Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Moderator: Moderatoren Forum 2

Antworten
Perkeo
Beiträge: 879
Registriert: Mo 6. Jul 2020, 21:10

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von Perkeo »

Ich denke ein Volkseinwand würde zwei Unsitten weiter erweitern:
1) Diskussionen fangen erst an, wenn die eigentlich beendet sein sollten. Wenn ein Gesetzentwurf fertig und sogar verabschiedet ist, ist ein langer Entscheidungsprozess vorausgegangen. Warum das Volk erst ausschließen und ein Packet schmücken und dann das geschnürte Packet wieder öffnen?
2) Verwechslung des Stimme des Volkes mit demjenigen welcher am lautesten schreit. Eine laute Minderheit kann ohne auch nur den Versuch einer demokratischen Legitimation das Inkrafttreten erst einmal stoppen und noch einmal abstimmen lassen weil das Ergebnis nicht gefällt - wohingegen eine der lauten Minderheit genehme Entscheidung nicht wiederholt wird.

Daher mein konstruktiver Gegenvorschlag:
1) Bürgerbeteiligung muss sofort beginnen. Das fängt an mit Transparenz. Das sind Routinemaßnahmen wie Lobbyregister oder die sofortige Offenlegung aller unterschriftsreifen Verträge.
2) Gleiche Aregeln für beide Seiten. Man kann darüber nachdenken, bei zu erwartenden Kontroversen ein Forum nach dem Vorbild der Schlichtung bei Stuttgart21 einzurichten, wo Befürworter, aber such Gegner, ihre Hose runterlassen und die Argumente einem Faktencheck unterziehen müssen. Wenn die Brexiteers systematisch hätten darlegen müssen, wie sie sich den EU-Austritt denn vorstellen, wäre Großbritannien wohl noch in der EU.
3) Das Volk entscheidet, wenn die Entscheidung ansteht . Nicht über eine Rechtschreibreform, die längst verabschiedet ist, oder über ein Bauvorhaben, wenn schon die ersten Bagger rollen.
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19857
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von sünnerklaas »

naddy hat geschrieben:(25 Dec 2019, 14:57)

Voraussetzung wäre, dass die Bürger die erlassenen Gesetze auch verstehen. Beispielsweise sowas:



Da müssten also entweder die gesetzeverfassenden Juristen oder die Bürger wohl noch eine ganze Menge lernen, bevor das in der Praxis funktionieren kann. ;)
Viele sind schon mit der konkurrierenden Gesetzgebung überfordert. Es gibt Bereiche, in denen der Bund nur befugt ist, Rahmengesetze zu erlassen. Die Verabschiedung der Durchführungsgesetze und deren Durchsetzung fallen in die Kompetenz der Länder, manchmal ist es so, dass die Landtage zwar die Durchführungsgesetze verabschieden, die Durch- und Umsetzung jedoch kommunale Angelegenheit ist.

Ein weiteres Problem: Gesetze, Verordnungen und auch Verträge sind, solange sie nicht explizit aufgehoben wurden, immer noch gültig - egal, von wann sie stammen. Die Verträge zum Reichsdeputationshauptschluss von 1804 sind zum Beispiel immer noch gültig - v.a. was die Kirchen angeht. Eine Ablösung würde sehr teuer.
Benutzeravatar
naddy
Beiträge: 2667
Registriert: Mo 18. Mär 2019, 11:50

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von naddy »

sünnerklaas hat geschrieben:(15 Sep 2020, 14:27)

Ein weiteres Problem: Gesetze, Verordnungen und auch Verträge sind, solange sie nicht explizit aufgehoben wurden, immer noch gültig - egal, von wann sie stammen. Die Verträge zum Reichsdeputationshauptschluss von 1804 sind zum Beispiel immer noch gültig - v.a. was die Kirchen angeht. Eine Ablösung würde sehr teuer.
Ein kurioser Fall war auch die Abschaffung der Todesstrafe in Hessen im Oktober 2018. :)

