Progressiver Konservatismus

Moderator: Moderatoren Forum 7

Stoner

Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Vor einigen Tagen hatte ich im CDU-Strang einen Beitrag aus DR-Kultur eingestellt:
MäckIntaier hat geschrieben:(05 Dec 2018, 08:54)

Nachdem die CDU sich Herrn Dobrindts konservativen Revolutiönchen nicht anschließen wollte, ist hier eine realistischere Perspektive aufgezeigt worden, die in Teilen der CDU Sympathien finden könnte:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/pl ... _id=435049

Das wäre zumindest wieder volksparteientauglich.

Allerdings wird auch die CDU nichts mehr daran ändern können, dass der Glaube "dass es einem selbst nicht schlechter und vor allem seinen Kindern einmal besser gehen wird" nicht mehr vorhanden ist. Das ist der Urgrund für alle Populismus-Anfälligkeit.
Das würde ich gerne über die CDU hinaus noch einmal weiterverfolgen, nachdem das Politische Feuilleton auch im Strang zu den Lehren aus dem Nationalsozialismus verlinkt worden war. Den Beitrag von dort verlinke ich hier einmal, ebenso eine der Antworten, die auf den Ursprungsbeitrag von mir kamen, um Sinn oder Unsinn des Vorschlags eines "progressiven Konservatismus" ein wenig von allen Seiten zu beleuchten.
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

sünnerklaas hat geschrieben:(05 Dec 2018, 10:40)

Konservativismus ist in seinem Kern nie zukunfts-optimistisch. Der Konservativismus geht davon aus, dass die Gegenwart schlecht, die Zukunft sogar nur katastrophal sein kann. Konservativismus ist eine politische Strömung, die von der Strategie her defensiv angelegt ist und in der nicht regiert, also gestaltet, sondern lediglich auf Ereignisse reagiert wird. Und selbst bei der Reaktion muss vorher erst einmal nachgefragt werden, ob diese oder jene Entscheidung erst einmal getroffen werden darf. Das führt zu enormen Abhängigkeiten. Sehr schön kann man das beobachten, wenn konservative Spitzenpolitiker in Regierungsämtern mit schweren Krisen konfrontiert werden: Edmund Stoiber musste beim Hochwasser 2002 erst einmal nachfragen und sich darüber absichern, was er denn nun machen dürfe. Und es gab wohl genug Leute in der eigenen Partei, die fiskalische Bedenken hatten und einen riesigen Ärger gemacht hätten, wäre auch nur ansatzweise das Gefühl aufgekommen, übergangen worden zu sein. Stoiber hat erst einmal überall nachgefragt - und genau damit seine Kanzlerschaft verspielt.

Ich wage die These: wäre Helmut Schmidt bei der Hamburger Sturmflut 1962 in der CDU gewesen, wäre er niemals zum Helden aufgestiegen. Er wäre von seinen eigenen Leuten wegen seiner Vorgehensweise in der Luft zerrissen worden. Die Karriere wäre beendet gewesen, weil er vorab nicht nachgefragt und - extrem schlimm: das Geld anderer zum Fenster hinausgeworfen hätte.
Vom Grundsatz her würde ich unterscheiden zwischen einem rein politischen Konservatismus, der an einen starken Staat glaubt und sonst eher fortschrittsgläubig geprägt ist, und einem nicht primär politischen Konservatismus, der von einem bestimmten skeptischen Menschenbild sowie einem daraus abgeleiteten Institutionalismus ausgeht und traditionell nicht unbedingt an konservative Parteien gebunden sein musste. Einer der Hauptvertreter dieser Art der Bürgerlichkeit, Hermann Lübbe, war sogar zeitweilig SPD-Mitglied und Staatssekretär in SPD-Regierungen. (Die Schmidt-Stoiber-Geschichten sind nichts, was sich lohnt)
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19723
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von sünnerklaas »

MäckIntaier hat geschrieben:(09 Dec 2018, 13:18)

