Jekyll » Mo 17. Jun 2013, 17:49 hat geschrieben:Richtig. So wie ich das mitgekriegt habe, gehört die Forderung, Erdogan solle zurücktreten, mit zu den seitens der Protestieren gestellten Forderungen. Und da stellt sich die Frage, inwiefern so eine völlig überzogene Forderung, die übrigens mEs den Willen einer (mutmaßlich)
größeren Bevölkerungsgruppe missachtet - also damit letztenendes undemokratisch ist -, eine Grundlage bietet für einen vernünftigen Dialog.
Es ist ja nicht undemokratisch nach diesen Ereignissen
vorgezogene Neuwahlen zu fordern. Hier kommt allerdings der erschwerende Umstand dazu, dass Erdogan gar nicht erneut zur Wahl antreten dürfte, so dass so eine Forderung de facto eine nach seinem Rücktritt bedeutet.
Erdogan hatte ja vor den Unruhen bereits anklingen lassen, dass er die Verfassung ändern wolle, um erneut antreten zu dürfen.
Ich denke daher für die Demonstranten dürfte es wichtiger sein, darauf zu drängen, dass diese Verfassungsänderung unterbleibt.
So ein Kompromiss wäre in jedem Fall demokratisch und dazu noch verfassungsschützend.
Was bitte schön ist daran plausibel? Mit einer geradezu kleinlichen Begründung einen an sich vernünftigen Kompromissvorschlag abzulehnen, der mit Sicherheit eine deeskalierende Wirkung gehabt hätte? Ich halte den Standpunkt der Demonstranten für nicht minder stur und uneinsichtig wie den, den man die ganze Zeit Erdogan attestiert. Ich denke, da wurde eine 1A-Chance vertan, die Angelegenheit auf einer vernünftigen Art zu regeln. Sorry, aber dieser Punkt geht eindeutig an Erdogan.
Der Punkt wäre
vielleicht an Erdogan gegangen, wenn
a. er sich an sein eigenes Ultimatum gehalten hätte (ein Ultimatum eines staatlich Verantwortlichen ist ja kein "Vertragsangebot", es zeigt nur dessen guten Willen. Hätte er den besessen, hätte er auch nach der Ankündigung der Taksimbewegung es nicht zu respektieren, solange warten können, bis es auslief.)
und
b. weniger brutale Methoden zur Räumung angewandt hätte.
Es gibt ja durchaus eine Bandbreite von Gewaltmaßnahmen gegen Besetzer und Demonstranten.
Du hast vorhin ein Bild vom brutalen Einsatz gegen Stuttgart21-Demonstranten im Schlossgarten gepostet. Gerechterweise solltest Du aber auch bedenken, dass dieser Einsatz zu einem landesweiten Aufschrei geführt hat, in der deutschen Medienlandschaft stark thematisiert wurde, und in der Folge Dutzende Polizisten vor Gericht gestellt wurden. Der damalige Polizeipräsident wurde 2011 verabschiedet (aus angeblich gesundheitlichen Gründen -wer's glaubt...). Sein Nachfolger Züfle (übrigen heute tödlich verunglückt) wandte ausdrücklich eine Strategie der Deeskalation an. Vergleichbare Bilder zum 30.9.2010 gab es daher dann zum Glück in Stuttgart nicht mehr.
Zudem hat dieser überzogene Polizeieinsatz mit Sicherheit mit dazu beigetragen, dass der damalige Ministerpräsidenten Mappus anschließend abgewählt wurde.
Abgesehen davon, dass du hier schon wieder eine ad hocsche Unterstellung machst (wieso "Ego"? Seine Entscheidung könnte genauso gut sicherheitstechnisch begründet sein), wen hätte es eigentlich gestört, wenn die Anti-Erdoganisten wenigstens für einen Tag, nein, für einige Stunden, den Platz für Erdogan und den Pro-Erdoganisten überlassen hätten? Alle reden davon, dass Erdogan die Konfrontation will, die Vorkommnisse um Gezi-Park dagegen belegen, dass dieses Bild von ihm (und das andere von den Demonstranten) nicht ganz stimmig ist.
So sieht es leider aus. Genau dieses Problem hätte man aber ernsthaft angehen und die Forderungen näher konkretisieren und spezifizieren können, wenn es zu einem Dialog gekommen wäre. Die Chance wurde leider vertan. Ich sehe die Defizite auf beiden Lagern; beide Seiten halten sich dazu berufen, die demokratische Mehrheit zu vertreten. In der Umsetzung aber haben alle versagt.
Der Preis der Macht ist nunmal die höhere Verantwortung -gegenüber allen (!) Bürgern und auch gegenüber der Verfassung. (Und
Rechtsanwälte zu verhaften, weil sie juristisch gegen Akte der Polizeigewalt vorgehen möchten, kann wohl kaum verfassungskonform sein!)
Diese Verantwortung fällt immer in solchen Situation stärker auf den Machthaber und die Staatsgewalt zurück als auf einfache "machtlose" Bürger. (Wenn das nicht so wäre könnte man das Recht auf freie Meinungsäußerung gleich ganz beerdigen).
Das wussten ja schon die 68er für sich zu nutzen...^^
Du kennst doch die Bilder von den Castor-Blockierern die weggetragen werden? Da werden keine Tränengasbomben eingesetzt, keine Flüchtende, Journalisten und medizinische Helfer verprügelt. Es gibt in den allermeisten Fällen Wege Tränengas und Schlagstock zu vermeiden.
Das "Versagen" Erdogans (genauer gesagt seine gewollte Strategie der Eskalation) wird daher IMHO zurecht in der medialen Berichterstattung stärker gewichtet als die Provokation, die der zivile Ungehorsam der Demonstranten darstellt.