PublicEye » Mo 18. Jun 2012, 22:42 hat geschrieben:
Ich versuche nur zu verstehen, wie man mit Vorbehalten noch von einer Göttlichkeit der Texte ausgehen kann und wie man erwarten kann, dass nach der persönlichen Untersuchung mit individuellen Kriterien, die ursprüngliche Lehre ersichtlich wird.
Ich möchte erfahren, wie du mit diesem Spagat umgehst und zu was für einem Ergebnis du nach der Untersuchung der islamischen Lehre gekommen bist.
Was ist OK für dich, was lehnst du warum ab?
ich glaube, dass es im koran und auch in den überlieferungen, jedenfalls was die juristisch relevanten verse und ahadith betrifft, grundsätzlich zwei ebenen gibt: die ebene einer kurzfristig einzuschlagenen "richtung", quasi eines "zwischenziels", und die ebene eines langfristig zu erreichenden "optimalzustands", quasi des "endziels".
ich gebe dir mal ein einfaches beispiel:
es gibt überlieferungen, denen zufolge eine frau nicht ohne männliche begleitung alleine reisen sollte. wir haben aber auch eine überlieferung, denen zufolge muhammed die hoffnung ausgedrückt hat, eine frau könne eines tages allein von sanaa nach hadramawt reisen und müsse sich dabei vor nichts anderem fürchten als wilden tieren. wir haben hier also auf der einen seite die pragmatische einsicht, dass eine frau nicht alleine durch die wüste reisen sollte, weil sie vermutlich bereits kurz nach dem aufbruch von banditen ausgeraubt, vergewaltigt oder ermordet werden würde, auf der anderen seite aber eine langfristig angelegte aufforderung, einen zustand zu erreichen, wo wilde tiere das einzige sind, was eine frau auf der reise zu fürchten hat.
wenn dieser zustand erreicht ist, erübrigt sich natürlich die erste anweisung, frauen nicht allein reisen zu lassen. und genau so sind meines erachtens fast alle rechtlichen vorgaben im koran und in den überlieferungen zu sehen.
mein "ergebnis" bei der betrachtung der rechtlichen vorschriften im koran und in der sunna ist, dass darin immer ein den möglichkeiten der zeit angepasstes bemühen zum ausdruck kommt, die arabische gesellschaft auf eine höhere stufe zu bringen und beispielsweise marginalisierte oder sozialschwache gruppen wie etwa sklaven und frauen besserzustellen. mein "ergebnis" ist auch, dass dem koran an keiner stelle zu entnehmen ist, dass dieser prozess mit dem tode des propheten als abgeschlossen zu betrachten ist. mein "ergebnis" ist außerdem, dass der koran und die überlieferungen vielmehr eine weiterentwicklung geradezu forcieren, und dass den menschen, die den propheten gekannt haben, das auch bekannt und bewusst war.
denn das ist ja auch der eigentliche zweck hinter dem von dir hier so gerne (und im allgemeinen sehr willkürlich) vorgebrachten prinzip der abrogation. darin drückt sich nämlich gerade das verständnis dafür aus, dass sich ein rechtssystem, auch ein göttliches rechtssystem, den aktuellen gegebenheiten anpassen muss. allerdings sind die methoden des naskh aus heutiger sicht genauso veraltet wie die des 'ilm al-ridjal und dementsprechend sind auch ihre ergebnisse nicht mehr einwandfrei zu übernehmen.
PublicEye » Mo 18. Jun 2012, 22:42 hat geschrieben:
Das geht nirgends richtig, man stelle sich vor, man würde bei der Mathematik einfach nach persönlichem Gusto und Wissensstand Regeln akzeptieren und andere verwerfen.
