Tja, ich erinnere mich an eine Gruppe von etwa 30 jungen Leuten, die laut singend hinter einer roten Fahne mit weißem Kreis und schwarzem Krikelkrakel marschierten, an einen fremden Mann im Bett meiner Mutter, Tornister, Helm und Gewehr an der Wand stehend. Oma sagte, daß sei mein Vater. Bald darauf kamen Soldaten, die Apfelsinen und Schokolade und Kaugummi vom Panzer herunter verteilten. Danach welche, die Vieh aus dem Stall holten. Da waren auch nur Frauen im Hause.
Dann gab es eine Fahrt im Leiterwagen mit Tisch und Sofa zum Bahnhof, eine Kontrolle durch Soldaten mit "Vos papiers!" und anschließend eine dreitägige Fahrt im Güterwagen mit Mutter, Opa und Schwester. Brot und Kochkäse als Wegzehrung. Eine Ankunft in einer Trümmerlandschaft, so weit das Auge reichte. Ein Zimmer mit Blick in den offenen Himmel, und zwei Zimmer mit Eimern für das Regenwasser und Pappe in den Fenstern.
Schule mit Anstehen in Reihe und Glied, mit Kochgeschirr für Nudelsuppe. Essen aus abgeschnittenen Konservendosen. Anstehen nach Puddingsuppe "Schwedenspeisung". Suppe aus trockenem Brot mit ein paar Rosinen darin.
Unser Vater kam humpelnd zurück aus der Kriegsgefangenschaft. Verbände mit stark riechender schwarzer Salbe, aber es wurde allmählich besser mit der Humpelei. Zuteilungsmarken für alles, was man brauchte.
Prügeleien mit ausländischen Einbrecherbanden; gut, daß mein Vater schon wieder wehrhaft war. Aber auch große Jungen aus der Nachbarschaft. Das waren aufregende 4 Jahre! Ein Neuanfang!
Besuch aus Belgien, wo Vater Freunde für das Leben gewonnen hatte in sehr schweren Zeiten. Und mein Kindermädchen 1941 bis 1944 aus Le Havre. Da flossen die Tränen der Wiedersehensfreude. Alle heil und gesund und in Amt und Brot! Gegenbesuche fast alljährlich wochenlang... meine zweite Muttersprache. Inzwischen alle tot und leider ohne eigene Kinder. Aus, vorbei!
Ein gemeinsamer Kochabend mit spanischen Kunden, Fachsimpelei über gute Rotweine... und plötzlich die Türklingel: "Macht Euren Fernseher an!" und dann das Bild von strömenden Menschen durch die Maueröffnung... ratlose VOPOs... Autobahnen voller Leute und Autos... alle in einer Richtung Westen. Wieder ein tränenreicher Neuanfang!
Ein Ausflug nach Schwerin; Besuch im Schloß für 20 Pfennig Ostmark pro Nase. 1 Mark West tat es auch... 5:1
Bratwurst mit Pommes an der Bude vor dem Schloß und der niederländische Ausruf: "Das sind ja noch richtige Kartoffeln!". Später im "Haus des Gastes" die gepflegte Gastlichkeit. Russische Soldaten, die alle möglichen Sachen verkaufen wollten gegen Westgeld. Wenige Monate später die verkündete Deutsche Einheit. Da flossen die Tränen. Viel Ostbesuch junger Leute aus der Familie... ein Neuanfang!
Und nun auf die alten Tage unser Alterssitz im polnischen West-Pommern... wieder ein Neuanfang, eine neue Sprache und neue Freunde, aber alle deutlich jünger als meine Frau und ich!
Ja, was wünsche ich mir noch in diesem langen Leben? Einen Neuanfang unter einem gemeinsamen europäischen Dach. Man wird ja noch einmal träumen dürfen!