Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Moderator: Moderatoren Forum 8

Ist der Freispruch gerecht?

Umfrage endete am Mi 3. Feb 2021, 00:12

Ja
6
43%
Nein
8
57%
 
Insgesamt abgegebene Stimmen: 14
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Liegestuhl hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:02)

Ich habe keine Verurteilung gefordert. Ich habe lediglich angemerkt, dass dieses Urteil aus meiner Sicht nicht gerecht ist:
Dieses Urteil als ungerecht zu beurteilen, impliziert automatisch eine Forderung nach Verurteilung. Welchen Sinn sollte denn diese Bewertung sonst machen? Deren Botschaft eindeutig ist, das hier ein Fehlurteil vorliegt, und der einfachen Logik folgend, damit auch eine Korrektur bzw. ein anderes Urteil nötig sei:
Wie Sie schon anmerkten, "es sei nicht gerecht, dass ein Straftäter für seine Tat nicht verurteilt wurde".

Sozusagen das Dilemma, wenn der Kopf mit dem Bauch denkt, aber behauptet es sei der Kopf.

Die Gerechtigkeit ist die kleine Schwester der Willkür.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Und noch ein Frage tut sich auf: Wenn der Kommissar sich durchsetzen würde mit seiner Vorstellung von "Rettungsfolger" und diese würde legalisiert - Waterboarding zum Beispiel verursacht bekanntlich keine bleibenden Schäden -, müsste das Gericht, weil das Geständnis (die Nennung des Aufenthaltsortes) verwertbar, den Angeklagten zwingend verurteilen, wofür genau auch immer (die Tat oder Beihilfe).

Vielleicht mache ich mal einen Strang unabhängig eines solchen emotionalisierenden Themas auf zum Verhältnis Recht und Moral.
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 09:56)

:rolleyes:

Nach Ihrer Theorie ist in demokratisch und rechtsstaatlich verfassten Ländern, in denen die Todesstrafe Recht ist, ein Todesurteil gerecht. Und nur Ihr Bauchgefühl, Ihre moralische Oberhoheit behauptet das Gegenteil.
Genau da irren Sie. Meine Beurteilung verbindet lediglich mein Bauchgefühl mit meiner Ratio zu einem Gleichklang, der Gerechtigkeit als völlig untauglich für die Rechtssprechung eines modernen Rechtsstaates ansieht.

Die diesbezüglichen Erklärungen hinsichtlich der archaischen Zuckungen, zu denen auch das sog. Gerechtigkeitsempfinden und dessen Befriedigung - neben dem Verlangen nach Vergeltung/Rache - gehört, habe ich im Todestrafenthread bereits erläutert und werde das hier nicht nochmals tun.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:54)

Genau da irren Sie. Meine Beurteilung verbindet lediglich mein Bauchgefühl mit meiner Ratio zu einem Gleichklang, der Gerechtigkeit als völlig untauglich für die Rechtssprechung eines modernen Rechtsstaates ansieht.
Das habe ich schon verstanden. Wenn man aber Gerechtigkeit als völlig untauglich für die Rechtssprechung eines modernen Rechtsstaates ansieht., ist das Urteil weder gerecht noch ungerecht.
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:50)
... Waterboarding zum Beispiel verursacht bekanntlich keine bleibenden Schäden ...
Ihr höheres Wissen erstaunt mich immer wieder. Darf ich daraus schließen, dass Sie lebenslange Traumata eines massiven Waterboardings und real erlebte, albtraumhafte Todesnähe eines so Gefolterten für nicht für möglich halten oder wenigsrens nicht für einen bleibenden "Schaden" ansehen?

Zu ihren in den Raum gestellten Szenario einer ggf. geänderten Rechtslage, die ihr angedientes Waterboarding als legal erlauben würde, fällt mir Hans-Karl Filbinger ein:
"Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein".

Analog wünsche ich Ihnen viel Erfolg mit ihrem neuen Thread:
"Was gestern Unrecht war, kann morgen schon Recht sein".

Allerdings ohne mich. Gell.
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McKnee
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von McKnee »

Das Thema ist bei diesem Rumgehüpfe zwischen Fiktion und Realität nicht zu diskutieren. Es ist kaum mehr als eine Flucht in die jeweiligen Lager. Und tüss
Der Hauptgrund für Stress ist der tägliche Kontakt mit Idioten.

Es ist mir egal, ob es ein Albert-Einstein-Zitat ist ...

.....er wusste es :D
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 11:04)

Das habe ich schon verstanden. Wenn man aber Gerechtigkeit als völlig untauglich für die Rechtssprechung eines modernen Rechtsstaates ansieht., ist das Urteil weder gerecht noch ungerecht.
Sicher dat. Eine moderne Rechtssprechung kann sich nicht nach der Gerechtigkeitsfrage ausrichten oder an dieser in ihrem hauptsächlichen Daseinszweck orientieren. Sie allenfalls soweit möglich, mit berücksichtigen.

