Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

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odiug

Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von odiug »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 09:49)

Ist ja gut so. Inwiefern es den kategorischen Imperativ "gibt", wäre eine spannende Frage. Wenn Sie ihm anhängen, würden Sie beide Fragen bejahen.Allerdings schließt Kant dann Handeln aus Neigung als nicht zureichend aus.

Die Frage des Naturells finden Sie wiederum bei strikten Anti-Kantianern. Sie können dem natürlich folgen, nur sind Ihre moralischen Werturteile dann halt lediglich Ausdrücke Ihrer Idiosynkrasien. Sie müssen sich rationale, moralfreie Argumente suchen, warum der gemeine Landbewohner sich den Vorstellungen von Urbanität und Liberalität beugen sollte, wenn sein Naturell Ihrem Naturell entgegensteht.
Es gibt eine Variante des kantschen, kategorischen Imperativs des Australiers Jim Jeffries, die in ihrem Anspruch weit weniger hochtragend und viel praxisnäher ist: "don't be a dick!"
Diese Lebensregel vermeidet lange Diskussionen unter Erbsenzähler :D
Ansonsten finde ich die Diskussion um Werte hier reichlich unangebracht, da Deutschsein kein Wert für sich ist, sondern nur einen Wert an sich hat, für Leute, die darauf einen Wert legen aus welchen Gründen auch immer.
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Concrete hat geschrieben:(30 Nov 2020, 19:58)

Die Haltung ist ja insofern nachvollziehbar, wenn man sich den Nationalismus der 1910er, 1920er anschaut, der sorgte ja dafür das man sich in Europa Millionenfach umbrachte.
Rein Faktisch haben wir einen Ungarn, der in Ungarn gegen "den Ungarismus" wettert, dann in die USA zieht und dort Ungarische Folklore mit Jazz Elementen komponiert.

Im 21 Jhrdt. könnte Nationalismus, aber gespaltene Gesellschaften einen, indem man sich klar macht, "in welchem Team man spielt".

Dieses "Weltbürgertum" ist doch nur eine Fantasterei, eine Flucht vor Verantwortung.

Wie einfach ist es zu sagen ich bin Weltbürger.

Aber wer rettet denn Max Mustermann, der im Jemen entführt wird?
die UNO?
Diplomatische Vermittlungsbemühungen. Was denn sonst?

Die politische Entwicklung vollzieht sich entlang von Interessenswahrnehmungen. Das muss man sich erst mal klarmachen. "Nation" ist ebenso wie etwa die "Befreiung der Arbeiterklasse" oder auch die "Sache des palästinensischen Volks" eine Erzählung fürs Volk. Für die Dummen und Willigen. Beziehungsweise für die Dummen unter den Gegnern.

Bereits vor rund 800 Jahren (!) hat der jüdische Philosoph, Gelehrte, Kosmopolit und Rabbiner Maimonides, der auch als "Zweiter Moses" bezeichnet wird, erkannt: Die Texte sowohl der Bibel wie die des alten Testaments und wie die des Korans sind Erzählungen fürs Volk. Die, die das durchschauen, setzen an diese Stelle ein direktes Verhältnis zu Gott. Ich vemrute mal, 800 Jahre später hätte dieser kluge Mann anstelle "direktes Verhältnis zu Gott" von "Wissenschaft" gesprochen.

Dinge wie Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Handelsfreiheit, Demokratie, Pressefreieheit usw. sind, wenn man so will, Lösungen einer Optimierungsaufgabe. Wirtschaftsunternehmen funktionieren optimal unter diesen Bedingungen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Stoner »

odiug hat geschrieben:(01 Dec 2020, 10:05)

Es gibt eine Variante des kantschen, kategorischen Imperativs des Australiers Jim Jeffries, die in ihrem Anspruch weit weniger hochtragend und viel praxisnäher ist: "don't be a dick!"
Diese Lebensregel vermeidet lange Diskussionen unter Erbsenzähler :D
Ansonsten finde ich die Diskussion um Werte hier reichlich unangebracht, da Deutschsein kein Wert für sich ist, sondern nur einen Wert an sich hat, für Leute, die darauf einen Wert legen aus welchen Gründen auch immer.
Ja, man findet immer das unangebracht, das man nicht versteht oder die eigene Position im moralischen Diskurs gefährdet. ;)

Es lohnt sich eben, wenn man die Ausgangsfrage betrachtet, die Grundlage seines moralischen Urteilens zu kennen bzw. zu verstehen - und damit auch das des anderen. Und wenn wer von Gefühlen oder Neigungen oder Naturell , also reinen subjektiven Präferenzen ausgeht, kann er keinen objektiv gültigen moralischen Grund dafür angeben, warum ein Nazi ein schlechterer Mensch sein soll als er selbst oder, im Umkehrfall, ein besserer. Und wer von objektiven Werten oder objektiv gültigen Werturteilen ausgeht, um auf die Ausgangsfrage eine begründete Antwort zu finden, der muss das zeigen können. Ich prognostiziere mal: Er wird scheitern.

