yogi61 hat geschrieben:(15 Apr 2021, 10:23)
Zu den psychischen Beschwerden der Kinder traue ich mir ehrlich gesagt nicht zu, gross etwas zu sagen, weil das natürlich individuell ganz verschieden ist. Nur so viel. Es ist natürlich Aufgabe der Eltern und auch der Pädagogen mit den Kleinen zu sprechen und ihnen auch Mut zu machen. Da muss man offen mit den Kindern sprechen, was eine Pandemie ist und man muss vor allen Dingen auch Kindern Perspektiven geben.
Familien, wie man sie sich "bilderbuchmäßig" vorstellt (Mama und/oder Papa führen eine glückliche Beziehung, haben sichere Jobs und verdienen genug Geld, um der Familie ein wirtschaftlich sorgenfreies Leben zu ermöglichen, es gibt 2-3 Geschwisterkinder, man hat ein Eigenheim mit Garten etc.) haben sehr, sehr gute Chancen, ihre Kinder ohne Trauma durch diese Zeit zu bekommen.
Wo ein oder zwei der oben genannten Kriterien nicht erfüllt sind, wird es schon schwieriger. Ich arbeite (als Pädagoge und Erziehungwissenschaftler) just am "anderen Ende", nämlich mit Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Verhältnissen, manchmal genügt schon anhaltende Arbeitslosigkeit eines Elternteils und eine Trennung der Eltern, um Familien zu sprengen.
Ich bin beruflich in zwei benachbarten Kreisen in Ostwestfalen unterwegs und ich kann Dir sagen, dass hier schon im letzten Herbst kaum noch ein Platz in der Jugendhilfe nicht belegt war. Schon im Sommer kamen - selbst hier, in einer wirtschaftlich sehr vitalen Region - zunehmend Familien an ihre Grenzen, wirtschaftliche Schieflagen plus Betreuung von Kindern, die nach monatelenangem Lockdown kaum wieder in die Schule zu bekommen waren, lassen Familien in diesen Zeiten schneller implodieren, als Du es Dir möglicherweise vorstellen kannst.
Und wir sehen erst die Spitze des Eisbergs ... In den großen Städten und "sozialen Brennpunkten" sieht es ganz anders aus. Ich bin noch ganz gut vernetzt mit alten Studienkollegen, die in Großstädten unterwegs ist - wenn ich von denen höre, was da los ist, packt mich das nackte Grauen. Was sich da über die Monate an Frust und Verzweiflung in Form von häuslicher gewalt an Kindern und Jugendlichen entlädt, wirft uns in unsere Arbeit um Jahre und Jahrzehnte zurück.
Das "pikante": Meine "Branche" wird jetzt schon auf Jahre hinaus mehr als genug zu tun haben, wir hatten vor der Pandemie schon Fachkräftemangel. Nach der Pandemie werden wir aber leere Haushaltskassen haben - und die Jugendämter (die Jugendhilfe finanzieren) gehören dann typischerweise zu den Ressorts, wo zuerst gekürzt wird. Zu was so etwas führt, mag dem ein oder anderen klar sein, der im letzten Jahren den Missbrauchs-Skandal von Lüdge verfolgt hat.
Ich will das aber eigentlich gar nicht vertiefen, ich diskutiere hier eigentlich als Privatperson, nicht aufgrund meiner Profession. Aber vielleicht hilft es Dir ja ein wenig, zu verstehen, warum ich etwas empfindlich bin, wenn als Langzeitschäden dieser Pandemie zwar ausführlich über "Long Covid" diskutiert wird, im Schatten der Pandemie aber Kinder und Jugendliche zunehmend Situationen ausgesetzt sind, die ihr ganzes zukünftiges Leben prägen. Und da reden wir nicht von einigen Zehntausend, das geht in hohe sechsstellige Bereiche
Und als Vater möchte ich Dir in dem Kontext noch gerne sagen: Wir erfüllen die oben eingeklammerten Kriterien als Familie und dementsprechend gut sind unsere Kids aufgestellt. Um die mache ich mir keine Sorgen. Und dennoch: Wenn ich aber die Wahl hätte, unserer Jüngsten solche beschissenen 14 (+x) Monate zu ersparen (die sich in ihrem Alter ganz anders anfühlen, als für uns Erwachsenen) und stattdessen als "Long Covid"-Fall ein paar Wochen niederzuliegen, weitere Monate zu darben oder vielleicht für meine zweite Lebenshälfte nicht mehr auf 100% meiner vorherigen sportlichen Leistungsfähigkeit zugreifen zu kommen - ich wüsste als Vater, welche Entscheidung ich treffen würde.
Ich will damit "Long Covid" nicht verharmlosen - aber man sollte das meiner Meinung nach dringend in Relation setzen zu anderen Dramen, die sich abspielen - und die die Zukunft von Millionen prägen wird. "Abwägung" wäre hier das entscheidende Wort. Aber wie "Sören74" dazu schon schrieb:
Sören74 hat geschrieben:(16 Apr 2021, 12:15)
Da wären wir wieder bei dem Thema, wie viel Aufwand stecken wir in die Verhinderung von Covid-19-Erkrankungen, wie viel ist es uns wirklich wert? Eine offene Diskussion darüber wird immer noch gescheut. Wie dem auch sei, ich teile die Ansicht nicht, dass jede vermiedene Erkrankung möglichst viel Unfug rechtfertigt. Das ist nicht mein Staats- und Politikverständnis in einer Demokratie.
Dem stimme ich in jeder Hinsicht zu.