Vom Grundsatz her würde ich unterscheiden zwischen einem rein politischen Konservatismus, der an einen starken Staat glaubt und sonst eher fortschrittsgläubig geprägt ist, und einem nicht primär politischen Konservatismus, der von einem bestimmten skeptischen Menschenbild sowie einem daraus abgeleiteten Institutionalismus ausgeht und traditionell nicht unbedingt an konservative Parteien gebunden sein musste. Einer der Hauptvertreter dieser Art der Bürgerlichkeit, Hermann Lübbe, war sogar zeitweilig SPD-Mitglied und Staatssekretär in SPD-Regierungen. (Die Schmidt-Stoiber-Geschichten sind nichts, was sich lohnt)
Ich glaube, zur Zeit ist der politische Konservativismus - bzw. das, was von ihm noch übrig ist - stark von einem skeptischen Menschenbild geprägt. Tatsächlich befindet sich der politische Konservativismus schon seit längerem in einer schweren strukturellen Krise. Deutlich sichtbar wurde das bereits am Wahlabend im Herbst 2005, als der Wähler den beim Leipziger Parteitag 2003 verkündeten Maximen eine klare Absage erteilt hat. Die Finanzkrise 2008 hat den Wähler in seiner skeptische Haltung gegenüber den wirtschaftspolitisch marktradikalen Positionen bei gleichzeitig konservativem Gesellschaftsbild bestätigt. Man kann Angela Merkel vieles anlasten - aber dass sie und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück im Angesicht des Zusammebruchs vom Lehman Bros. und den Meldungen, die Bürger würden im verstärkten Maße ihre Konten leerräumen, richtig gehandelt haben, in dem sie die alten Lehrbücher von Keynes herausholten, ist heute unbestritten. Beide haben damals mit Konkunturpaketen, Abwrackprämien und dem gezielten Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instruments der Kurzarbeit nicht nur großen Schaden vom Land abgewandt, sie haben es sogar noch hinbekommen, eine derart fundamentale Krise zu einem wirtschaftlichen Boom umzudrehen. Allerdings: schon das war nicht mehr der Pfad des politischen Konservativismus - auch wenn das alles ganz großes Kino in Sachen Regieren war.

Schön kann man die Krise des Konservativismus auch im Umgang mit dem GAU von Fukushima beobachten. Die Kernenergie galt als so etwas, wie einer der zentralen konservativen Werte. Nach Fukushima war sehr schnell klar, dass man mit einem krampfhaften Festhalten an der Kernenergie zukünftig alle Wahlen verlieren würde. Um das zu verhindern, musste die UNION einen ihrer Markenkerne aufgeben.

Bei der Wehrpflicht sieht es ähnlich aus: auch die war nicht mehr politisch zu vermitteln. Auch da musste man sich bewegen. Der Ausspruch, Opposition sei Mist, gilt nicht nur für die SPD, sondern auch und ganz besonders für die UNION.
Benutzeravatar
Quatschki
Beiträge: 13178
Registriert: Mi 4. Jun 2008, 09:14
Wohnort: Make Saxony great again

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Quatschki »

sünnerklaas hat geschrieben:(09 Dec 2018, 13:47)
Die Kernenergie galt als so etwas, wie einer der zentralen konservativen Werte.
:?:
Die Kernenergie galt jahrzehntelang als Zeichen von Progressivität und Fortschritt, so wie schnelle Autobahnen, Flughäfen und Exportweltmeisterschaft.
Wie kommst du darauf, dass das ein "konservativer" Wert sei?
Konservativ war einzig das Unbehagen, aus langfristigen Verträgen und Vereinbarungen auszusteigen, also quasi wortbrüchig werden und dafür tief in die öffentlichen Kassen greifen zu müssen. Aber auch das war reiner Lobbyismus, so wie das ewige SPD-Bekenntnis zur Steinkohle.
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19723
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von sünnerklaas »

Quatschki hat geschrieben:(09 Dec 2018, 18:52)

:?:
Die Kernenergie galt jahrzehntelang als Zeichen von Progressivität und Fortschritt, so wie schnelle Autobahnen, Flughäfen und Exportweltmeisterschaft.
Wie kommst du darauf, dass das ein "konservativer" Wert sei?
Konservativ war einzig das Unbehagen, aus langfristigen Verträgen und Vereinbarungen auszusteigen, also quasi wortbrüchig werden und dafür tief in die öffentlichen Kassen greifen zu müssen. Aber auch das war reiner Lobbyismus, so wie das ewige SPD-Bekenntnis zur Steinkohle.
Ich habe von der Krise des politischen Konservativismus ab ca. 2005 gesprochen. Also bitte einmal genau nachlesen.
Billig war die Kernenergie stets nur für die Betreiber. Die mussten sich ja nie um den Bau und den Rückbau der Meiler finanziell kümmern - ebensowenig um das Gros der Kosten für die Entsorgung radioaktiver Abfälle.
Was den Ausstieg aus der Kernenergie anging, so ist es so, dass die UNION nach Fukushima die Wahl hatte: entweder gegenüber den Energieunternehmen Wort zu halten und dafür vom Wähler richtig kräftig abgestraft zu werden - oder aber gegenüber den Unternehmen wortbrüchig zu werden, dafür aber den Machterhalt langfristig zu sichern. Die UNION ist ihrem Selbstverständnis nach die einzige Kanzlerpartei in Deutschland. Und die Rechnung von CDU und CSU ist ja aufgegangen.
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