Gerechtigkeit ist ein "zweischneidiges Pferd". :D - Und zu unterschiedlich in seiner willkürlichen Empfindung des nicht zu verurteilenden menschlichen Gefühls. Aber eben auch so immens weit und unterschiedlich in der Bandbreite, wann und ob Gerechtigkeit hergestellt sei oder noch nicht.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 11:13)

Ihr höheres Wissen erstaunt mich immer wieder. Darf ich daraus schließen, dass Sie lebenslange Traumata eines massiven Waterboardings und real erlebte, albtraumhafte Todesnähe eines so Gefolterten für nicht für möglich halten oder wenigsrens nicht für einen bleibenden "Schaden" ansehen?
Pardon, war mein Fehler: Keine bleibenden körperlichen Schäden, daher ist es nicht nachweisbar - das war eine Einlassung des Anwalts im Film.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

McKnee hat geschrieben:(08 Jan 2021, 11:19)

Das Thema ist bei diesem Rumgehüpfe zwischen Fiktion und Realität nicht zu diskutieren. Es ist kaum mehr als eine Flucht in die jeweiligen Lager. Und tüss
Ich kann nur auf das antworten, was angeboten wird.
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Liegestuhl
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Liegestuhl »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:38)

Dieses Urteil als ungerecht zu beurteilen, impliziert automatisch eine Forderung nach Verurteilung.
Natürlich nicht. Das Urteil ist nach deutschem Recht gesprochen worden.
Die Frage wurde aber gestellt, ob man es als gerecht oder ungerecht empfindet.
Du solltest dich von dem irrtümlichen Gedanken trennen, dass Rechtssprechung grundsätzlich Gerechtigkeit schafft. Das kann es nicht.
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Liegestuhl hat geschrieben:(08 Jan 2021, 11:50)
...
Du solltest dich von dem irrtümlichen Gedanken trennen, dass Rechtssprechung grundsätzlich Gerechtigkeit schafft. Das kann es nicht.
Sie sollten einfach genauer nachlesen, was ich schreibe, statt mir unzutreffende Unterstellungen ans Bein zu binden. ;)
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Liegestuhl
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Liegestuhl »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 11:55)

Sie sollten einfach genauer nachlesen, was ich schreibe, statt mir unzutreffende Unterstellungen ans Bein zu binden. ;)
Ich lese genau, was du schreibst:
Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:38)

Dieses Urteil als ungerecht zu beurteilen, impliziert automatisch eine Forderung nach Verurteilung.
Ich beurteile das Urteil als ungerecht und fordere ausdrücklich keine Verurteilung.

Deine Aussage ist widerlegt.
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:38)

Dieses Urteil als ungerecht zu beurteilen, impliziert automatisch eine Forderung nach Verurteilung.
Nein. Und das sollten gerade Sie angesichts Ihrer Position gegenüber dem Gerechtigkeitsbegriff eigentlich verstehen.
Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:38)
Welchen Sinn sollte denn diese Bewertung sonst machen?
Sie drückt ein moralisches Urteil aus, was denn sonst um Himmelswillen?

Nachtrag: Unter Umständen auch ein Interesse an einer Änderung der Rechtslage, eine Unzufriedenheit mit geltendem Recht.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Ob jemand hier für "gerecht" oder für "ungerecht" abgestimmt hat: Beide haben die gleiche Art von Werturteil abgegeben.
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 11:49)

Ich kann nur auf das antworten, was angeboten wird.

Ist halt etwas blöd gelaufen. :D

Ein Threadstanderl "chez Ferdinand" aufzumachen.,
und dann eine Speisekarte hinzuhängen mit solchen Sachen wie

Bulletten
Freakadellen
Folterschaschlik
Gerechtigkeitsgulasch
Moralpizza
Formaljuristische Rouladen
Maultaschen in Sternchenform
Schiracher Allerlei

...und dazu eine Philosophenmaß von Wolke 9

Das kann schon dazu führen, dass das einen ermittelnden Gourmand enttäuscht. :D
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 12:40)

Ist halt etwas blöd gelaufen. :D

Ein Threadstanderl "chez Ferdinand" aufzumachen.,
und dann eine Speisekarte hinzuhängen mit solchen Sachen wie

Bulletten
Freakadellen
Folterschaschlik
Gerechtigkeitsgulasch
Moralpizza
Formaljuristische Rouladen
Maultaschen in Sternchenform
Schiracher Allerlei

...und dazu eine Philosophenmaß von Wolke 9

Das kann schon dazu führen, dass das einen ermittelnden Gourmand enttäuscht. :D
Na, wenigstens stand noch der Eulenketchup in der preisgünstigen Großflasche zur Geschmacks- und Stimmungsaufhellung griffbereit auf dem Tisch. Dazu noch durchs Wölfchengehirnsieb passiertes sublimiertes Bauchgefühl auf ad personam-Kohl. Alles gut also. ;)
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Billie Holiday »

Dass das Leid und erlittene Traumata von echten Opfern weiter keine Bedeutung haben dürfen in einer Gerichtsverhandlung, während die Sorge groß ist, dass Tätern kein Haar gekrümmt wird, wird der eine oder andere schon ungerecht finden.
„Wer mich beleidigt, bestimme ich.“ (Klaus Kinski)

