Progressiver hat geschrieben:(14 Jul 2020, 20:55)
Meine Situation ist halt folgende:
Ich habe einen breit aufgestellten Musikgeschmack. Ich entdecke immer wieder neue Musikgruppen und probiere mich auch stilistisch aus. Hauptsächlich höre ich mir aber Rock- und Bluesmusik an. Gleichzeitig erlerne ich auch das Spielen auf der E-Gitarre. Um genügend Songs zu haben, die ich mal spielen können will, recherchiere ich in unregelmäßigen Abständen bei Thomann, Amazon und Alle-Noten.de .Ich habe jetzt schon so viele Lieblingslieder aus meiner Vergangenheit, die ich irgendwann einmal alle covern könnte, dass es mir wohl für die nächsten paar Jahre locker reicht.
Es gibt doch allein im Altkatalog soooo viel Musik von Kid Rock bis Blues Springteen.
Irritierend finde ich jedoch, dass außerhalb meiner eigenen Notenbücher und meiner CDs diese Musik nicht stattfindet. Ich kann mir auf Youtube die Originalsongs anhören. Dort finden sich auch -hauptsächlich aus dem englischsprachigen Bereich- Leute, die meine Lieblingslieder gecovert haben. In Deutschland kriegt man aber so etwas nicht mehr zu hören.
Du musst dich mehr bemühen. Du kriegst bestimmt jüngere Interpreten für ältere Songs. Heißen sie nun Jürgen Blackmore oder Dirty Deeds 79, je nach Anspruch geht vielleicht auch Krokus als "jünger" durch.
Anfang der 1990er zum Beispiel gab es mit der sogenannten Grunge-Szene ein Wiederaufflackern bzw. ein Revival der Rockmusik. Auch in Deutschland verkauften manche Bands wie die Stone Temple Pilots -um mal ein willkürliches Beispiel zu nennen- fünf Millionen Alben. Und da frage ich mich doch: Wo sind die ganzen Leute hin, denen damals so etwas gefallen hat?
Rein demographisch sind die jetzt bei Helene und bei Santiano, vielleicht noch bei Haudegen oder schlimmstenfalls bei Gabalier. Welche zwei davon man mit viel Freiraum noch in Rock einsortiert, bleibt dem Leser als Hausaufgabe überlassen.
Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie in der Folgezeit alle auf deutsche Schlagermusik oder Techno umgestiegen sind.
Fang du jetzt bloß nicht an zu weinen, du bist doch sonst so'n starker Typ. Die Übergänge sind fließend, die Künstler entwickeln sich weiter und manchmal ist der alte Käse von gestern heute schon in einer ganz anderen Schublade. Nena galt mal als rockig. Allein im Stoner Rock gibt es soooo viele deutsche Acts. Es gibt aber auch pickelige Spinner, die Metallica covern. Wahrscheinlich sind die alle in drei Jahren im RCDS und in fünf Jahren erzählen sie ihren Seminarteilnehmerinnen, wie das damals 2010 auf Wacken so war. Die Menschen sind immer im Durchfall, panta rei.
Es muss doch also noch Leute aus meiner Alterskohorte geben, die noch auf Rockmusik stehen. Und auch in den Medien findet diese Art von Musik nicht statt. Wenn ich auf Neunziger-Jahre-Parties gehen würde, müsste ich wohl feststellen, dass dort vor allem diese ganze Eurodance-Musik laufen würde.
Wenn du auf die Resterampe gehst, dann geben sie dir den Rest. You get what you paid for. Wer auf Jahrzehnteparties geht, der kriegt den heute noch vorzeigbaren Rest vom Konsens von damals, möglichst entweder tanzbar oder mitgröhlbar und als Rausschmeißer einen Hit der jeweiligen Elternkohorte. What's my age again? Dabei ist es egal, ob du den vergessenen Durchschnitt der 60er, 70er, 80er oder "von heute" gebucht hast. Nur, dass so langsam die erste Hälfte davon auch in Metropolen keine Telefonzelle mehr vollkriegt. Schuld war nur der Bossa Nova, der war schuld daran.
Ich habe auch im Fernsehen mal irgendwelche Dokumentationen darüber angeschaut, wie die 1990er angeblich waren und welche Musik die Leute damals gehört hatten. Da fand man dann so etwas wie die Kelly Family oder meinetwegen irgendwelche Boygroups. Aber die Rockmusik der Neunziger? Fehlanzeige.
In the year 25 25 geht es bei den 90ern natürlich um die Jugendcharts der 90er "und sonst gar nichts". Ob damals jemand Campag Velocet, Oktoberclub oder Gilbert Becaud hören wollte, ist doch am Thema vorbei. And nothing else matters. Und wenn du jetzt sagst, aber Chris de Burgh, Travelling Wilburys, Tom Petty oder, wollen wir mal nicht ganz so mit dem Hintern steif werden, Phillip Boa and the Voodooclub ist ja auch irgendwie 90er und rockig wenn man möchte, und sowieso gabs auf manchen Parties auch Mink Deville zu hören, naja, bei den damals schon älteren vielleicht, hm, dann sag ich mal: Das ist nicht der Focus solcher Sendungen und das weißt du auch.