Das Dilemma der eigenen, subjektivistischen, naturellgestützten Urteilsgrundlagen konnte man ja am letzten Beitrag der Userin Selina exemplarisch studieren. Was zu der Erkenntnis führt: Wer sein Rechthaben nicht auf reine Willkür oder den Zufall, ob man machttechnisch auf der Mehrheits- oder Minderheitsseite steht, stützen möchte, sollte nach besseren Gründen suchen. Und die werden ganz bestimmt nicht im Feld subjektiver moralischer Werturteile liegen. Denn mit denen kann man alles machen: Leute als nicht zu Deutschland gehörend bezeichnen, die Todesstrafe einführen, einen Nazi-Terroristen foltern, Muslime irgendwo "nach Hause" karren - einfach alles. Man braucht jeweils nur genügend, die ebenso fühlen.
Zuletzt geändert von Stoner am Di 1. Dez 2020, 11:20, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitrag von schokoschendrezki »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 09:55)

Versteh ich nicht. Die CDU hat einen konservativen Markenkern, so wie ein Unternehmen irgendeine DNA zu haben behauptet. Metaphorische Hundehaufen, die irgendwo von irgendwelchen Marketing- und/oder PR-Spezialisten entworfen werden. Da käm ich aus dem Schaudern nicht mehr raus.

Einen Satz noch zur Abhängigkeit: Hannah Arendt, von der Sie lange einen Satz als Signatur hier trugen, hat genau diese Abhängigkeit des Menschen gegen Sartres Ansatz des völlig losgelösten Selbstentwurfs ins Feld geführt.
Der Satz von Hannah Arendt war leider nicht korrekt zitiert. Eine der negativen Folgen der allgegenwärtigen Internetverfügbarkeit besteht darin, dass ständig und überall nicht korrekt belegbare Zitate auftauchen. Sobald ich den Originaltext aus einer Originalausgabe habe, stelle ich den wieder ein.

Aber was gibts zu diesem - richtig! - politischen Marketingkonzept "Werteunion" nicht zu verstehen? Sind wir da nicht eher einer Meinung?

Und nochmal: Der Kantsche kategorische Imperativ: Das ist etwas, das mich wirklich begeistert und insofern einen Wert für mich darstellt. Weil er unabhängig formuliert ist. Abstrakt. Axiomatisch. Nicht an den Wertekanon irgendwelcher Religionen, Nationen oder Kulturkreise gebunden. Unabhängig auch von seinem Urheber. Denn Kant selbst war bekannterweise und selbst auch gemessen an seiner Zeit ein ziemlicher Rassist und insofern der personifizierte Widerspruch zu seiner eigenen philosophisch moralischen Aufklärungsmaxime.
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von odiug »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:17)

Ja, man findet immer das unangebracht, das man nicht versteht oder die eigene Position im moralischen Diskurs gefährdet. ;)

Es lohnt sich eben, wenn man die Ausgangsfrage betrachtet, die Grundlage seines moralischen Urteilens zu kennen bzw. zu verstehen - und damit auch das des anderen. Und wenn wer von Gefühlen oder Neigungen oder Naturell , also reinen subjektiven Präferenzen ausgeht, kann er keinen objektiv gültigen moralischen Grund dafür angeben, warum ein Nazi ein schlechterer Mensch sein soll als er selbst oder, im Umkehrfall, ein besserer. Und wer von objektiven Werten oder objektiv gültigen Werturteilen ausgeht, um auf die Ausgangsfrage eine begründete Antwort zu finden, der muss das zeigen können. Ich prognostiziere mal: Er wird scheitern.

Das Dilemma der eigenen, subjektivistischen, naturellgestützten Urteilsgrundlagen konnte man ja am letzten Beitrag der Userin Selina exemplarisch studieren. Was zu der Erkenntnis führt: Wer sein Rechthaben nicht auf reine Willkür oder den Zufall, ob man machttechnisch auf der Mehrheits- oder Minderheitsseite steht, stützen möchte, sollte nach besseren Gründen suchen. Und die werden ganz bestimmt nicht im Feld subjektiver moralischer Werturteile liegen. Denn mit denen kann man alles machen: Leute als nicht zu Deutschland gehörend bezeichnen, die Todesstrafe einführen, einen Nazi-Terroristen foltern, Muslime irgendwo "nach Hause" karren - einfach alles. Man braucht jeweils nur genügend, die ebenso fühlen.
Jeder Versuch Moral zu objektivieren muss scheitern.
Ansonsten wäre es ja auch zu einfach ... Die guten ins Körbchen, die schlechten ins Kröpfchen und die Sache ist erledigt :p
Moralische Urteile sind immer subjektiv, besten Falls intersubjektiv.
Insofern ist dein Versuch, ein Absolutes zu postulieren, dass allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann ebenso zum scheitern verurteilt.
Das gesagt bedeutet aber nicht, dass moralische Urteile, nur weil sie nicht absolut sind, keinen Wert haben.
Stoner

Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:18)