„Just because you’re offended, doesn’t mean you’re right.“ (Ricky Gervais)
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Billie Holiday hat geschrieben:(08 Jan 2021, 12:50)

Dass das Leid und erlittene Traumata von echten Opfern weiter keine Bedeutung haben dürfen in einer Gerichtsverhandlung, während die Sorge groß ist, dass Tätern kein Haar gekrümmt wird, wird der eine oder andere schon ungerecht finden.
Er wäre dann Täter, wenn ihm das nachgewiesen werden könnte, so bleibt er mutmaßlicher Täter, der freigesprochen wurde. Wie Juristen die Frage beantworten, ob er dann einen Anspruch hat, als unschuldig zu gelten, weiß ich nicht. Er kann jedenfalls nicht dagegen vorgehen, wenn ihn jemand trotzdem für den Täter hält. Vermutlich aber wohl gegen eine Tatsachenbehauptung, er sei der Täter. Der Fall um die getöteten Kinder Weimar war hier so langer Streitfall mit unterschiedlichen Urteilen und Beschuldigten.
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 12:47)

Na, wenigstens stand noch der Eulenketchup in der preisgünstigen Großflasche zur Geschmacks- und Stimmungsaufhellung griffbereit auf dem Tisch. Dazu noch durchs Wölfchengehirnsieb passiertes sublimiertes Bauchgefühl auf ad personam-Kohl. Alles gut also. ;)
Jessas na, das hatte ich doch tatsächlich zu erwähnen vergessen. Danke, Judge Stoner. Sie sind ein vollumfänglich guter Mensch und Humorist. Und Schirachs lässiger, supreme court'scher Albtraum. :D
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Liegestuhl »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 13:28)

Jessas na, das hatte ich doch tatsächlich zu erwähnen vergessen. Danke, Judge Stoner. Sie sind ein vollumfänglich guter Mensch und Humorist. Und Schirachs lässiger, supreme court'scher Albtraum. :D
Aha....
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 13:28)

Jessas na, das hatte ich doch tatsächlich zu erwähnen vergessen. Danke, Judge Stoner. :D
Keine Ursache. Frei nach Gordon Lightfoot (The House You Live In) I not only pity the stranger who stands at my door, I also pity those whose memory fails them, indem ich dann aushelfe. ;)
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 14:20)

Keine Ursache. Frei nach Gordon Lightfoot (The House You Live In) I not only pity the stranger who stands at my door, I also pity those whose memory fails them, indem ich dann aushelfe. ;)
Bei so anrührenden Worten fällt mir ein, dass im ÖRR dringend ein wirklich kompetenter und seriöser Mann für das Wort zum Sonntag fehlt. Schade, dass Sie in diesem schlimmen Forum so ruchlos angekettet wurden! :D
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BlueMonday
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von BlueMonday »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 09:28)

Die Frage kann ich, als jemand der "ungerecht" gewählt hat, nicht beantworten, weil sie sich so nicht stellt (für mich jedenfalls). Ich hatte oben versucht zu erklären, dass "ungerecht" eigentlich ein Begriff aus der Moralphilosophie und nicht aus dem Recht ist. Im Recht geht es primär darum, Normen durchzusetzen und Verstöße mit den entsprechenden Konsequenzen zu belegen und nicht darum, ein Gerechtigkeitsempfinden zu befriedigen. Es ist übrigens eines von Schirachs Anliegen, genau das auch zu zeigen, dass zwischen Recht und Moral zu trennen ist. Den Artikel, den der User Fliege oben erwähnt hat, ist dazu ganz empfehlenswert, weil er für diese Art von Begriffsverwirrungen aus Recht und Moral ein wenig Licht in die Sache bringt.

Und was den Angeklagten und seine (Un)Schuld angeht: Ich weiß zu viel über ihn, um ihn für unschuldig halten zu können. Das Argument, er könne zufällig vom Aufenthaltsort der Entführten Kenntnis erhalten haben, das gibt's nicht einmal in einem misslungenen C-Krimi.

Der User Blue Monday hat ebenfalls schon darauf hingewiesen: Die reine Rechtsleere ist - zumindest auf solche Fragen- eben wirklich rein, also leer. Das Urteil ist rechtmäßig, zwingend. Das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen bleibt hiervon erst einmal unberührt.
Die Lösung liegt dann m.E. aber in der Synthese, also dass man Recht und Rechtsempfinden gerade nicht trennt, in dem Sinne, dass beides berührungslos voneinander unbeeinflusst auseinander steht. Wie gesagt, als Anstoß jedweden Rechts steht immer ein Affekt zu Beginn, ein totales Gefühl, die reine Qualität, die noch keinen Begriff, keine Satzform gefunden hat. Dass man Folter rigoros ablehnt, steht auch auf dem Grund einer starken Gefühlsregung, etwa in der Vorstellung selbst einmal in so eine Lage zu geraten. Damit arbeitet ja auch der Film, indem die Folter deutlich in Szene gesetzt wird.