Zu Beginn der Neunziger war ja auch MTV noch einigermaßen lebendig. Und dadurch wurde man mit guter Musik versorgt. Ich zumindest fand da einige Inspirationen. Und im Radio gab es den amerikanischen Soldatensender AFN (oder so ähnlich). So etwas gibt es meines Wissens heute nicht mehr. Ich kann zwar auch beispielsweise auf Youtube alte und neue Lieder entdecken. Und auch meine Inspirationsquellen haben sich verändert. Es ist also nicht so, dass ich in der musikalischen Wüste sitzen würde. Wenn aber bei uns auf der Arbeit ein Sender wie SWR 1 läuft, der mehr so Oldies bringt, dann finden da vielleicht die 1960er bis 1980er statt. Aber aus den 1990ern erkenne ich da nicht die Musik heraus, die ich früher mal gehört hatte.
Sowas ist Formatradio. Wenn die 90er mehr in die Mitte der Demographie des Senders rücken, kommen sie breiter vor, aber vorwiegend trotzdem die top25 - und ein paar Jahre später wird es erstens wieder seltener und zweitens enger auf das, was man nun wirklich nicht vergisst. So sad, so sad, it's a sad sad situation and it's getting more and more absurd until your dieing day. Come what may. Kannst du eben nichts machen.
Und auch ein weiterer Punkt ist mir wichtig: Es gibt auch heute noch gute Rock- und Bluesmusik. Und auch Folk und Metal sind nicht tot. Auf den sogenannten Mainstream-Radiosendern, die man hier im lokalen Radio empfangen kann, werden dann aber allerhöchstens in der Oldie-Abteilung die Bands und Lieder von anno dazumal gebracht. Die Programmverantwortlichen kümmern sich gar nicht darum, auch neue Rock- oder Bluesbands vorzustellen. Und auf Sendern, die für die ganz jungen Leute gemacht sind, kommt ja sowieso nur noch so eine Art Electropop.
Wenn du deinen Schlüssel nur im Lampenschein suchst, weil es nur da hell ist, dann warte lieber bis morgen denn als es passierte, stand die Sonne schon am Himmel.
Jedenfalls, wie gesagt: Ich finde weder Leute, die die Rockmusik der Neunziger hören. Oder aber beispielsweise die Red Hot Chili Peppers, die ja immer noch Musik machen. Noch finde ich meinen Musikgeschmack in den sonstigen Mainstream-Medien wieder. Was die Notenbücher für die E-Gitarre betrifft, finde ich vor allem die Klassiker an Rocksongs.
Ah geh. Das interpretieren von Musik hatte doch noch nie etwas damit zu tun, so zu klingen wie das Original. Wenn Garbage und Screaming Females zusammen "Because the Night" loslassen, wollen sie dann klingen wie Patti Smith? Das ist doch nicht die Mini Playback Show. Da geht es doch darum, Material aufzunehmen, sich seinen Reim drauf zu machen und mit Geistesstärke tun sie Wunder auch. Can't hurt you now.
Wenn ich mir jetzt etwa Lucassens "The Two Gates" von 1998 vornehmen würde, könnte es überhaupt das Ziel sein, die sehr talentierten Musiker hinter diesem Stück einfach nachzumachen und damit zu beweisen, wie wenig mir dazu einfällt im Rahmen meiner Möglichkeiten? Dann lässt man's doch lieber bleiben. Und wenn man Meghan Traynor (die mit dem Arsch) oder Girls Like You (Maroon 5) nachmachen wollen würde, dann doch nach eigener Kunst und wenn man mit viel Selbstliebe und hoffentlich auch Talent daraus eine Stoner-Nummer oder einen frühen Swing draus drehen könnte, wäre das nicht wunderbar? Musik ist heute anders. Schon, weil sie verfügbar ist wie früher nur Barbara Eligmann, bei der wusste jeder, wann sie kommt. Du musst nicht stundenlang MTV gucken und hoffen, dass dein Lieblingsvideo kommt. Du musst nicht stundenlang auswärtiges Radio mitschneiden und dann sortieren, außer du lebst in einer der paar verbleibenden wirklich schrägen Diktaturen - dann viel Glück, lass dich bloß nicht erwischen. Du kannst, wahrscheinlich sogar kostenlos, die absolute Mehrheit der als Aufzeichnung verfügbaren kommerziellen Musik und obendrauf viele, viele Liebeswerke jederzeit und immer haben. Die Kraft der werbefinanzierten Onlinedienste. Never gonna let you down and hurt you.
Rock and Roll won't tell you what to do. Gives you a choice and leaves it up to you. (Rondinelli, 1996) - Wer andere Zitate im Text findet, ist selber schuld und wahrscheinlich alt alt alt.