Interessant auch, daß sich bei der Abstimmung nur nur 83,2 Prozent der Stimmberechtigten dafür aussprachen. Noch interessanter wäre es möglicherweise gewesen, wenn dieser Passus der Landesverfassung nicht bereits zuvor durch übergeordnetes Bundesrecht gebrochen worden wäre. Die bundesweiten Reaktionen auf ein auf dieser Basis verhängten Todesurteils hätten mich schon interessiert. ;)
"Das gefährliche an der Dummheit ist, daß sie die dumm macht, die ihr begegnen." (Sokrates).
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19857
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von sünnerklaas »

naddy hat geschrieben:(15 Sep 2020, 14:48)

Ein kurioser Fall war auch die Abschaffung der Todesstrafe in Hessen im Oktober 2018. :)

Interessant auch, daß sich bei der Abstimmung nur nur 83,2 Prozent der Stimmberechtigten dafür aussprachen. Noch interessanter wäre es möglicherweise gewesen, wenn dieser Passus der Landesverfassung nicht bereits zuvor durch übergeordnetes Bundesrecht gebrochen worden wäre. Die bundesweiten Reaktionen auf ein auf dieser Basis verhängten Todesurteils hätten mich schon interessiert. ;)

Das war kurios, aber auch für Laien verständlich.
Sobald man beim Bau-, Planungs- und Umweltrecht ankommt, wird es knifflig und unüberschaulich. Das Baurecht ist ähnlich komplex, wie das Steuerrecht.
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19857
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von sünnerklaas »

Perkeo hat geschrieben:(14 Sep 2020, 03:09)

Ich denke ein Volkseinwand würde zwei Unsitten weiter erweitern:
1) Diskussionen fangen erst an, wenn die eigentlich beendet sein sollten. Wenn ein Gesetzentwurf fertig und sogar verabschiedet ist, ist ein langer Entscheidungsprozess vorausgegangen. Warum das Volk erst ausschließen und ein Packet schmücken und dann das geschnürte Packet wieder öffnen?
2) Verwechslung des Stimme des Volkes mit demjenigen welcher am lautesten schreit. Eine laute Minderheit kann ohne auch nur den Versuch einer demokratischen Legitimation das Inkrafttreten erst einmal stoppen und noch einmal abstimmen lassen weil das Ergebnis nicht gefällt - wohingegen eine der lauten Minderheit genehme Entscheidung nicht wiederholt wird.

Daher mein konstruktiver Gegenvorschlag:
1) Bürgerbeteiligung muss sofort beginnen. Das fängt an mit Transparenz. Das sind Routinemaßnahmen wie Lobbyregister oder die sofortige Offenlegung aller unterschriftsreifen Verträge.
2) Gleiche Aregeln für beide Seiten. Man kann darüber nachdenken, bei zu erwartenden Kontroversen ein Forum nach dem Vorbild der Schlichtung bei Stuttgart21 einzurichten, wo Befürworter, aber such Gegner, ihre Hose runterlassen und die Argumente einem Faktencheck unterziehen müssen. Wenn die Brexiteers systematisch hätten darlegen müssen, wie sie sich den EU-Austritt denn vorstellen, wäre Großbritannien wohl noch in der EU.
3) Das Volk entscheidet, wenn die Entscheidung ansteht . Nicht über eine Rechtschreibreform, die längst verabschiedet ist, oder über ein Bauvorhaben, wenn schon die ersten Bagger rollen.
Bürgerbeteiligungen und Anhörung gibt es schon seit langem. In der Regel ist es aber so, dass das Interesse der Bürger da in der Regel sehr gering ist. Es gilt bei vielen die Halten "Bis-Das-Kommt-Bin-Ich-Längst-Tot". Ärger kommt erst, wenn der Beschluss gefasst und rechtskräftig ist. Dann ist Holland in Not und die Leute gehen auf die Barrikaden.
In Niedersachsen hat man seit den 20er Jahren (damals noch Provinz Hannover des Landes Preußen) über eine Verwaltungs-, Kreis- und Gemeindereform debattiert. 1932 gab es da den ersten großen Schnitt. In den 1960er Jahren kam das sogenannte Weber-Gutachten. Als dann 1977 die große Kreisreform in Kraft trat, wurde urplötzlich lautstark geheult, protestiert und demonstriert. Die ganze Jahre und Jahrzehnte zuvor war den allermeisten die Debatte vollkommen schnuppe.
Perkeo
Beiträge: 879
Registriert: Mo 6. Jul 2020, 21:10