So wie man sich in das Opfer hineinfühlt, mitfühlt. Die ganze Verhandlung findet ja überhaupt nur statt, weil man an der Tat, also was dem Opfer widerfahren ist, gefühlten Anstoß nimmt. D.h. die "Rechtslage", wie auch immer sie konkret beschaffen sei, nimmt nur ihren langen Zeichenweg, weil zu Beginn ein Empfinden steht und mit ihm das Bedürfnis, einen Schuldigen zu finden und zu bestrafen. Nur dass dieses Bedürfnis auf Gefühlskonkurrenz trifft, eben in Gestalt der Abneigung gegen Folter, "Rübe ab", Rache etc.
Die Rechtssetzung oder gebung ist ja ein politischer Vorgang, also etwas, das aus der Auseinandersetzung verschiedener affektgetriebener Standpunkte hervorgeht. Die Zeichketten, die Gedankengänge kommen auf unterschiedlichen Wegen daher. Mancher Weg ist kürzer, der der Jurisprudenz ist meist ein sehr langer und verschlungener und der auslösende Affekt gerät dabei etwas in Vergessenheit und außer Sicht.

Vor diesen mehr oder weniger langen Wegen gibt es ja keine "Schuld". Ist der Löwe schuldig, wenn er eine Gazelle reißt? Er ist für unser Rechtszeichen der "Schuld" unerreichbar. Recht ist nichts anderes als in Gedankenzeichen erstarrter, geronnener, abgekühlter Affekt.
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Liegestuhl »

BlueMonday hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:12)

Die Lösung liegt dann m.E. aber in der Synthese, also dass man Recht und Rechtsempfinden gerade nicht trennt, in dem Sinne, dass beides berührungslos voneinander unbeeinflusst auseinander steht.
Das ist doch der Clou. Eine Frage an das Publikum "Haben die Richter in diesem Fall juristisch korrekt geurteilt?" bringt nur wenig, da dies überhaupt nicht in Frage steht.

Es geht doch vielmehr darum, dem Publikum aufzuzeigen wie deutsche Rechtsprechung in diesem bestimmten Extremfall ausgelegt wird, um anschließend zu entscheiden, ob das Urteil als gerecht empfunden wird.
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Vongole »

Liegestuhl hat geschrieben:(07 Jan 2021, 22:00)

Gerechtigkeit ist ein Empfinden, dass uns Menschen innewohnt.

Gelegentlich sogar in Jura-Studenten.
Warum nur gelegentlich? Ich kann mich an Zeiten erinnern, wo z.B. die Radbruchsche Formel sehr heiß und leidenschaftlich diskutiert wurde, und könnte mir vorstellen, dass das heute ähnlich ist.

Thomas Fischer hat das Experiment der ARD sehr treffend zerrissen:
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ ... b04fc149b7
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Aldus
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Aldus »

Liegestuhl hat geschrieben:(08 Jan 2021, 08:15)
Nein, ich erwarte keine Bestrafung. Das Urteil ist formal-juristisch in Ordnung. Das macht es aber für mein subjektives Empfinden nicht "gerecht", denn ein Straftäter erhält einen Freispruch.
Exakt. Aber da kommt eben der springende Punkt: Sollte ein juristisches System nicht gerecht sein? Sollten Gerechtigkeitsempfinden und Rechtsprechung nicht übereinstimmen? Ich persönlich denke, ja.
Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 09:08)
Offensichtlich ist es eine ziemliche intellektuelle Überforderung...
Offensichtlich ist es eine ziemliche intellektuelle Überforderung, solche Bermerkungen einfach mal zu unterlassen.
"Nur eine Maschine kann eine Maschine verstehen." - Alan Turing
"Wir müssen die gar nicht verstehen, die haben zu gehorchen." - Prof. Harald Lesch
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

BlueMonday hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:12)

Die Lösung liegt dann m.E. aber in der Synthese, also dass man Recht und Rechtsempfinden gerade nicht trennt, in dem Sinne, dass beides berührungslos voneinander unbeeinflusst auseinander steht. Wie gesagt, als Anstoß jedweden Rechts steht immer ein Affekt zu Beginn, ein totales Gefühl, die reine Qualität, die noch keinen Begriff, keine Satzform gefunden hat. Dass man Folter rigoros ablehnt, steht auch auf dem Grund einer starken Gefühlsregung, etwa in der Vorstellung selbst einmal in so eine Lage zu geraten. Damit arbeitet ja auch der Film, indem die Folter deutlich in Szene gesetzt wird.
Ja, das Recht entsteht nicht in einem leeren, von aller Moral unbeeinflussten Juristenkopf, kein Widerspruch. Der Norm geht natürlich immer etwas voraus, manche Normen verlangen ja sogar eine Auffüllung durch moralische Vorstellungen der Zeit (etwa die sog. "guten Sitten"). Aber wenn die Norm besteht, dann findet ein Verfahren auf der Basis dieser Norm statt, der Richter urteilt nach dieser Norm, dem berühmten "Buchstaben des Gesetzes". Er darf nicht anders urteilen in diesem Fall, das ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (in der Praxis hatten wir das zuletzt bei den milden sog. Raserurteilen). Daher hadern wir eigentlich mit der zugrundeliegenden Norm, wenn wir das Urteil ungerecht empfinden, oder aber wir verteidigen die zugrundeliegende Norm, wenn wir es gerecht empfinden.
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Aldus hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:43)