Der verlinkte DRK-Beitrag beginnt mit
Deutschland verändert sich. Ein Riss spaltet die Gesellschaft, er verläuft nicht zwischen rechts und links, sondern zwischen Globalisten und Kommunitaristen.
Ich halte das für einen ganz wesentlichen Punkt. Die Beobachtung der politischen Entwicklungen nicht nur in Deutschland der letzten Jahre führt mich immer mehr zu der Überzeugung, dass kaum etwas so dringend ist wie ein tragfähiges Modell für ein Nebeneinander zwischen "Globalisten" und "Kommunitaristen". Sind sonst nicht selbst in den sogenannten Staaten des globalen Nordens irgendwann bürgerkriegsähnliche Zustände absehbar?

AUs einem enstprechenden Artikel in der ZEIT
Die neue Konfliktlinie verläuft zwischen einem Globalismus beziehungsweise Kosmopolitismus und einem nationalen Kommunitarismus. Auf der einen Seite stehen politische Werthaltungen, denen es um gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Öffnung geht. Sie sind größtenteils in der neuen Mittelklasse beheimatet und reichen von der Bedeutung der Bildung und der Öffnung der Märkte über die Öffnung der Identitäten, die Emanzipation der Geschlechter, das Lob der Migration bis zu postmaterialistischen Fragen der Ökologie. Letztlich handelt es sich um die Werte eines "neuen Liberalismus", der wahlweise stärker linksliberal oder stärker wirtschaftsliberal akzentuiert werden kann, der aber die alte Links-rechts-Achse grundsätzlich kreuzt.

Spiegelbildlich sind die Kommunitarier positioniert: Hier ist man deutlich skeptischer gegenüber der Globalisierung. Die Öffnung nimmt man als bedrohliche Auflösung wahr. So fordert man etwa (national)staatliche Regulierungen des Sozialen und Wirtschaftlichen, kulturell häufig eine stärkere kollektive Identität. Auch hier gilt: Die Kommunitarier sind im klassischen Sinne rechts und links zugleich, und hier finden sich vor allem Segmente der alten Mittelklasse und neuen Unterklasse. Die spätmoderne Sozialstruktur bildet sich damit in der neuen politischen Konfliktlinie ab. Diese spiegelt die Lebenswelten und Lebensgefühle, die Ambitionen beziehungsweise Befürchtungen ihrer Trägergruppen zwischen Aufstieg und Abstieg wider, und es ist bemerkenswert, dass auf beiden Seiten der Konfliktlinie neben materiellen Fragen die Rolle der Kultur zum politischen Streitpunkt geworden ist.
https://www.zeit.de/2018/09/sozialdemok ... ch/seite-2

Genau so siehts aus. Konflikte zwischen den so beschriebenen Seiten werden häufig auf regionale, nationale Besonderheiten zurückgeführt. Insbesondere wenn es um den neuen Nationalkonservativismus in Osteuropa geht. Das sind aber immer nur konkrete Ausprägungen von Wandlungsprozessen, die überall und weltweit stattfinden. In UK und den USA genauso wie in Polen und Ungarn, Russland, Indien, BRasilien, Japan oder der Türkei.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

Quatschki hat geschrieben:(09 Dec 2018, 18:52)