Oder bei einem Rezept, einem Bauplan, Musik, etc., da kann man auch nicht dran rumschnibbeln, ohne Gefahr zu laufen, dass was ganz anderes dabei herauskommt.
der koran ist ein text und keine mathematische gleichung. insofern kann natürlich die literaturwissenschaft zur erforschung des korans wertvollere erkenntnisse bereithalten als die mathematik.
und natürlich wird an musik, rezepten und bauplänen herumgeschnibbelt. beispielsweise werden barocke violinkonzerte heutzutage fast ausschließlich mit vibrato gespielt, was wohl ihre komponisten kaum so gewollt haben. im allgemeinen ist jede aufführung eines musikstücks anders als eine vorausgegangene, genau deshalb gibt es dutzende aufnahmen ein und desselben stücks zu kaufen und deshalb gehen musikliebhaber in konzerte, statt einfach nur eine schallplatte oder cd einzulegen. genauso ist es mit rezepten. der kulinarische geschmack der menschen und ihr gesundheitsbewusstsein wandelt sich und die rezepte wandeln sich mit. menschen wandeln rezepte ab, wenn sie zutaten nicht finden, bestimmte lebensmittel nicht mögen oder vertragen oder die passenden küchengeräte nicht parat haben, und oft entstehen daraus die besseren gerichte. kein wirklich guter koch arbeitet streng nach rezept! verrückter noch, egal wie sehr du dich an das rezept hältst, es wird doch jedes mal anders schmecken. improvisation und innovation ist das, was die menschheit voranbringt!
warum also sollte ausgerechnet ein heiliger text nun statisch sein und der natürlichen menschlichen entwicklung vollkommen widersprechen?
PublicEye » Mo 18. Jun 2012, 22:42 hat geschrieben:
Eine Lehre mit Göttlichkeitsanspruch muss in sich konsitent sein und es muss dem ernsthaft Forschenden und Suchenden möglich sein, die Lehre zu erkennen, ansonsten ich jedenfalls ein grosses Fragezeichen bei der Frage nach dem göttlichen Ursprung dieser Offenbarungen machen muss und damit in die aufgezeigt Misere gerate und ich nie mehr genau wissen kann, was nun von Gott ist und was nicht.
alleine in diesem forum sehe ich so einige christen, die deine auffassungen nicht teilen, und auch ich persönlich kann deine auffassungen so aus der bibel nicht herauslesen, selbst wenn ich mich bemühe, sie nachzuvollziehen.
so eindeutig mathematisch kann also die bibel auch nicht sein.
die lateinische phrase
odium theologicum, die zum ausdruck bringt, dass theologische debatten im gegensatz zu naturwissenschaftlichen debatten oftmals mit einigem hass geführt werden, weil man in ihnen im allgemeinen nur meinungen, nicht aber fakten gegenüberstellen kann, ist übrigens abendländischen ursprungs.
inzwischen ist man aber auch in der naturwissenschaft im umgang mit dem begriff "faktum" deutlich vorsichtiger geworden.
PublicEye » Mo 18. Jun 2012, 22:42 hat geschrieben:
Meine Aussage war, dass ich mir gut vorstellen kann, dass Mohammed von einem Dämon beeinflusst war bei den Eingebungen.
Mohammed wurde aufs Übelste von der Erscheinung gewürgt, so dass er um sein Leben bangte, ein sehr unübliches Verhalten bei Begegnungen zwischen Menschen mit Engeln, die Botschaften von Gott überbrachten.
Mohammed selbst hatte ja die Vermutung, dass er einem Dämon begegnet ist und seine Frau Kadisha hatte ihn dann überredet, dass seine Befürchtungen zerschlagen.
die frau hieß khadidja, du experte.
übrigens entspricht die erfahrung muhammads mit dem engel sehr viel mehr etwa der jüdischen vorstellung von engeln als etwa die barocken putten. die seraphim sind schließlich wörtlich die "glühenden", ezechiels beschreibung der cherubim wirkt auch eher schrecklich als schön, und jakob dürfte sich wohl bei seinem kampf mit dem engel ebenfalls nicht gerade wohl gefühlt haben. würgen ist übrigens ein unpassender begriff, der engel hat muhammad das brokattuch kräftig auf die brust gedrückt und ihn nicht gewürgt. englische übersetzungen sprechen daher auch passender von "pressing", drücken, oder "clasping", klammern oder umklammern.
inwieweit das wörtlich zu verstehen ist oder vielmehr allegorisch und ob ibn ishaq überhaupt eine taugliche quelle für das leben des propheten ist, sei im übrigen dahingestellt.