Exakt. Aber da kommt eben der springende Punkt: Sollte ein juristisches System nicht gerecht sein? Sollten Gerechtigkeitsempfinden und Rechtsprechung nicht übereinstimmen? Ich persönlich denke, ja.
Die Frage werden die meisten vermutlich mit Ja beantworten bzw. die meisten haben die Erwartung, dass es ihrem eigenen Gerechtigkeitsempfinden entsprechen sollte.

Die Folgefrage lautet dann immer: Wessen Gerechtigkeitsempfinden zählt im Konfliktfall?

Berühmtes Beispiel: Die Sklaverei in den USA wurde gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Menschen abgeschafft.
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Liegestuhl »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:53)
Berühmtes Beispiel: Die Sklaverei in den USA wurde gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Mehrheit der Menschen abgeschafft.
Das stelle ich in Frage. Sklaverei war schon immer ungerecht. Man hätte einfach nur die Sklaven fragen müssen. Die Menschen wussten auch, wie Sklaverei moralisch einzuordnen war. Sie haben es lediglich erfolgreich verdrängt.
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Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Liegestuhl hat geschrieben:(08 Jan 2021, 16:27)

Das stelle ich in Frage. Sklaverei war schon immer ungerecht. Man hätte einfach nur die Sklaven fragen müssen. Die Menschen wussten auch, wie Sklaverei moralisch einzuordnen war. Sie haben es lediglich erfolgreich verdrängt.
Es geht nicht darum, wen man hätte fragen müssen, sondern allein um die Frage, ob das Recht hier der vorherrschenden Moral entsprach oder nicht. Und die Antwort lautet: Nein, es wurde hier ein Recht gegen die vorherrschende Moral geschaffen.

Es gibt auch umgekehrte Beispiele, wo die vorherrschende Moral der Mehrheit schon "weiter" ist. Klassisches Beispiel: Sterbehilfe. Wäre ein Arzt vor dem letzten Urteil des BVerfG wegen § 217 StGB verurteilt worden, hätte eine Mehrheit das Urteil als ungerecht empfunden, weil sie die Tat des Mannes gebilligt hätte.

So, dann noch ein Auszug aus dem von Fliege erwähnten Aufsatz von Erich Hilgendorf Recht und Moral. Hilgendorf schreibt zu Beginn:
Ausgangspunkt ... ist die Tatsache, dass im modernen Verfassungsstaat Recht und Moral nicht identisch sind. Die Durchsetzung der angeblich immer wieder angezweifelten Unterscheidung zwischen den beiden Normtypen gehört zu den großen rechtsstaatlichen Errungenschaften der letzten beiden Jahrhunderte.
Hervorhebung von mir.

Er zitiert dann wiederum die (auch auf Wiki unterm Stichwort "Rechtspositivismus" abrufbare Stllungnahme von John Austin:
Das Vorhandensein einer Rechtsnorm ist eine Sache; ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit eine andere. Ob sie besteht oder nicht, ist eine Frage; ob sie einer zugrundegelegten Idealvorstellung entspricht, eine andere. Ein bestehendes Gesetz ist auch dann Gesetz, wenn es uns nicht zusagt oder wenn es von dem Kriterium abweicht, nach dem wir unsere Billigung oder Mißbilligung orientieren.
Das vielleicht mal nur so als Hinweis, wie das in Deutschland in etwa gilt, wobei natürlich heftig gestritten wird, u.a. über die von Vongole oben erwähnte Radbruchsche Formel.
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Aldus »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 16:41)
Er zitiert dann wiederum die (auch auf Wiki unterm Stichwort "Rechtspositivismus" abrufbare Stllungnahme von John Austin:

"Ein bestehendes Gesetz ist auch dann Gesetz, wenn es uns nicht zusagt oder wenn es von dem Kriterium abweicht, nach dem wir unsere Billigung oder Mißbilligung orientieren."
Dieser Grundsatz hat in einer Demokratie aber nur eine sehr bedingte Berechtigung. Sie verschwindet nämlich genau dann, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung ein Gesetz oder eine bestimmte Rechtspraxis als im Grunde ungerecht ansieht. Bleibt eine derartige Rechtspraxis dann trotzdem weiter bestehen (z.B. unter "zuhilfenahme" obiger Aussage) leidet die Demokratie. Folge: Der Respekt vor dem Rechtsstaat - der nicht mehr als solcher emfpunden wird, schwindet.

