Welchen Sinn, welche Auswirkung, hätte es gehabt, nach der Wiedervereinigung statt GG Verfassung über das Regelwerk zu schreiben? Davon, wie du, ausgehend, dass der Inhalt bis ggfls. auf marginale Veränderungen unverändert geblieben wäre.
Da hat der Logiker/ Formelmensch in mir zugeschlagen. Es wäre einfach der formell jedermann einleuchtende Abschluss des Provisoriums BRD (alt) gewesen.
Und es hätte der Grundliegenden Rechtsordnung Deutschlands eine höhere Wertigkeit gegeben, und damit etwas mehr Festigkeit in einer Identitätskrise, auf die wir ja irgendwie hinsteuern.
Faktisch - da bin ich bei Dir - hätte es keiner wesentlichen Veränderung benötigt, zumal die Wiedervereinigung per Beitritt ja auch im GG vorgesehen war.
Ich denke Kohls größte Angst war, dass die Westdeutschen einer Einigung nur mit mäßigem Ergebnis zustimmen und dadurch die vorhandenen Gräben noch tiefer werden. Auch nicht von der Hand zu weisen ...
Schaut man sich mal an, WO der Ossi-Aufstand am größten ist, dann landet man vor allem in Sachsen. In Sachsen hat man schon seit dem Alten Fritz große Vorbehalte gegen Berliner Regierungen. Das galt für das Kaiserreich, das galt für die Weimarer Republik, das galt für die DDR und das gilt auch heute noch. Man fühlt sich in Sachsen von den "Preußen" fremdbestimmt und gegängelt - auch wenn das so heute nicht mehr stimmt. Aber es sitzt halt tief in den Köpfen.
Und man darf ja nicht vergessen: die DDR stand in königlich-preußischer Tradition - auch wenn das die Parteioberen und Staatsratvorsitzenden immer vehement bestritten haben. Aber es war nun einmal so, dass das Land straff von Berlin aus geführt wurde. Die höheren und hohen Ämter waren nur einer bestimmten Elite (in Preußen dem Adel, in der DDR der Partei-Nomenklatura) vorbehalten. Das politische System war von Kaderparteien geprägt - man konnte zwar wählen, aber die Wahlen waren erst dann gültig, wenn der gewählte Kandidat von der Staats- und Parteispitze genehmigt bzw. "bestätigt" war. Wichtige politische und administrative Entscheidungen wurden sowohl im Königreich Preußen, als auch in der DDR von irgendwelchen Klüngels im stillen Kämmerlein ausgebrütet und nach Gutsherrenart entschieden. Diese Klüngel waren jeglicher demokratischer Kontrolle entzogen.
In Sachsen hat man auch zu DDR-Zeiten immer das nicht ganz unberechtigte Gefühl gehabt, von Berlin aus fremdbestimmt zu werden. Und da hatte man ja in der Sache nicht ganz unrecht. In der Weimarer Zeit gab es die Reichsexektive, heute gibt es den Bundeszwang.
Ja. Wobei auch Gründe aus der Nachwendezeit hinzukommen, warum die Ostdeutschen besonders anfällig für die Neue Rechte (mit der AfD als Kern) sind und sie sich immer wieder selbst rechtspopulistisch artikulieren. Die AfD-Prozente sind in allen fünf Bundesländern ja besonders hoch. Warum? Da muss man wirklich bis 1989/90 zurückschauen. Im Osten gab es zunächst die großartigen Erfahrungen, mit den Füßen abstimmen zu können und auf friedlichem Wege eine Diktatur abschütteln zu können. Das sind einmalige Erfahrungen, wichtig auch für Gesamtdeutschland. In den Jahrzehnten nach der Wende erfuhren dieselben Leute, die einen ungeliebten Staat praktisch hinweggefegt hatten aus eigener Kraft, dass ihre Stimme plötzlich nichts mehr wert war. Kein Hahn krähte mehr nach den kämpferischen Ostdeutschen, sie spielten keine Geige mehr. "Die da oben" interessierten sich nicht für ihre Belange. Das hat sie in ihrem gerade erst erworbenen Empfinden, selbstbewusst in die Politik eingreifen zu müssen und zu können, wieder arg zurückgeworfen. Mal von krassen wirtschaftlichen Nachwende-Veränderungen abgesehen, die ebenfalls negativ wirkten. Und mal abgesehen von rechtsradikalem Denken, dass es hüben und drüben schon immer gab und gibt.