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von Perkeo »

sünnerklaas hat geschrieben:(15 Sep 2020, 15:12)

Bürgerbeteiligungen und Anhörung gibt es schon seit langem. In der Regel ist es aber so, dass das Interesse der Bürger da in der Regel sehr gering ist. Es gilt bei vielen die Halten "Bis-Das-Kommt-Bin-Ich-Längst-Tot". Ärger kommt erst, wenn der Beschluss gefasst und rechtskräftig ist. Dann ist Holland in Not und die Leute gehen auf die Barrikaden.
In Niedersachsen hat man seit den 20er Jahren (damals noch Provinz Hannover des Landes Preußen) über eine Verwaltungs-, Kreis- und Gemeindereform debattiert. 1932 gab es da den ersten großen Schnitt. In den 1960er Jahren kam das sogenannte Weber-Gutachten. Als dann 1977 die große Kreisreform in Kraft trat, wurde urplötzlich lautstark geheult, protestiert und demonstriert. Die ganze Jahre und Jahrzehnte zuvor war den allermeisten die Debatte vollkommen schnuppe.
Demokratie heißt, das Volk ist der Chef. Und wenn der Chef sich um nichts kümmert, dann ist er natürlich unzufrieden - und selber schuld.
Man kann nicht Demokratie leben wenn dem Volk nicht ein gewisses Minimum an Verantwortungsbewusstsein eingefordert wird.
Außerdem: Hätte man diese Reform durch Volksentscheid beschlossen, wäre es schwer zu vermitteln gewesen, dass die Proteste legitim sind - sieht man ja auch bei Stuttgart 21, da demonstriert kaum noch jemand.
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19857
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von sünnerklaas »

Perkeo hat geschrieben:(15 Sep 2020, 15:36)

Demokratie heißt, das Volk ist der Chef. Und wenn der Chef sich um nichts kümmert, dann ist er natürlich unzufrieden - und selber schuld.
Man kann nicht Demokratie leben wenn dem Volk nicht ein gewisses Minimum an Verantwortungsbewusstsein eingefordert wird.
Außerdem: Hätte man diese Reform durch Volksentscheid beschlossen, wäre es schwer zu vermitteln gewesen, dass die Proteste legitim sind - sieht man ja auch bei Stuttgart 21, da demonstriert kaum noch jemand.
Ich fremdle mit der Vorstellung von Volksentscheiden. Nicht nur wegen des Brexits. Der Bürger sollte sich eher Partizipationsrechten bewusst werden und die auch wahr nehmen.