:?:
Die Kernenergie galt jahrzehntelang als Zeichen von Progressivität und Fortschritt, so wie schnelle Autobahnen, Flughäfen und Exportweltmeisterschaft.
Wie kommst du darauf, dass das ein "konservativer" Wert sei?
Konservativ war einzig das Unbehagen, aus langfristigen Verträgen und Vereinbarungen auszusteigen, also quasi wortbrüchig werden und dafür tief in die öffentlichen Kassen greifen zu müssen. Aber auch das war reiner Lobbyismus, so wie das ewige SPD-Bekenntnis zur Steinkohle.
Zumindest in Deutschland war mit Franz-Josef Strauß ein sehr konservativer Politiker einer der entschiedensten Verfechter von Kernenergie. Es gibt von ihm Zitate zum Thema, die einem heute völlig absurd erscheinen. Die SPD in den 50er und 60er Jahren aber auch. Im berühmten Godesberger Programm der SPD heißt es
Das ist der Widerspruch unserer Zeit, daß der Mensch die Urkraft des Atoms entfesselte und sich jetzt vor den Folgen fürchtet (...). Aber das ist auch die H o f f n u n g dieser Zeit, daß der Mensch im atomaren Zeitalter sein Leben erleichtern, von Sorgen befreien und Wohlstand für alle schaffen kann, wenn er seine täglich wachsende Macht über die Naturkräfte nur für friedliche Zwecke einsetzt.
Am Verhältnis zu technologischen Entwicklungen lässt sich politischer Konservativismus wie auch Progressivität offenbar nicht ablesen.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
odiug

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von odiug »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Dec 2018, 10:28)

Zumindest in Deutschland war mit Franz-Josef Strauß ein sehr konservativer Politiker einer der entschiedensten Verfechter von Kernenergie. Es gibt von ihm Zitate zum Thema, die einem heute völlig absurd erscheinen. Die SPD in den 50er und 60er Jahren aber auch. Im berühmten Godesberger Programm der SPD heißt es


Am Verhältnis zu technologischen Entwicklungen lässt sich politischer Konservativismus wie auch Progressivität offenbar nicht ablesen.
Vielleicht an der Eigentumsstruktur.
Es gibt ja kaum was konservativeres in der Energieversorgung, als Windräder.
Die konservativen Parteien stellten sich aber erst positiv hinter den Ausbau der Windenergie, als die Großkonzerne mit gigantischen Windparks, offshore oder an Land, die Eigentumsverhältnisse geklärt haben.
Zu Beginn war erneuerbare Energieproduktion nicht allein ein Projekt der Klima und Umweltpolitik, sondern auch eines, der Demokratisierung der Energieproduktion durch viele, kleine Energieprozenten.
Das ist ja jetzt völlig vom Tisch ... reden nicht einmal die Grünen noch von ... was auch ein Indiz dafür ist, wie weit die Grünen sich dem konservativen Gedankengut angenähert haben.
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

odiug hat geschrieben:(10 Dec 2018, 10:56)

Vielleicht an der Eigentumsstruktur.
Es gibt ja kaum was konservativeres in der Energieversorgung, als Windräder.
Die konservativen Parteien stellten sich aber erst positiv hinter den Ausbau der Windenergie, als die Großkonzerne mit gigantischen Windparks, offshore oder an Land, die Eigentumsverhältnisse geklärt haben.
Zu Beginn war erneuerbare Energieproduktion nicht allein ein Projekt der Klima und Umweltpolitik, sondern auch eines, der Demokratisierung der Energieproduktion durch viele, kleine Energieprozenten.
Das ist ja jetzt völlig vom Tisch ... reden nicht einmal die Grünen noch von ... was auch ein Indiz dafür ist, wie weit die Grünen sich dem konservativen Gedankengut angenähert haben.
In der IT-Branche gibt es ja das Schlagwort "Integrierte Lösung". "Integriert" ist hier aber häufig einfach ein Euphemismus für "geschlossen". Insbesondere dann, wenn OpenSource Projekte - z.B. im öffentlichen Bereich - abgelöst werden sollen. Sprich: Wenns ans Geldverdienen durch große externe private Systemanbieter gehen soll.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Dec 2018, 10:16)

Der verlinkte DRK-Beitrag beginnt mit

Ich halte das für einen ganz wesentlichen Punkt. Die Beobachtung der politischen Entwicklungen nicht nur in Deutschland der letzten Jahre führt mich immer mehr zu der Überzeugung, dass kaum etwas so dringend ist wie ein tragfähiges Modell für ein Nebeneinander zwischen "Globalisten" und "Kommunitaristen". Sind sonst nicht selbst in den sogenannten Staaten des globalen Nordens irgendwann bürgerkriegsähnliche Zustände absehbar?

