Der Neandertaler hat geschrieben:(31 May 2018, 12:48)
Hallo garfield.
Die EU ist ein seltsames Konstrukt. Sie hat zwar ein Parlament - dies wird auch regelmäßig gewählt, dies besitzt aber in vielen Dingen keine volle Kompetenz.
... werden immer noch viele Entscheidungen von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten oder der Kommission getroffen. Dies gilt auch für den Kommissionspräsidenten ... bzw. die Kommission als Ganzes. ...
...
Eine EU-Wahl mit einem Spitzenkandidaten, der schon vor dieser feststeht, ist eine Auseinandersetzung zwischen dem Europaparlament auf der einen Seite und den Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft auf der anderen.
Als aussichtsreiche Kandidaten werden der Franzose Michel Barnier und Irlands Regierungschef Leo Varadkar genannt.
Michel Barnier, Chefunterhändler der EU bei den Brexit-Verhandlungen, war zwar lange Kommissar - dies spricht als für ihn, er spricht aber nicht so gut Englisch, wie dies in dieser Position verlangt wird - dies dürfte also für Leo Varadkar sprechen...
Vielen Dank für Ihre sehr fundierten und hilfreichen Erläuterungen, Herr Neanderthaler!
Ich erlaubte mir, Ihren Beitrag verkürzt zu zitieren, um auf bestimmte Aspekte besser eingehen zu können. Ich hoffe, Sie hatten nichts dagegen. Schmälern wollte ich damit Ihre Ausführungen bestimmt nicht.
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Also:
Die Entscheidung, wer von den Staats- und Regierungschefs letztlich als neuer Kommissionspräsident "durchgesetzt" wird, und ob dies mit Manfred Weber ein Deutscher sein wird, oder ein Franzose oder Irländer, Hauptsache kein Deutscher, hängt sehr mit der Frage zusammen, wer der Nachfolger von Mario Draghi als neuer EZB-Häuptling wird.
Längst überfällig wäre tatsächlich mal auch ein Deutscher als EZB-Chef (der aktuelle Bundesbankpräsident wäre sehr geeignet für dieses Amt). Also jemand, der aus dem finanz- und wirtschaftsstärksten Land kommt, ohne den der EURO undenkbar bzw. nicht machbar wäre. Einem Land, das zudem ein Fels in der Brandung gegen Defizithaushalte ist und den kleinen Glauben an Maastricht und die sog. 3%-Defizitgrenze als notwendig und essentiell vertritt und vorlebt. Wie ja bekannt sein dürfte, waren in der Vergangenheit immer entweder Franzosen oder Italiener EZB-Chefs. Da mit Sicherheit innerhalb der EU niemand ein extremes deutsches Übergewicht von entscheidenden Spitzenämtern will, sprich einen deutschen Kommissionspräsidenten und einen Deutschen als EZB-Chef, wird das Ganze auf einen Kompromiß hinauslaufen. Entweder ein deutscher Kommissionschef oder ein deutscher EZB-Chef. Dies weiss auch Frau Merkel sehr genau,
und Manfred Weber auch. Vor allem, welchen Kompromiss Frau Merkel favorisiert. Nämlich erneut auf das Amt des EZB-Chefs zugunsten eines Deutschen zu verzichten, und dafür das Amt des Kommissionspräsidenten einzufordern.
So hat sie sich schon seit längeren und man könnte sagen, im stillen Kämmerlein der EU-Granden, auf diese Lösung verständigt. Das sollte man wissen bzw. bei der Frage, wer neuer EU_Kommissionspräsident wird, nicht aus dem Blick verlieren.
Sofern man sich - wie durch ein Wunder - zu einer währungspolitischen Vernunftkorrektur entschließt und den ungeliebten deutschen Bundesbankpräsidenten doch zum EZB-Chef macht, einen "Zinsvernünftigen", der im EZB-Direktorium schon seit längerem als scharfer Kritiker des Draghi-EZB-Nullzinskurses gilt, wird Manfred Weber sicher nicht EU-Kommissionspräsident. Für diesen unwahrscheinlichen und auch nicht Merkels Wunschlösung entsprechenden Fall, sähe ich Barnier als Topfavorit. Ein Iren sehe ich da eher als Hemmschuh, gerade in Bezug auf die Ausarbeitung eines neuen Handelsabkommens nach dem Austritt von GB, die ja dann ansteht. Inklusive der Kernfrage und Lösung des Grenzproblems Nordirland/Irland. Dies natürlich unter der Voraussetzung, daß sich das britische Parlament doch noch zur Annahme des von Theresa May ausgehandelten Vertrages durchringt und damit zu einem halbwegs geordneten EU-Austritt von Großbritannien. Sofern es einen "No-deal"-Brexit gibt, wäre ein Ire als Kommissionspräsident noch mehr ein Bremsklotz, bei etwaigen Verhandlungen der EU mit GB...