Der Satz von Hannah Arendt war leider nicht korrekt zitiert. Eine der negativen Folgen der allgegenwärtigen Internetverfügbarkeit besteht darin, dass ständig und überall nicht korrekt belegbare Zitate auftauchen. Sobald ich den Originaltext aus einer Originalausgabe habe, stelle ich den wieder ein.
Ich schau auch mal nach. Gefunden hatte ich den Hinweis in Eilenbergers "Feuer der Freiheit", vielleicht ist die Quelle auch angegeben, sodass man es im Kontext nachlesen kann. (Das Buch kann ich übrigens, ganz anders als "Die Zeit der Zauberer" nicht empfehlen. Es ist sauschlampig lektoriert und korrigiert, und inhaltlich ziemlich fad. Kein Vergleich zum Vorgängerwerk.
schokoschendrezki hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:18)
Aber was gibts zu diesem - richtig! - politischen Marketingkonzept "Werteunion" nicht zu verstehen? Sind wir da nicht eher einer Meinung?
Abgesehen davon, dass ich sowieso nicht wähle: Die CDU käme schon des "C" wegen niemals in Frage, egal welchen "Kern" sie sich anphilosophiert.

schokoschendrezki hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:18)
Und nochmal: Der Kantsche kategorische Imperativ: Das ist etwas, das mich wirklich begeistert und insofern einen Wert für mich darstellt. Weil er unabhängig formuliert ist. Abstrakt. Axiomatisch. Nicht an irgendwelche Kulturkreise oder Wertsysteme gebunden. Unabhängig auch von seinem Urheber. Denn Kant selbst war bekannterweise und selbst auch gemessen an seiner Zeit ein ziemlicher Rassist und insofern der personifizierte Widerspruch zu seiner eigenen philosophisch moralischen Aufklärungsmaxime.
Vielleicht kann man mal einen Kant-Experten hier überreden, den zu beleuchten. Ich kann vordergründig nur polemisch von meinem mageren Kant-Verständnis her sagen, dass ich die Prämisse seines Vernunftbegriffs überhaupt nicht teile, der aber Voraussetzung für den Sinn des Begriffs wäre. Hannah Arendt hat Eichmanns Einlassung, in der er sich auf den KI berief, als Hausgebrauch des kleinen Mannes bezeichnet, und diese Zweifelhaftigkeit hat ihren ersten Ehemann, Günther Anders, dazu veranlasst, den KI als tauglich auch für die KZ-Führung zu bezeichnen. Aber ich bin kein Kant-Experte, glaube lediglich nicht an seine von allen kontingenten Bedingungen freien Vernunft. Was er tatsächlich mit seinen Ansichten über "Neger" und indianische Eingeborene im Grunde konterkariert und damit widerlegt.
Stoner

Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Stoner »

odiug hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:34)

Jeder Versuch Moral zu objektivieren muss scheitern.
Ansonsten wäre es ja auch zu einfach ... Die guten ins Körbchen, die schlechten ins Kröpfchen und die Sache ist erledigt :p
Moralische Urteile sind immer subjektiv, besten Falls intersubjektiv.
Insofern ist dein Versuch, ein Absolutes zu postulieren, dass allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann ebenso zum scheitern verurteilt.
Das gesagt bedeutet aber nicht, dass moralische Urteile, nur weil sie nicht absolut sind, keinen Wert haben.
Können Sie eigentlich eine Beschreibung im Ernst nicht von einem Postulat unterscheiden? :? :mad2:

Herr Stoner postuliert ein Absolutes - you made my day man. :D :D :D

Wenn ich das wollte, dann würde ich mich Erich Fromm nennen, also nach einem der Vertreter einer "objektiven Moral", der auch heute gerne von manchen zitiert wird. :D

Ich fass es nicht, was man über sich lernen kann.

:dead:
Zuletzt geändert von Stoner am Di 1. Dez 2020, 12:27, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von schokoschendrezki »

odiug hat geschrieben:(01 Dec 2020, 10:05)

Es gibt eine Variante des kantschen, kategorischen Imperativs des Australiers Jim Jeffries, die in ihrem Anspruch weit weniger hochtragend und viel praxisnäher ist: "don't be a dick!"
Diese Lebensregel vermeidet lange Diskussionen unter Erbsenzähler :D
Ansonsten finde ich die Diskussion um Werte hier reichlich unangebracht, da Deutschsein kein Wert für sich ist, sondern nur einen Wert an sich hat, für Leute, die darauf einen Wert legen aus welchen Gründen auch immer.
Für praxisbezogen halte ich vor allem Überlegungen, was "Deutschsein" eigentlich heißt. So sehr ich allem Identitären misstrauisch gegenüberstehe ... mit der Muttersprache (oder in einigen Fällen auch mit den beiden oder möglicherweise auch noch mehreren Muttersprachen) ist der Mensch in einem Bereich seiner Denkstrukturen (von sicher fraglicher Größe) ein- für allemal und unverrückbar festgelegt. In allen anderen physiologischen Dingen gibts keine prinzipiellen Unterschiede. Die Hautfarbe etwa ist einfach eine Anpassung an die Sonnenlichtintensität. Aber die Muttersprache ... Ob ich ein Raum- oder Zeit-Verhältnis durch Voranstellung einer Präposition denke ("im Haus") oder durch Anfügung einer Endung ("házban") ... das ist nicht nur einfach ein formal-grammatischer Unterschied. Im ersten Fall gibt es gewissermaßen die offene Forderung eines Subjekts oder auch Gegenstands, das sich "im Haus" befindet ... im zweiten Fall gibt es die Annahme eines abstrakten Zustands des sich "im Haus befindens" ... auch ohne Subjekt. Die Annahme, dass das Haus einen anderen Zustand hat, wenn sich jemand oder etwas darin befindet. Hat das nun aber irgendeine politische oder gar moralische Implikation? Oder gibt das Anlass für irgendwelche unterschiedlichen Werturteile? Ich glaube nicht!
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Selina »