AUs einem enstprechenden Artikel in der ZEIT



https://www.zeit.de/2018/09/sozialdemok ... ch/seite-2

Genau so siehts aus. Konflikte zwischen den so beschriebenen Seiten werden häufig auf regionale, nationale Besonderheiten zurückgeführt. Insbesondere wenn es um den neuen Nationalkonservativismus in Osteuropa geht. Das sind aber immer nur konkrete Ausprägungen von Wandlungsprozessen, die überall und weltweit stattfinden. In UK und den USA genauso wie in Polen und Ungarn, Russland, Indien, BRasilien, Japan oder der Türkei.
Das Nebeneinander von "Globalisten" und "Kommunitaristen" hat es eigentlich schon immer gegeben und das wird es auch weiter geben. Wobei sich durch diese harmonisierenden Begriffe der Rechts-Links-Konflikt nicht einfach hinwegreden lässt. So sehr sich das manche auch wünschen. Denn diesen Konflikt gibt es nach wie vor und der spitzt sich zu. Zumal es bei den ganzheitlich denkenden "Globalisten" nun mal mehr Linke und Linksliberale gibt als Konservative und weiter rechts Stehende. Und bei den "Kommunitaristen" - im Sinne von Regionalisierung und Nationalisierung - gibt es eindeutig mehr Rechte als Linke. Die Linken, die gleichfalls nationale Antworten bei der Migration, in der Wirtschaft und im Handel präferieren, die für "Grenzen dicht" und "Abschottung" sind, sind in dieser "Gruppe" deutlich in der Minderzahl. Es ist nur einfach etwas schicker und bequemer geworden, zu sagen, die politischen Richtungen "rechts" und "links" gibt es nicht mehr, sie hätten sich aufgelöst, der Riss gehe quer durch diese Richtungen. Das hängt auch mit eigenen Ängsten der Leute zusammen, die aufgrund ihrer Erfahrungen irgendwelche Arten von Bekenntnissen meiden wie der Teufel das Weihwasser und die um Gottes Willen nicht im "rechten Lager" mit dem Nazi-Stallgeruch landen wollen, aber eben auch nicht im "linken Lager", wo angeblich "Enteignung" und "Kollektivismus" drohen. Am Ende bleibt eine Art "neutrale" Beobachterposition. Man sitzt gemütlich im Ohrensessel und beschaut sich die Welt. Ok, so fern mir Letzteres (Ohrensessel-Passivität) auch ist, es ist immer noch besser, als rassistisch und fremdenfeindlich motiviert durch die Straßen zu marschieren.

Im Übrigen hats die Ohrensessel-Fraktion auch schon immer gegeben. Motto: "Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinander gehn; doch nur zu Hause bleib's beim alten" (Goethe/Faust).
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Dec 2018, 10:16)

Der verlinkte DRK-Beitrag beginnt mit

Ich halte das für einen ganz wesentlichen Punkt. Die Beobachtung der politischen Entwicklungen nicht nur in Deutschland der letzten Jahre führt mich immer mehr zu der Überzeugung, dass kaum etwas so dringend ist wie ein tragfähiges Modell für ein Nebeneinander zwischen "Globalisten" und "Kommunitaristen". Sind sonst nicht selbst in den sogenannten Staaten des globalen Nordens irgendwann bürgerkriegsähnliche Zustände absehbar?
Die Gegenüberstellung ist leider sehr unglücklich. Globalisierung ist ein Prozess, Kommunitarismus ist eine ethische und soziale Philosophie, die sich zur Globalisierung nicht unbedingt einheitlich verhalten muss und mit links/rechts-Schemata völlig daneben beschrieben wäre. Die bekanntesten deutschen Vertreter sind Hartmut Rosa (dessen Resonanzen ich gelesen habe) und Richard David Precht (den ich nicht lese), die ganz bestimmt beide nicht einem konservativen oder gar rechten Lager zuzurechnen sind, ebensowenig wie der von Mai angeführte Großvertreter des Kommunitarismus, Charles Taylor.

https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunitarismus

Daraus:
Die kommunitaristische Theorie vernachlässigt die vollständige Hilfestellung des Staates und priorisiert stattdessen die Hilfe zur Selbsthilfe anhand einer ausgeprägten Selbstorganisation der Bürger untereinander. Zur Realisierung dieses Zieles schlagen die Theoretiker des Kommunitarismus vor, die Bürger in Kindergärten, Schulen und Universitäten auf die Selbstorganisation vorzubereiten. Abschließend lässt sich festhalten: Der Kommunitarismus will die Vorstellung vermitteln, „dass ein politisches Gemeinwesen letztlich vom Engagement seiner Bürger für die öffentlichen Angelegenheiten getragen wird“
Das ist eine der entscheidenden Ideen dahinter.