Mit der einfachen Aussage "ein Gesetz ist auch dann Gesetz, wen es uns nicht zusagt", ist es in einer Demokratie also nicht getan. Entscheidend muß sein, wie groß die Menge "uns" ist. Ich halte es dabei im übrigen auch für schädlich, sich bei offensichtlicher Unzufriedenheit einer relevanten Mehrheit mit einer derartigen Rechtspraxis hinter rechtstheoretischen Abhandlungen "verstecken" zu wollen. Was gerade im Bereich der Juristen nur zu oft geschieht.
"Nur eine Maschine kann eine Maschine verstehen." - Alan Turing
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Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Aldus hat geschrieben:(08 Jan 2021, 17:10)

Dieser Grundsatz hat in einer Demokratie aber nur eine sehr bedingte Berechtigung. Sie verschwindet nämlich genau dann, wenn eine Mehrheit der Bevölkerung ein Gesetz oder eine bestimmte Rechtspraxis als im Grunde ungerecht ansieht. Bleibt eine derartige Rechtspraxis dann trotzdem weiter bestehen (z.B. unter "zuhilfenahme" obiger Aussage) leidet die Demokratie. Folge: Der Respekt vor dem Rechtsstaat - der nicht mehr als solcher emfpunden wird, schwindet.
Dann haben wir jetzt zwei zunächst einmal ganz unterschiedliche Meinungen, nämlich Ihre und die nachfolgende:
Eulenwoelfchen hat geschrieben:(08 Jan 2021, 10:54)

[...] Meine Beurteilung verbindet lediglich mein Bauchgefühl mit meiner Ratio zu einem Gleichklang, der Gerechtigkeit als völlig untauglich für die Rechtssprechung eines modernen Rechtsstaates ansieht.

Die diesbezüglichen Erklärungen hinsichtlich der archaischen Zuckungen, zu denen auch das sog. Gerechtigkeitsempfinden und dessen Befriedigung - neben dem Verlangen nach Vergeltung/Rache - gehört, habe ich im Todestrafenthread bereits erläutert und werde das hier nicht nochmals tun.
Aldus
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Aldus »

Und? Muß ich dann wohl mit leben, oder?
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von BlueMonday »

Stoner hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:44)

Ja, das Recht entsteht nicht in einem leeren, von aller Moral unbeeinflussten Juristenkopf, kein Widerspruch. Der Norm geht natürlich immer etwas voraus, manche Normen verlangen ja sogar eine Auffüllung durch moralische Vorstellungen der Zeit (etwa die sog. "guten Sitten"). Aber wenn die Norm besteht, dann findet ein Verfahren auf der Basis dieser Norm statt, der Richter urteilt nach dieser Norm, dem berühmten "Buchstaben des Gesetzes". Er darf nicht anders urteilen in diesem Fall, das ist das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit (in der Praxis hatten wir das zuletzt bei den milden sog. Raserurteilen). Daher hadern wir eigentlich mit der zugrundeliegenden Norm, wenn wir das Urteil ungerecht empfinden, oder aber wir verteidigen die zugrundeliegende Norm, wenn wir es gerecht empfinden.
Aber für den Freispruch im vorliegenden Falle gibt es offenbar auch ein Rechtsempfinden, das sogar anderes Empfinden überstimmt. Also bemerkenswert wäre hier vor allem ein Jurist (oder auch ein exekutierender Polizeibeamter), der bestehendes Recht - gerade in diesem grundsätzlichen Bereich - und sein Rechtsempfinden nicht zur Deckung bringt. Dann wäre er vielleicht besser Politiker geworden. Und spätestens dann wird man hierzulande auf Widerstand stoßen, wenn man meint, aus Folter erpresste Geständnisse strafrechtlich verwerten zu wollen, also die Gesetzeslage entsprechend verändern zu wollen. Im Grunde geht es bei v. Schirach gar nicht um das rechtsprechende Gerichthalten, sondern um die Ergebnisse des Rechtsbildungsprozesses zuvor, die wieder auf den Prüfstein gelegt werden, indem auch Affekte wieder angeregt werden.
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Fliege »

Aldus hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:43)

Exakt. Aber da kommt eben der springende Punkt: Sollte ein juristisches System nicht gerecht sein? Sollten Gerechtigkeitsempfinden und Rechtsprechung nicht übereinstimmen? Ich persönlich denke, ja.
Setzt deine Übereinstimmungsforderung nicht voraus, dass das Gerechtigkeitsempfinden mehrerer bis vieler Menschen gleichgerichtet sein müsste, um Gerechtigkeitsempfinden und Rechtsprechung in Einklang bringen zu können?