Stoner hat geschrieben:(30 Nov 2020, 19:44)

Genau - aber das steht nun wiederum in ziemlichem Widerspruch zu Ihrem Satz über die Verhältnisse.
Das selektive Zitieren ist eigentlich nicht meine Art. In diesem Fall mache ich mal ne Ausnahme, weil mich diese Bemerkung interessiert. Wenn ich sinngemäß schrieb, es hänge davon ab, was jeder aus seinem Menschsein mache, dann widerspricht sich das ganz und gar nicht mit der anderen Aussage von mir, dass in erster Linie die Verhältnisse bestimmten, wohin sich einer entwickelt. Nein, das sind zwei Seiten einer Medaille. Entwickelt sich einer beispielsweise zum Neonazi oder zum Kommunitaristen oder zum Kosmopoliten, dann geschieht das immer in bestimmten Verhältnissen, unter bestimmten Umständen (Sozialisation), die diese Entwicklung fördern und begünstigen. Aber selbstverständlich spielt es ebenso eine Rolle, wie der Einzelne mit den "prägenden" Momenten selbst umgeht. So gibt es bekanntlich auch Beispiele von völliger Abkehr Einzelner von dem, was ihm so vorgelebt wird und was ihn in Kindheit und Jugend "geprägt" hat.

Und was dieser diskutierte Gegensatz von Kommunitarismus und Kosmopolitismus anbelangt: Da ist mir das Weltbürger-Sein auch wesentlich sympathischer als das von Nation, Volk und "kultureller Identität" geprägte Gemeinschaftsdenken. Das Weltbürgerdenken, das alle Nationen, den "Erdkreis", die Internationalität mit einschließt und in dem es vor allem um das Wohlergehen aller Menschen geht (als Ziel), egal welcher Herkunft, finde ich liberaler und freier als das Denken, das sich ständig um "Volk und Vaterland", "kulturelle Identität", "das Eigene und das Fremde" dreht. Ersteres (Kosmopolitismus) ist einfach auch interessanter und offener und entspricht den vorhandenen Gegebenheiten (Wissenschaft, Forschung, Kunst, Kultur, weltweite Zusammenarbeit).
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:48)

Für praxisbezogen halte ich vor allem Überlegungen, was "Deutschsein" eigentlich heißt. So sehr ich allem Identitären misstrauisch gegenüberstehe ... mit der Muttersprache (oder in einigen Fällen auch mit den beiden oder möglicherweise auch noch mehreren Muttersprachen) ist der Mensch in einem Bereich seiner Denkstrukturen (von sicher fraglicher Größe) ein- für allemal und unverrückbar festgelegt. In allen anderen physiologischen Dingen gibts keine prinzipiellen Unterschiede. Die Hautfarbe etwa ist einfach eine Anpassung an die Sonnenlichtintensität. Aber die Muttersprache ... Ob ich ein Raum- oder Zeit-Verhältnis durch Voranstellung einer Präposition denke ("im Haus") oder durch Anfügung einer Endung ("házban") ... das ist nicht nur einfach ein formal-grammatischer Unterschied. Im ersten Fall gibt es gewissermaßen die offene Forderung eines Subjekts oder auch Gegenstands, das sich "im Haus" befindet ... im zweiten Fall gibt es die Annahme eines abstrakten Zustands des sich "im Haus befindens" ... auch ohne Subjekt. Hat das nun aber irgendeine politische oder gar moralische Implikation? Ich glaube nicht!
Keine politische, bei der moralischen würde es schwierig. Denken Sie mal an Fälle wie das Thailändische, das keinen Begriff in unserem Sinne für Nein kennt. Das hat moralische Implikationen - man muss es umschreiben. Das Chinesische ist oft sehr subjektarm, Ich muss, wenn ich etwas tue, mich nicht nennen, was wiederum zu einer ganz anderen Stellung des Subjekts in vielerlei Kontext führt. Und Moralisches wirkt mehr oder weniger direkt immer ins Politische durch.

Aber das wäre jetzt zu speziell.