Denkbar wäre für mich ein Ire als Nachfolger von Donald Tusk als EU-Ratspräsident. Sofern der nicht weiter an seinem Sessel kleben will oder weiter darf... Spitzenämter im Elefantenfriedhof ehemaliger, nationaler Haudegen und -innen gibt es in der EU ja einige. Um das Balance-Ego bestimmter Mitgliedsstaaten ausreichend zu bauchpinseln. (btw.: "unterentwickelte Englischsprachkenntnisse sind in der EU für entscheidende oder sehr einflußreiche Ämter bisher eher ein Eignungsdiplom, denn ein Hindernis. Siehe Günter Oettinger
)
Barnier dagegen wäre als Chefunterhändler der Austrittsverhandlungen jemand, der seine Eignung als EU-Vertreter in höchster Verantwortung bereits bewiesen hat, sich mit all den Fragen und der tiefgehenden Problematik bestens auskennt, und auch, wo die EU zum Eigenerhalt die roten Linien ziehen muss.
Das fehlt Weber gänzlich.
Andererseits stehen seine Chancen dennoch gut, weil ein Deutscher als EZB-Chef, schon gar nicht der in herzlicher "Freundschaft" gehasste Bundesbankpräsident von anderen Schlüsselländern wie etwa FRA oder ITA (oder weiteren, immer noch schwer in den Seilen hängenden EU-Defizitländern) nicht gewollt ist.
Vor allem dann nicht, wenn der neue EZB-Chef eine Kursänderung zu der längst überfälligen Abkehr der Nullzinspolitik durchsetzt, ähnlich konsequent wie die FED unter der Führung von Powell. Den manche in seiner verbindlichen und besonnenen Art als "Zinstaube" fehleinschätzten. Dieser Jerome Powell jetzt sogar für Trump als falsche Besetzung gilt, weil er sich für ihn als Zins"falke" entpuppte. Was Mr. Powell aber nicht zu kratzen scheint.
Eine ähnliche Kursänderung befürchten wohl innerhalb der EU, besonders innerhalb der Euroländer, sicherlich auch viele Regierungschefs für den Fall, daß der aktuelle Bundesbankpräsident Draghi als EZB-Häuptling nachfolgt. Von daher ist es eher unwahrscheinlich, daß Angela Merkel hier nochmals umschwenkt,
und einen Deutschen an der EZB-Spitze einfordert und dafür darauf verzichtet, das Amt des Kommissionspräsidenten mit einem Deutschen zu besetzen.
Deshalb stehen die Chancen von Manfred Weber gut. Als Spatzen- eh...Spitzenkandidat einer konservativen Partei, die zwar so winzig im EU-Kontext ist wie ein Spatz, den man aus zwei Kilometer Entfernung mit einem Ofenrohr beobachtet, aber immerhin wäre er ein Wahlsieger. Der für seine Spatzenpartei CSU eine Europa-Wahlsieg einfuhr ... einfährt.
Ausserdem kann es sein, dass man im Reigen der EU-Regierungschefs den bestens bewehrten Herrn Barnier auch als Verhandlungsführer haben will, wenn es nach einem angenommen, weichen Brexit, den Th. May -wundersamer Weise - doch noch durchsetzen konnte, um die tatsächliche Verhandlungswurst geht. Sprich die künftigen Handelsbeziehungen und Verträge, die das Verhältnis EU und GB dann entgültig regeln würden. Inclusive der irischen Grenzfrage...Was schwierig genug sein dürfte. Da ist dann ein Mann wie Barnier natürlich als standhafter und unaufgeregter Verhandlungsführer auf Seiten der EU fast schon Gold wert. Ein Mann, der alle Facetten des Problems von der Pike auf kennt.
Also meine Prognose ist: Weber machts. Barnier wird das Schlachtroß im Getümmel von Hastings ... ähm ... den auf den Brexit nachfolgenden Vertragsverhandlungen mit CB sein bzw. dazu ernannt werden ... und irgendein kreidefressender Nullzinsfranzose wird EZB-Chef, oder ein südländischer Defizit-Mafiosi wie Draghi. Vielleicht macht er ja selbst noch eine zweite Amtsperiode. (Ob das juristisch ginge, weiss ich grad nicht). Egal, Draghis dürften nicht so schwer zu finden sein, auch wenn darauf dann was anderes draufsteht. Entscheidend ist ja, was drin ist. Für die Defizitsünder-Länder des Euroraums, dass sie ihre Defizit-Haushalte weiterhin ohne große Folgen und erhöhte Zinsrisiken wie gehabt oder sogar forciert tätigen können. Zusammen mit dem "alternativlos"-Segen der deutschen Kanzlerin...
- Egal, ob ein deutscher Bundesbankchef dabei immer wieder in die Tischkante des EZB-Konferenztisches beisst.