Kragen geht - das kommt darauf an, was genau die Gesellschaft als Abseitig definiert. Sofern es um Kriminelle, Verbrecher, Terroristen geht, um Verachter der Menschenrechte oder auch des friedlichen Zusammenlebens - da spricht vieles dafür, dass es durchaus wünschenswert ist, wenn solche Abseitigen identifiziert und entsprechend dem Rechtsstaat auch Dingfest gemacht werden. Entscheidend ist insofern nicht, wie man mit Abseitigen umgeht, sondern wie offen und tolerant eine Gesellschaft auch gegenüber andersdenkenden ist.
Die Alternative zum Überwachungsstaat ist nicht die Anarchie - sondern eine weltoffene, menschenfreundliche Demokratie basierend auf den Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit, sozialem Miteinander und Toleranz. Freiheit aber, die wir so gerne einfordern, ist immer auch die Freiheit der anderen - und in einer Welt, die immer mehr zusammen wächst, können wir Terror und Unrechtsregime auch nicht am Hinudkush akzeptieren. "Friede" war schon immer eine hohle Phrase, wenn dieser "Friede" auf dem Rücken von Sklaven, Entrechteten, Terroropfern u.ä. erkauft wurde. Für die Opfer war das schon immer Elend und Leid - und nur die schöne heile Welt der Anderen hilft da auch nicht, die Welt besser aussehen zu lassen.
Heute haben wir mehr Transparenz zu den Elendsszenarien der Welt - und die Geschwindigkeit dazu nimmt weiter zu. Sorge machen mir deshalb nicht die Steuernummern dieser Welt, sondern vielmehr die Fake-News-Verbreiter, Pseudowissenschaftlicher Quatsch, fehlende Bildung, und der allgegenwärtige Egoismus, der im Namen der angeblichen Freiheit am Ende nur zum Terror gegen den Nachbarn und Nächsten verkommt.
Den Blockwart braucht es nicht, und auch nicht den großen Bruder. Es reicht, ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Rechtsstaat und Einzelnem zu haben, und eine aufgeklärte Demokratie ist dafür schon mal eine gute Basis.
Schnitter
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von Schnitter »

Atue001 hat geschrieben:(29 Jan 2021, 23:52)

Es passiert immer wieder gerne, dass man Orwells 1984 im Kontext mit Überwachungsmaßnahmen einbringt.
Den Vergleich mit Orwells 1984 kann nur jemand anstellen der das Buch nicht gelesen hat.

An die dort dargestellte Dystopie kommt nicht mal Nordkorea dran.
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McKnee
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von McKnee »

Es wäre gut gewesen, sich erst einmal über ID und deren Funktion überhaupt zu informieren, bevor man sich wieder in den Utopien der Überwachung verliert.
Der Hauptgrund für Stress ist der tägliche Kontakt mit Idioten.

Es ist mir egal, ob es ein Albert-Einstein-Zitat ist ...

.....er wusste es :D
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Teeernte
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von Teeernte »

Verbot des Bitcoin-Minings in Schweden
Die schwedische Finanzaufsichtsbehörde hat ein Verbot des Mining von Kryptowährungen gefordert und bezeichnete Kryptowährungen als Bedrohung für das Klima. Nach Ansicht der Regulierungsbehörde benötigt das Bitcoin-Mining zu viel Strom, der zu einem großen Teil in umweltschädlichen Kraftwerken erzeugt wird. Unter diesen Bedingungen wird der Schaden für die schwedische Umwelt angeblich jedes Jahr zunehmen, wenn die Behörden keine Maßnahmen ergreifen, um das Geschäft der Miner einzudämmen.
https://www.behoerden-spiegel.de/2022/0 ... -schweden/
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Tom Bombadil
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Re: Orwells 1984 rückt näher...

Beitrag von Tom Bombadil »

Der EuGH kassiert mal wieder ein dt. Gesetz ein:
Vorratsdaten­speicherung: EuGH kippt deutsches Gesetz
https://www.computerbase.de/2022-09/vor ... es-gesetz/

Hält die Faezer natürlich nicht davon ab, es weiter zu versuchen:
Tom Bombadil hat geschrieben: Fr 9. Sep 2022, 16:44 Dafür fordert sie mal wieder was verfassungswidriges: https://www.computerbase.de/2022-09/vor ... nsammlung/
The tree of liberty must be refreshed from time to time with the blood of patriots and tyrants. It is its natural manure.
Thomas Jefferson
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Diffamierer der Linken.
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