Kurz zu Eilenberger und Arendt. Eilenberg zitiert zwei Passagen aus den EuU totalitärer Herrschaft. Er weist auf Arendts Einwand hin, wonach der erste Widerspruch der natürlichen "angeborenen Rechte" darin bestünde, dass diese Adressierung (Mensch an sich) "gerade mit der Natur des Menschen als eines gemeinschaftsgebundenen Wesens - das nur lokal und geschichtlich verankert und nur im Plural (Menschen) überhaupt als Mensch zu fassen ist - aufs Offensichtlichste unvereinbar sind" (Seite 125f). Die Stellen bei Arendts EuU finden sich ab Seite 605.

Die Stelle, wo Eilenberger sie direkt auf Sartre bezieht, finde ich auf die Schnelle nicht. Aber zumindest trifft das auch einen Punkt, den ich gestern schon in der Antwort an den User Blue Monday machte: "Gemeinschaft" geht dem Individuum, aber auch dem Staat voran. Deshalb hab ich auch eine gewisse Schwäche für manche kommunitarischen Ideen, weil die genau hier ansetzen in ihren Versuchen, den Staat möglichst außen vor zu halten.
Sören74

Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Sören74 »

odiug hat geschrieben:(01 Dec 2020, 10:05)

Es gibt eine Variante des kantschen, kategorischen Imperativs des Australiers Jim Jeffries, die in ihrem Anspruch weit weniger hochtragend und viel praxisnäher ist: "don't be a dick!"
Diese Lebensregel vermeidet lange Diskussionen unter Erbsenzähler :D
Hmm, es gibt Situationen, da muss man auch mal ein......*räusper* "dick" sein. :|
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Selina »

Eigentlich geht es dem Threadersteller um ein fehlendes Einwanderungsgesetz. Hab nur mal zurückgeblättert und einen entsprechenden Passus in den Diskussionen dazu gefunden.

Inzwischen gibt es aber ein solches Gesetz. Zumal Deutschland ja schon lange ein Einwanderungsland ist.

Zitat:

Das sind die wichtigsten neuen Regelungen

Das Einwanderungsgesetz: Wer gut ausgebildet ist, kann sich auch aus Ländern außerhalb der EU künftig auf einen Job in Deutschland bewerben. Wer einen Abschluss und eine Stellenzusage hat, kann kommen, um hier zu arbeiten. Die zweite Möglichkeit: Anerkannte Fachkräfte aus solchen Ländern können für zunächst sechs Monate einreisen, um in Deutschland einen Arbeitsplatz zu suchen – wenn sie selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen. Eine so genannte „Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“ findet nicht statt. Das Recht auf sechs Monate Aufenthalt, um sich in Deutschland Arbeit zu suchen, gibt es schon länger – jetzt allerdings sollen auch Menschen ohne Hochschulabschluss davon profitieren, die eine Berufsausbildung abgeschlossen haben.

Neue Chancen im Aufenthaltsrecht: Menschen, die nach dem Asylrecht in Deutschland nur geduldet sind, sich aber gut integriert haben und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, bekommen eine Bleibeperspektive. Denn es wäre weder gerecht noch sinnvoll, sie in ihre Herkunftsländer abzuschieben – und dann mit großem Aufwand ausländische Fachkräfte für die gleichen Jobs anzuwerben. Diese Regelung soll vor allem vielen kleinen und mittleren Betrieben helfen, die seit 2015 Geflüchtete ausgebildet haben und bislang fürchten mussten, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wieder ausgewiesen oder abgeschoben werden. Die Regelung ist begrenzt auf Menschen, die bis August 2018 eingereist sind und läuft 2023 aus.


Die Regelungen bei Abschiebungen: Wer nach rechtsstaatlicher Überprüfung kein Bleiberecht in Deutschland hat, muss wieder in seine Heimat zurückkehren. Für die Umsetzung kommen jetzt neue Regelungen: Unter anderem werden die Voraussetzungen für eine Abschiebehaft erleichtert und für eine Übergangszeit auch die Unterbringung in normalen Justizvollzugsanstalten ermöglicht – allerdings getrennt von Straftätern. Die Polizei soll außerdem das Recht bekommen, auf der Suche nach Ausreisepflichtigen Wohnungen zu durchsuchen.

Das Gesetzespaket wurde größtenteils am 7. Juni 2019 im Bundestag verabschiedet. Der Bundesrat wird voraussichtlich noch Ende Juni darüber entscheiden.


https://www.spd.de/aktuelles/einwanderungsgesetz/

https://www.bundesregierung.de/breg-de/ ... tz-1563122
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Selina »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:17)

Ja, man findet immer das unangebracht, das man nicht versteht oder die eigene Position im moralischen Diskurs gefährdet. ;)

Es lohnt sich eben, wenn man die Ausgangsfrage betrachtet, die Grundlage seines moralischen Urteilens zu kennen bzw. zu verstehen - und damit auch das des anderen. Und wenn wer von Gefühlen oder Neigungen oder Naturell , also reinen subjektiven Präferenzen ausgeht, kann er keinen objektiv gültigen moralischen Grund dafür angeben, warum ein Nazi ein schlechterer Mensch sein soll als er selbst oder, im Umkehrfall, ein besserer. Und wer von objektiven Werten oder objektiv gültigen Werturteilen ausgeht, um auf die Ausgangsfrage eine begründete Antwort zu finden, der muss das zeigen können. Ich prognostiziere mal: Er wird scheitern.