Dagegen verweist BlueMonday auf den Umstand, dass das Gerechtigkeitsempfinden verschiedener Menschen miteinander in Konflikt stehen kann (und gemäß der Abstimmungsergebnisse zum Schirach-Beispiel auch steht), was eine Konfliktstrategie erforderlich macht.
BlueMonday hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:12)

Nur dass dieses Bedürfnis auf Gefühlskonkurrenz trifft, eben in Gestalt der Abneigung gegen Folter, "Rübe ab", Rache etc.
Die Rechtssetzung oder gebung ist ja ein politischer Vorgang, also etwas, das aus der Auseinandersetzung verschiedener affektgetriebener Standpunkte hervorgeht."
Und weiter:
BlueMonday hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:12)

Recht ist nichts anderes als in Gedankenzeichen erstarrter, geronnener, abgekühlter Affekt.
Auf solche Gerinnungsprozesse kommt es an, wobei, das ist nun mein Eindruck, naives und affektgeladenes Gerechtigkeitsempfinden nicht gerinnungsfördernd wirkt (da taugt schon eher der von Vongole angeführte Spiegel-Jurist).
"Unsere Erde ist vielleicht ein Weibchen." – "Da der Mensch toll werden kann, so sehe ich nicht ein, warum es ein Weltsystem nicht auch werden kann" (Georg Christoph Lichtenberg).
Eulenwoelfchen

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Eulenwoelfchen »

Vongole hat geschrieben:(08 Jan 2021, 15:41)

....

Thomas Fischer hat das Experiment der ARD sehr treffend zerrissen:
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/ ... b04fc149b7
Zitat aus dem Spiegel -Artikel des gelernten Juristen, fast möchte man sagen, Folterexperten:

Tatsächlich ist die Behauptung grob falsch, wonach Folter kein geeignetes Mittel der Wahrheitserforschung sei – angeblich, weil gefolterte Menschen bereitwillig alles sagen und tun, um dem Schmerz zu entkommen. Wäre es derart simpel, hätte man schon vor langer Zeit wegen Ungeeignetheit mit dem Foltern aufgehört. Es ist eine abwegige Behauptung, jahrhundertelang hätten die Folterspezialisten aller Länder ganz übersehen, dass man unter der Folter lügt. Wer das glaubt, mag sich einmal ein wenig mit den Regeln der Folter im frühneuzeitlichen Inquisitionsprozess befassen. Folter ist ein hochwirksames und sehr zuverlässiges Mittel zur Wahrheitserforschung. Voraussetzung ist, dass der Folterer nicht ein schwachköpfiger Sadist, sondern ein intelligenter Polizist ist, der über Foltern hundertmal mehr weiß als jeder Gefangene und erst recht als jeder Filmzuschauer.

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Die hier höchst diskutable Folterthese des Herr Fischer ist bsonders beachtenswert, weil Sie u.a. zentraler Punkt seiner Demontage des Herrn von Schirach ist. Den Fischers gesamter Artikel in summa ohnehin als einen juristischen Dilettanten und allenfalls gerissenen Manipulateur zu eigenen Ansehenszwecken darstellt. Natürlich im Verbund mit einem ÖRR, der diesen Winkeladvokaten von Schirach blindlings hinterherdackelte, zur besten Tatortzeit, die allein dadurch schon das Ergebnis vorwegnahm. Logisch, in den Tatorten werden ja serienweise die Ermittlungsleitbilder der erfolgreichen Folter incl. aus Versehen Verdächtigter gezeigt, die leider etwas Pech hatten, weil sie leider auf die Nase bekamen und trotzdem nichts wussten.

Was Herr Fischer unterschlug, ist der Fakt, dass in keiner der Versionen der Zuschauer der gefolterte Verdächtige tatsächlich als agierender Täter zu identifizieren war. Es ist schlicht eine unzutreffende Behauptung, leider auch von Herrn Fischer, dass die Zuschauer ein besseres und gesicherteres Wissen hatten, das über die Vermutung/Intention des unwissenden Kommissars hinausging.

Die Folterszene zeigte nämlich nur, wie der Gefolterte nach dem fortgesetzten Waterboarding den Aufenthaltsort des Opfers nannte und der Kommissar dann sofort das SEK mit zitternden Händen alarmierte. Kein Wort davon, dass der vermeintliche Täter die Entführung gestanden hatte, die dann letztlich zum Tod des Mädchens führte, was der Täter ebenfalls nicht wusste.

Die Behauptung des besseren Täterwissens (der Zuschauer) basierte auf der vorweggenommenen Behauptung des Kommissars gegenüber dem Strafverteidiger, dass der Täter die Tat gestanden habe und es für den Verteidiger aussichtslos sei, den Täter zu verteidigen. Die Frage, ob das Geständnis des Täters, das in für niemanden näher einsehbaren Vernehmungsprotokoll auch tatsächlich ein Tatgeständnis war, dass dem Täter nach der Nennung des Tatorts etwaig untergejubelt wurde, indem ihm suggeriert wurde, dass mit der Tatortnennung seine Täterschaft ohnehin erwiesen sei, blieb ebenfalls offen.

Ebenso wurde der Täter nie mit dem Gesicht gezeigt, weder, als er sich auszog und dann den Ford Transit samt Kleidung in Brand setzte und keine Beweismittel zurückließ, als auch bei der Entführungstat des Mädchens war für den Zuseher klar, wer der Täter sei. Der ausserdem bei seiner Anwesenheit am Tatort, als er dem Mädchen die Fesseln abnahm und ihr sogar das Heizen mit Briketts zeigte, kein Wort sprach. Also auch eine etwaige Sprachidentifizierung für die Zuschauer nicht möglich war.