Parallel zu den Debatten um die Kreis- und Verwaltungsreform in Niedersachsen gab es seinerzeit Volksentscheide zur Wiedereinrichtung der Freistaaten Schaumburg-Lippe und Oldenburg. In beiden Fällen votierten im Januar 1975 Mehrheiten für die Wiedereinrichtung.der fürstlichen
Das Dumme: beide Freistaaten wären wirtschaftlich nicht überlebensfähig gewesen. Schaumburg-Lippe (340 km² groß) hatte nach 1918 massive Finanzprobleme, weil das Fürstentum, das es vor 1918 war, letztendlich ein Zuschussgeschäft des Fürsten war. Wider besseren Wissens wurde schon 1926 in einem Volksentscheid gegen die Angliederung an Preussen gestimmt - obwohl der Mini-Staat praktisch bankrott war. Rund 50 Jahre später wurde für die Wiedereinrichtung gestimmt, wissend, dass das aus den Landstädtchen Stadthagen (ca. 23.000 Einwohner) und Bückeburg (ca. 20.000 Einwohner) und ein paar ländlichen Umlandgemeinden bestehende Ländchen nur wirtschaftstrukturell extrem schwach auf der Brust war.
Auch ein wieder eingerichteter Freistaat Oldenburg wäre nicht überlebensfähig gewesen. Da hätten schon Bremen und Bremerhaven mit dazu kommen müssen. Da Bremer und Oldenburger sich seinerzeit aus historischen Gründen nicht vertrugen, war daran nicht zu denken gewesen.
Auch dort lief alles wider besseren Wissens ab.
Perkeo
Beiträge: 879
Registriert: Mo 6. Jul 2020, 21:10

Re: Volkseinwand - neues politisches Instrument der Mitbestimmung aller

Beitrag von Perkeo »

sünnerklaas hat geschrieben:(15 Sep 2020, 15:52)

Ich fremdle mit der Vorstellung von Volksentscheiden. Nicht nur wegen des Brexits. Der Bürger sollte sich eher Partizipationsrechten bewusst werden und die auch wahr nehmen.
Übereinstimmung mit dem Schlussatz: Der begrenzende Faktor sind nicht die Partizipationsrechte, sondern deren Wahrnehmung. Am offensichtlichsten ist das bei der Diskussion um Wahlbeteiligung, wo immer unter den Tisch fällt, dass Nichtwähler ja nicht Ausgeschlossene sind, sondern freiwillig nicht teilnehmen. Wer eine neue, ganz andere Partei will, soll selbst eine solche gründen.
Der Brexit ist sicherlich das Beispiel schlechthin für ein schief gegangenes Referendum, aber ich habe durch Stuttgart 21 meinen Glauben an die direkte Demokratie gefunden. Nicht etwa weil ich S21 so toll finde, sondern aus zwei Gründen:
1) Durch die Schlichtung mussten BEIDE Seiten die Hose runterlassen - und BEIDE hatten nicht so viel drin wie sie behaupteten: Ja, die Kosten laufen aus dem Ruder, und die Kapazität ist nicht so wie man sie sich wünschen würde, aber nein, die Gegner hatten kein fertiges Alternativprojekt in der Tasche das man einfach nur umsetzen muss. Kosten in Milliardenhöhe alleine um NICHTS zu bauen sind harter Tobak. Und ob das dannbesser wäre? Ich bin 4 Jahre in diesen Hauptbahnhof gependelt und habe auf den letzten Metern unendlich viel Zeit verloren. Die Kosten für K21 hätten auch us dem Ruder laufen können - entsprechende Unwägbarkeiten gab es.
2) S21 hat gezeigt, dass auch die schweigende Mehrheit gegen die laute Minderheit stimmen kann. Die abgegebenen Nein-Stimmen (zum Projektabbruch, nicht zu S21) waren mehr als die Ja-Stimmen, obwohl jedem halbwegs Informierten klar war, dass Nichtwählen fast sicher den gleichen Effekt hat wie mit Nein Stimmen. Seitdem ist Ruhe im Karton - von einem radikalen Kern der immer noch die Baugruben umnutzen will abgesehen (und solche Leute wollten besser geplant haben...).

Mein Fazit daher: Volksabstimmungen funktionieren, wenn es eine Plattform analog der Schlichtung durch Heiner Geißler gibt - und zwar dann, wenn die Entscheidung ansteht. Das ist das einzige was bei S21 aus demokratischer Sich schlecht gelaufen ist.
Antworten