Das Dilemma der eigenen, subjektivistischen, naturellgestützten Urteilsgrundlagen konnte man ja am letzten Beitrag der Userin Selina exemplarisch studieren. Was zu der Erkenntnis führt: Wer sein Rechthaben nicht auf reine Willkür oder den Zufall, ob man machttechnisch auf der Mehrheits- oder Minderheitsseite steht, stützen möchte, sollte nach besseren Gründen suchen. Und die werden ganz bestimmt nicht im Feld subjektiver moralischer Werturteile liegen. Denn mit denen kann man alles machen: Leute als nicht zu Deutschland gehörend bezeichnen, die Todesstrafe einführen, einen Nazi-Terroristen foltern, Muslime irgendwo "nach Hause" karren - einfach alles. Man braucht jeweils nur genügend, die ebenso fühlen.
Jetzt holen Sie aber mächtig aus mit der Keule, um wieder mal auf die "Userin Selina" einzudreschen. Das erscheint mir eher als Reaktion auf paar wunde Punkte, die ich weiter oben ansprach. Worum es mir immer geht, und das sagte ich mehrfach klar und deutlich, ist die Menschlichkeit. Humanität. Mit Humanismus würde ich Sie ja nur quälen. Und das will ich ja nun auch wieder nicht :D Dass sich dieser Menschlichkeit immer noch die allermeisten Leute in diesem Land verpflichtet fühlen, sagt nichts anderes aus, als dass die Positionen der Neuen Rechten (mit allen ihren verschleiernden Spielarten) mit ihrem Ziel, die Demokratie abzuschaffen, kein Land gewinnen können. Und das ist auch gut so.
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von odiug »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 11:43)

Können Sie eigentlich eine Beschreibung im Ernst nicht von einem Postulat unterscheiden? :? :mad2:

Herr Stoner postuliert ein Absolutes - you made my day man. :D :D :D

Wenn ich das wollte, dann würde ich mich Erich Fromm nennen, also nach einem der Vertreter einer "objektiven Moral", der auch heute gerne von manchen zitiert wird. :D

Ich fass es nicht, was man über sich lernen kann.

:dead:
Na du verlangst doch von Selina, dass sie dir ein vernunftbegründetes, objektiviertes, moralisches Argument darbieten möge, dass auch den Neo Nazi überzeugt.
Und hier ist die Sache: das muss sie eben nicht.
Denn letztlich begründet sich alle Moral auf einem Dogma, einem Postulat, einer Setzung, dass der Mensch einen Wert an sich darstellt.
Also dass ihm kein wert an sich zugesprochen wird, sondern er diesen aus sich bereits hat.

Dieses Dogma lässt sich nicht mit der Vernunft begründen.
Wäre nun sehr deprimierend, aber es lässt sich auch nicht widerlegen.
Und genau das ist der Punkt.
Der Neo Nazi hat einen Wert an sich als Mensch, daher sollte ich ihn nicht foltern so sehr ich auch gerne würde.
Schlägt der Neo Nazi aber gerade einen syrischen Flüchtling auf der Straße tot, dann habe ich kein Problem mit dem finalen Rettungsschuss.
Denn es ist der Neo Nazi der das Dogma bricht und den Wert des Menschen für sich negiert, weswegen er auch jeglichen Wert für mich verliert.
Zuletzt geändert von odiug am Di 1. Dez 2020, 16:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 12:24)

Keine politische, bei der moralischen würde es schwierig. Denken Sie mal an Fälle wie das Thailändische, das keinen Begriff in unserem Sinne für Nein kennt. Das hat moralische Implikationen - man muss es umschreiben. Das Chinesische ist oft sehr subjektarm, Ich muss, wenn ich etwas tue, mich nicht nennen, was wiederum zu einer ganz anderen Stellung des Subjekts in vielerlei Kontext führt. Und Moralisches wirkt mehr oder weniger direkt immer ins Politische durch.

Aber das wäre jetzt zu speziell.

Kurz zu Eilenberger und Arendt. Eilenberg zitiert zwei Passagen aus den EuU totalitärer Herrschaft. Er weist auf Arendts Einwand hin, wonach der erste Widerspruch der natürlichen "angeborenen Rechte" darin bestünde, dass diese Adressierung (Mensch an sich) "gerade mit der Natur des Menschen als eines gemeinschaftsgebundenen Wesens - das nur lokal und geschichtlich verankert und nur im Plural (Menschen) überhaupt als Mensch zu fassen ist - aufs Offensichtlichste unvereinbar sind" (Seite 125f). Die Stellen bei Arendts EuU finden sich ab Seite 605.