Von einem klaren Täterwissen der Zuschauer kann also nirgendwo die Rede sein.

Natürlich hatte der Film Schwächen und vieles von dem, was Herr Fischer anmerkte, war richtig und zutreffend, aber leider nicht alles und sogar Entscheidendes.

In einer, wenn nicht der entscheidende Punkt gipfelt leider in Fischers ungeheuerlicher Behauptung, das Folter ein geradezu erwiesenes und sehr verlässlichste Mittel der Wahrheitsfindung sei. Sofern man diese über Jahrhunderte bewiesene Handwerkskunst nur Fachleuten mit ausreichender Intelligenz und Knowhow überließe.

Selbstverständlich, Herr Fischer, gequälte Hexen des Mittelalters haben ihre Hexenexistenz irgendwann gestanden, und wurden dann auch erwiesene Täterinnen zurecht verbrannt. Und diese tatsächliche Wahrheit der Hexenexistenz und satanischer Gottesleugnung usw. haben die Folterexperten auch tatsächlich herausbekommen. Daß es damals wie heute für Herrn Fischer noch Hexen gibt, ist nicht ganz auszuschließen wie es scheint.

Stellt sich nur die Frage, ob sich der Gesetzgeber mit einem so unvollkommenen, folterlosen Gesetzes- und Rechtsrahmen für Ermittler und Richter nicht der fahrlässigen Gerechtigkeitsignoranz schuldig macht? Weil er das beste Mittel der Wahrheitsfindung, die Folter verbietet. Statt sie endlich wieder zu erlauben. Das Argument Fischers, dass es auch Unschuldige treffen könne, kann ja wohl Fischers Aussage nach kein Grund sein, davon abzusehen. Denn seine Spezialisten sind schlau und finden natürlich recht schnell heraus, ob einer lügt oder die Wahrheit sagt, z.B. "nix wissen, Massa Fischer, ganz ährlich!".

Wie sagte Präsident Trump erst jüngst: "waterboarding works".
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Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von BlueMonday »

Scheint recht bräsig und übellaunig zu sein, dieser Herr Fischer. Will etwas verreißen, das er offensichtlich gar nicht richtig gesehen hat. Dabei geht es wohl eher um eine persönliche Animosität mit dem "Dichter" von Schirach. Dem Jüngeren die Leviten lesen.
Und dann dieses krampfhafte Hinlenken zum realen Fall Gäfgen, der ihm wohl präsenter ist als der Film, den er bestenfalls nur mit einem halben Auge gesehen hat. Nein, wir haben es hier mit einem fiktiven Fall in einem Film zu tun, der allenfalls von der Realität inspiriert ist. Und damit auch mit künstlerischer Verdichtung, Reduktion, Stilisierung, bewusster Konstruktion, die im Gestaltungsbereich des Filmemachers, des Erzählers eines fiktiven Falls liegt.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
Stoner

Re: Schirachs Feinde: Gerechtigkeitsempfinden vs. Rechtsstaatlichkeit

Beitrag von Stoner »

Fischer ist halt Fischer. Früher schrieb er in der ZEIT, dann ging er zum Spiegel. Ob er dort so oft verstanden wird mit seinen für dieses Format und die Plattform überlangen Artikeln?

Sei's drum, zum Tagesabschluss heute nur eine Anmerkung zu einem Punkt noch aus seinen Überlegungen:
Wer den des Mordes verdächtigen Herrn G. »moralisch« foltern lassen will, müsste auch zustimmen, dass er selbst gefoltert wird, sein Ehepartner oder Kind. Man kann die Folter nicht aus immanenten Gründen der »Ungeeignetheit« und nur mühsam aus überzeitlichen Gründen der Moralphilosophie ablehnen. Es geht um die Staatsverfassung und die Grundlagen der Demokratie.
Da begibt er sich mit dem Einleitungssatz auf die Ebene, die er eigentlich ablehnt. Denn aus dieser Sicht müsste er nun aus den Gründen der Staatsverfassung auch zustimmen, dass seine Frau oder sein Kind dann irgendwo im Wald in der Kiste unter der Erde ersticken. Und ob er die Staatsverfassung dann in dem Augenblick seinem Kind oder seiner Frau vorziehen würde?

Soll heißen: Jeder sieht abstrakte Dinge aus der Betroffenenperspektive immer nur aus emotionaler Sicht. Das gehört zur conditio humana, sonst wäre die Evolution ohne uns weitergegangen. Der Gegeneingangssatz würde dann lauten: Wer den des Mordes verdächtigen Herrn G. »staatsverfassungstechnisch« nicht foltern foltern lassen will, müsste auch zustimmen, dass er selbst, sein Ehepartner oder Kind als Opfer in einer Kiste jämmerlich ersticken, während der Täter schweigt.

Die Einleitung des Abschnitts hätte er sich besser gespart.
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