Billie Holiday hat geschrieben:(22 Apr 2021, 07:00)
Deine Story mag wahr sein.....ich glaube sie so nicht.
Meine "Story" habe ich hier ja auch nur grob gefasst. Kann verstehen, wenn man sie so nicht glaubt - würde ich vielleicht auch nicht an deiner Statt. Es gibt ja auch noch etliche Details zu berücksichtigen, aber ich habe keine Lust, deswegen einen Roman zu schreiben.
Ich (und mein älterer Bruder) waren im Grunde auch nie "angepasst", weil mein Vater es nicht war. Er ist nicht nur selbstständiger, sondern auch eigensinniger Natur. Das hat man uns ansehen können und im Umgang mit uns auch verdeutlicht bekommen.
Die Nachbarschaft hat sich über uns nicht nur deswegen die Mäuler zerissen. Kleiner Auszug:
- Wie kann es sein, dass ein Ingenieur arbeitslos ist, aber Eigentümer einer Mehrzimmerwohnung sein kann, während jene, die in Lohn und Brot stehen, sich Wohnungseigentum niemals leisten könnten? Da stimmt doch was nicht!
- Wie kann es sein, dass da einer, der angeblich Ingenieur ist und somit viel Geld verdient hat, sich mit einen ausgedienten, rostig-klapprigen Citroen zufrieden gibt, statt mit einem hochklassigen Neuwagen? Geschmack- und würdelos!
- Wie kann es sein, dass der Vater einen unübersehbaren Wohlstandsbauch hat, seine beiden Jungs aber klapperdürr sind? Der Alte frisst bestimmt alles selber! Die armen Kinder!
Dazu kam bspw. noch, dass mein älterer Bruder sich zu jenen Zeiten in einer extremen pubertären Rebellenphase befand (welche durch den Tod unserer Mutter wohl noch verstärkt wurde) - er wusch sich nicht mehr die Haare, ließ sie wild wachsen, lief insgesamt immer gothicartiger rum, beschallte die Nachbarschaft mit seiner Hardrock-Mucke, vernachlässigte die Schule, schleppte Mädels ab, schlug sich die Nächte um die Ohren, gründete eine Kellerband, prügelte sich mit Möchtegern-Nazis rum... mein Vater ließ ihn, aber hatte alles immer im Blick. Am Ende waren die Ängste vor dem "Schrecken der Nachbarschaft" eben doch nur eine (intensive) Phase. Abschließend standen nur erzürnte Lehrer und Nachbarn mit Wortfindungsstörungen zu Protokoll. Ärger mit dem Gesetz hatte mein Bruder nie, er nahm auch nie Drogen usw. Seine laute Mucke und das Rauchen in seinem Zimmer sorgten immer wieder mal für Stress mit unserem Vater. Das war's.
Und ich war halt ein neugieriges, unbekümmertes (deswegen für die Nachbarn "freches") Bürschle. Ich habe mich bspw. auf's Fahrad gesetzt und Ort und Gegend erkundet. Ich bin nicht wie die anderen Kinder auf Geheiß der Mütter in unmittelbarer Rufweite geblieben. Ich habe gemacht, was ich mit zutraute und habe gesagt, was ich dachte. Vielmals ganz allein, eben, weil man in der Regel gleichaltrigen Nachbarskindern den Umgang mit mir verbot. Und wenn sich doch einer traute, mit mir auf Tour zugehen und erwischt wurde, war das Drama und die Schimpfe natürlich riesengroß. Nur nicht bei mir.
Ich kann mich lebhaft daran erinnern, dass die Nachbarsmütter mir immer wieder, wenn ich sie zuvor freundlich grüßte, eine verächtliches "Geh' zum Papa!" entgegneten (zu verstehen als "Geh' zum Teufel!"). Nur bei dem Omis in der Nachbarschaft war ich sehr beliebt: Sie schickten mich zum Wegbringen ihres Altpapiers oder sonstigem und ich verdiente mir damit die eine Tafel Schokolade oder die andere Mark. Es ging mir sehr gut, ich hatte trotzallem eine schöne Kindheit. Aber halt keine übliche, sondern eine besondere.
Ausschlaggebend war auch, dass mein Vater, mein Bruder und ich familiär ganz allein dastanden - wir hatten keine Verwandschaft im Ort, weder in der Region = durch die Krankhiet meiner Mutter zogen wir Ende der 80er an den westlichen Rand des Schwarzwaldes, gebürtig/beheimatet sind wir jedoch in der Grenzregion von BaWü & Bayern. Wir sprechen demnach auch einen ganz anderen Dialekt, als die Hiesigen, waren demnach wohl gleichwertig wie Ausländer.
Das Viertel, wo wir nach dem Tod meiner Mutter hinzogen, war generationenübergreifend durchzogen; die Nachbarskinder hatten nur wenige Meter bis zu Großeltern, Tanten, Onkel usw. Und wir waren konfessionslos, ungläubig - in einer erzkatholisch geprägten Wohngegend.
"Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man sollte nicht darauf sitzen." Erich Kästner