Die Stelle, wo Eilenberger sie direkt auf Sartre bezieht, finde ich auf die Schnelle nicht. Aber zumindest trifft das auch einen Punkt, den ich gestern schon in der Antwort an den User Blue Monday machte: "Gemeinschaft" geht dem Individuum, aber auch dem Staat voran. Deshalb hab ich auch eine gewisse Schwäche für manche kommunitarischen Ideen, weil die genau hier ansetzen in ihren Versuchen, den Staat möglichst außen vor zu halten.
Das sind interessante Einwände und Eilenbergers "Feuer der Freiheit" ist dankenswerter Weise auch online lesbar. Schon das Inhaltsverzeichnis hört sich spannend und interessant an. Auch wenn ich fürchte, dass ich mit einem Leistungssportbegeisterten wie ihm arge Probleme haben werde.

Einstweilen setze ich einmal folgende Passage aus Goethes "Wahlverwandtschaften" (Teil II, Kapitel 7) dagegen. Wo er die Person des Nachfolgers des "Architekten" schildert. Schon in der anonymen Bezeichnung "der Gehülfe" drückt sich Goethes Verachtung für diese Art von Gemeinschaftlichkeitsverehrung aus. Das Interessante ist dann noch einmal der Blick des Verachteten auf die Frauen und der ihnen angedichtete natürliche Individualismus:
»Abwechselung ohne Zerstreuung wäre für Lehre und Leben der schönste Wahlspruch, wenn dieses löbliche Gleichgewicht nur so leicht zu erhalten wäre!« sagte der Gehülfe und wollte weiter fortfahren, als ihn Charlotte aufrief, die Knaben nochmals zu betrachten, deren munterer Zug sich soeben über den Hof bewegte. Er bezeigte seine Zufriedenheit, daß man die Kinder in Uniform zu gehen anhalte. »Männer«, so sagte er, »sollten von Jugend auf Uniform tragen, weil sie sich gewöhnen müssen, zusammen zu handeln, sich unter ihresgleichen zu verlieren, in Masse zu gehorchen und ins Ganze zu arbeiten. Auch befördert jede Art von Uniform einen militärischen Sinn sowie ein knapperes, strackeres Betragen, und alle Knaben sind ja ohnehin geborne Soldaten; man sehe nur ihre Kampf- und Streitspiele, ihr Erstürmen und Erklettern.«

»So werden Sie mich dagegen nicht tadeln,« versetzte Ottilie, »daß ich meine Mädchen nicht überein kleide. Wenn ich sie Ihnen vorführe, hoffe ich Sie durch ein buntes Gemisch zu ergötzen.«

»Ich billige das sehr,« versetzte jener. »Frauen sollten durchaus mannigfaltig gekleidet gehen, jede nach eigner Art und Weise, damit eine jede fühlen lernte, was ihr eigentlich gut stehe und wohl zieme. Eine wichtigere Ursache ist noch die, weil sie bestimmt sind, ihr ganzes Leben allein zu stehen und allein zu handeln.«

»Das scheint mir sehr paradox,« versetzte Charlotte;
Ja. Das scheint mir auch paradox. Bzw.: Wenn es sich tatsächlich so verhielte, so wollte ich lieber eine Frau sein denn ein Mann! Um es in der Sprache Goethes fortzuführen. Der Roman entstand Anfang des 19. Jahrhunderts. Es schieden sich die Geister. Die einen träumten von einem nationalen Erwachen. Die anderen, Frau Büchner, Frau Heine träumten dagegen.

Irgendwo weiter oben hat irgendein anderer Poltikforumsgehülfe auch darüber schwadroniert, dass die starken Nationen sich dadurch auszeichnen, dass man gewissermaßen zusammen und gemeinschaftlich "aufs Ganze geht".
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(01 Dec 2020, 15:58)

Das sind interessante Einwände und Eilenbergers "Feuer der Freiheit" ist dankenswerter Weise auch online lesbar. Schon das Inhaltsverzeichnis hört sich spannend und interessant an. Auch wenn ich fürchte, dass ich mit einem Leistungssportbegeisterten wie ihm arge Probleme haben werde.

Einstweilen setze ich einmal folgende Passage aus Goethes "Wahlverwandtschaften" (Teil II, Kapitel 7) dagegen. Wo er die Person des Nachfolgers des "Architekten" schildert. Schon in der anonymen Bezeichnung "der Gehülfe" drückt sich Goethes Verachtung für diese Art von Gemeinschaftlichkeitsverehrung aus. Das Interessante ist dann noch einmal der Blick des Verachteten auf die Frauen und der ihnen angedichtete natürliche Individualismus:


Ja. Das scheint mir auch paradox. Bzw.: Wenn es sich tatsächlich so verhielte, so wollte ich lieber eine Frau sein denn ein Mann! Um es in der Sprache Goethes fortzuführen. Der Roman entstand Anfang des 19. Jahrhunderts. Es schieden sich die Geister. Die einen träumten von einem nationalen Erwachen. Die anderen, Frau Büchner, Frau Heine träumten dagegen.