Zuletzt geändert von Selina am Mo 27. Aug 2018, 10:46, insgesamt 3-mal geändert.
Im Osten gab es zunächst die großartigen Erfahrungen, mit den Füßen abstimmen zu können und auf friedlichem Wege eine Diktatur abschütteln zu können.
Das ist übrigens ein sehr interessanter Aspekt: heute wird gerne mal "1989" beschworen. Nur sind die, die hinter den Parolen herlaufen, keine Leute, die mit den Füßen abstimmen. Das sind nach meinen Beobachtungen sehr oft Leute, die schon in für sie besseren Zeiten große Ängste ausstanden, wenn sie in die Kreisstadt mussten. Das sind Leute, die sich nicht weg trauen. Es zieht sich ein Wort durch deren Pöbeleien und Schimpfereien - das Wort "beschützt".
Auf dieser Welle reiten dann geschickt einige Leute mit eher zwielichtigen Ambitionen. Da spielt sich zum Beispiel die Störchin quasi als Anwältin der Ostdeutschen auf. Der geht es aber nicht um Ostdeutschland, sie will den nach 1945 enteigneten Grund und Boden ihrer Familie wiederhaben. Und zwar ohne dass sie etwas dafür zahlen muss.
Ja. Wobei auch Gründe aus der Nachwendezeit hinzukommen, warum die Ostdeutschen besonders anfällig für die Neue Rechte (mit der AfD als Kern) sind und sie sich immer wieder selbst rechtspopulistisch artikulieren. Die AfD-Prozente sind in allen fünf Bundesländern ja besonders hoch. Warum? Da muss man wirklich bis 1989/90 zurückschauen. Im Osten gab es zunächst die großartigen Erfahrungen, mit den Füßen abstimmen zu können und auf friedlichem Wege eine Diktatur abschütteln zu können. Das sind einmalige Erfahrungen, wichtig auch für Gesamtdeutschland. In den Jahrzehnten nach der Wende erfuhren dieselben Leute, die einen ungeliebten Staat praktisch hinweggefegt hatten aus eigener Kraft, dass ihre Stimme plötzlich nichts mehr wert war. Kein Hahn krähte mehr nach den kämpferischen Ostdeutschen, sie spielten keine Geige mehr. "Die da oben" interessierten sich nicht für ihre Belange. Das hat sie in ihrem gerade erst erworbenen Empfinden, selbstbewusst in die Politik eingreifen zu müssen und zu können, wieder arg zurückgeworfen. Mal von krassen wirtschaftlichen Nachwende-Veränderungen abgesehen, die ebenfalls negativ wirkten.
Mindestens ebenso wichtig für eine Erklärung der AfD-Erfolge ist aus meiner Sicht der Käseglocken-Charakter der DDR und ganz besonders Sachsens. Auch im westlichen Teil Deutschlands gabs ja dieses Nachkriegsbedürfnis nach Ruhe, Friede, Freude, Eierkuchen, Einfamilienhaus, Lebensversicherung. Aber - glaube ich jedenfalls - das wurde ab vielleicht Anfang der 70er zunehmend von internationalen Einflüssen überlagert. Die große Welt zog in ganz anderem Ausmaß in die kleine Welt der Westdeutschen ein als im Osten Deutschlands. Bzw. und genauer müsste man eigentlich sagen: Sie zog dort auch ohne Eigeninitiative und ungefragt ein. Es ist keineswegs so, dass Provinzialität für einen Menschen in der DDR unabwendbares Schicksal war.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Ich halte diese Entwicklung für sehr gefährlich, weil sie Extremisten Vorschub leistet, was die Demokratie weiter schwächt. Dazu kommen ja auch noch äußere Einflüsse, Autokraten allerorten, die sich - so hat es den Anschein - aller Fesseln entledigt haben und ohne große Probleme tun und lassen, was sie wollen (zB. Putin, Erdogan, Trump, Orban).
Was kann man gegen das schwindende Vertrauen der Bürger tun? Und wann ist ein "point of no return" erreicht, an dem die ganze Sache endgültig kippt? Oder ist das alles halb so wild, Wahlerfolge wie der der AfD nur temporär zu sehen?
Der Strang bleibt erst mal geschlossen - solange habt ihr Zeit darueber nachzudenken, ob ihr zum eigentlichen Thema etwas schreiben wollt! Ob ich ihn wieder oeffne, ueberlege ich mir noch.