Irgendwo weiter oben hat irgendein anderer Poltikforumsgehülfe auch darüber schwadroniert, dass die starken Nationen sich dadurch auszeichnen, dass man gewissermaßen zusammen und gemeinschaftlich "aufs Ganze geht".
Die "Gemeinschaftsverehrung" sehe ich bei Hannah Arendt nicht - die natürliche oder herkömmliche Gemeinschaft wird ja erst im Staat sekundär. Und, so war Arendts Pointe, deshalb verliert der Mensch dann, wenn ein Staat ihn ausbürgert, auch seine Rechte, weil diese an die Herkunft aus einem Staat und nicht an ihn als das Kind einer über den Staat hinaus gehenden Gemeinschaft gebunden sind. Der Staatenlose wird dieses Vorbehalts wegen, der sich aus der Staatsgebundenheit des "Menschen"rechts ergibt, also gleichzeitig auch rechtlos. Daher waren ihr die Begriffe Volk und Nation, die Staatenbegriffe sind, auch nicht sympathisch.

Was den Goethe angeht, ist er eher so ein bisschen erstarrtes Cliché. Meine siebenjährige Nichte hat ein Barbiepuppenhaus mit 23 Puppen. 22 bunte Mädels und - ja den queeren Ken. Obs uniformierte männliche Exemplare gibt, weiß ich nicht.

Wir werden sicher mal bei Gelegenheit wieder drauf zurückkommen. Für diese Runde hab ich jetzt genug geschrieben und brauch wieder Abstand vom Diskursgeschäft.
odiug

Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von odiug »

Stoner hat geschrieben:(01 Dec 2020, 12:24)

Keine politische, bei der moralischen würde es schwierig. Denken Sie mal an Fälle wie das Thailändische, das keinen Begriff in unserem Sinne für Nein kennt. Das hat moralische Implikationen - man muss es umschreiben. Das Chinesische ist oft sehr subjektarm, Ich muss, wenn ich etwas tue, mich nicht nennen, was wiederum zu einer ganz anderen Stellung des Subjekts in vielerlei Kontext führt. Und Moralisches wirkt mehr oder weniger direkt immer ins Politische durch.

Aber das wäre jetzt zu speziell.

Kurz zu Eilenberger und Arendt. Eilenberg zitiert zwei Passagen aus den EuU totalitärer Herrschaft. Er weist auf Arendts Einwand hin, wonach der erste Widerspruch der natürlichen "angeborenen Rechte" darin bestünde, dass diese Adressierung (Mensch an sich) "gerade mit der Natur des Menschen als eines gemeinschaftsgebundenen Wesens - das nur lokal und geschichtlich verankert und nur im Plural (Menschen) überhaupt als Mensch zu fassen ist - aufs Offensichtlichste unvereinbar sind" (Seite 125f). Die Stellen bei Arendts EuU finden sich ab Seite 605.

Die Stelle, wo Eilenberger sie direkt auf Sartre bezieht, finde ich auf die Schnelle nicht. Aber zumindest trifft das auch einen Punkt, den ich gestern schon in der Antwort an den User Blue Monday machte: "Gemeinschaft" geht dem Individuum, aber auch dem Staat voran. Deshalb hab ich auch eine gewisse Schwäche für manche kommunitarischen Ideen, weil die genau hier ansetzen in ihren Versuchen, den Staat möglichst außen vor zu halten.
Also mit der Argumentation von Arendt-Eilenberger habe ich folgendes Problem: Der Polizeiknüppel staatlicher Gewalt prügelt nicht auf "die" Dissidenten" ein, sondern auf "den" Dissident.
Es ist das einzelne Individuum, dass blutend auf der Straße liegt und nicht ein Kollektiv, sozialer Status oder ideologische Zugehörigkeit.
Bogdan
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Bogdan »

Die Vorstellung von Multikulti ist unglaublich naiv. Man feiert das, aber lässt die Menschen, die da leben, dann einfach im Stich und kümmert sich nicht“, so der Islamwissenschaftler. Ein Systemfehler, sagen Experten: Vor allem in den 1970er und 80er Jahren waren Tausende aus dem Libanon vor dem dortigen Bürgerkrieg nach Deutschland geflüchtet. Die meisten erhielten nur einen Duldungsstatus, hatten damit keine Arbeitserlaubnis. Aus der Perspektivlosigkeit heraus entwickelten sich Schattenökonomien und manchmal auch Bandenkriminalität – und bei manchen eine Offenheit für radikale Ideologien.
https://www.merkur.de/politik/anti-isra ... 64167.html
Tja Abu-Chaka-Clan als Multi-Kulti. :?

Wobei ich dem Wissenschafter widersprechen. Parallelwelten entstehen nicht, sie sind da. Er soll in Berlin NRW und Co einfach die
entsprechenen Wohnviertel besuchen.
Wem Sachargumente fehlen, geht zu persönlichen Bemerkungen über. :?
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Re: Die deutsche Gesellschaft - wer gehört dazu, heute und morgen?

Beitrag von Misterfritz »

Bogdan hat geschrieben: Fr 10. Nov 2023, 13:57 Parallelwelten entstehen nicht, sie sind da.
Natürlich sind die irgendwann man mal entstanden, nichts anderes wurde gesagt.
Das Salz in der Suppe des Lebens ist nicht Selbstdisziplin, sondern kontrollierte Unvernunft ;)
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