Was Sie als "Modell für ein Nebeneinander" bezeichnen, wird es nicht geben, da hätten schon vor 20 oder 30 Jahren die Weichen anders gestellt werden müssen. Wo Mai in seinem Beitrag Recht hat ist das nicht mehr glaubwürdige Wohlstandsversprechen, dass es den Kindern mal besser geht. Das wird nicht mehr hinhauen, und es fragt sich eben, ob man dies akzeptabel machen kann in der Gesellschaft.
Wahrscheinlich sollte man die alten verbrauchten Begriffe einfach mal ersetzen - der Konservatismus ist halt verbraucht, unscharf, schwammig.

Ein paar Gedanken von Hartmut Rosa, die das Thema auch streifen:

https://www.kas.de/c/document_library/g ... pId=252038
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

Precht wurde mit den Jahren immer konservativer und hat sich weit von den linksgrünen Idealen seiner Eltern entfernt. Die damaligen Eltern definierten sich philosophisch und politisch als wandelnde Gegensätze zu ihren Eltern, was die Kinder (in diesem Falle Precht) ebenso hielten und offenbar immer halten. Und so kommt eine Art bürgerlicher Warenhaus-Philosoph dabei heraus: Für jeden etwas im Angebot. Grauenvoll.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ohne das nun weiterverfolgen zu wollen: Dass Prechts Eltern linksgrün waren, ist schon stark danebengelangt. Weiß zumindest, wer "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" gelesen hat (und das ist nun das einzige Precht-Buch, das ich auch gelesen habe). Und schön, dass es auch Leser(innen) von Nicht-Warenhaus-Philosophie gibt, auch wenn man es oft nicht sofort merkt bei diesem oder jener.
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 13:36)

Ohne das nun weiterverfolgen zu wollen: Dass Prechts Eltern linksgrün waren, ist schon stark danebengelangt. Weiß zumindest, wer "Lenin kam nur bis Lüdenscheid" gelesen hat (und das ist nun das einzige Precht-Buch, das ich auch gelesen habe). Und schön, dass es auch Leser(innen) von Nicht-Warenhaus-Philosophie gibt, auch wenn man es oft nicht sofort merkt bei diesem oder jener.
Ich las von ihm "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? " und "Liebe: Ein unordentliches Gefühl". Das fand ich beides recht unterhaltsam. Aber das ist nun auch nicht die Literatur, die man unbedingt gelesen haben sollte. Kann man, muss man aber nicht. Philosophische Plauderei halt. Und dass seine Eltern linksgrüne 68er waren/sind und er sich deutlich distanziere von ihrer Art zu denken und zu leben, hat er selbst mehrfach in Interviews erzählt.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 13:45)

Ich las von ihm "Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? " und "Liebe: Ein unordentliches Gefühl". Das fand ich beides recht unterhaltsam. Aber das ist nun auch nicht die Literatur, die man unbedingt gelesen haben sollte. Kann man, muss man aber nicht. Philosophische Plauderei halt. Und dass seine Eltern linksgrüne 68er waren/sind und er sich deutlich distanziere von ihrer Art zu denken und zu leben, hat er selbst mehrfach in Interviews erzählt.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ei ... _id=153804

https://www.welt.de/welt_print/article3 ... -geht.html

So hatte ich es in Erinnerung, und dass an der DKP und selbst der damaligen Stamokap-Linken irgendetwas grün gewesen wäre, würde sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen nicht decken, da zum Beispiel die DKP ja kein grundsätzliche Problem an AKWs sah, sondern diese würden bei einer Änderung der Eigentumsverhältnisse automatisch sicher.

So, zurück zum progressiven Konservatismus und Herrn Mais Gedankenspielen.
Alpha Centauri
Beiträge: 6512
Registriert: Mo 19. Jun 2017, 10:49

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Alpha Centauri »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 13:07)

Precht wurde mit den Jahren immer konservativer und hat sich weit von den linksgrünen Idealen seiner Eltern entfernt. Die damaligen Eltern definierten sich philosophisch und politisch als wandelnde Gegensätze zu ihren Eltern, was die Kinder (in diesem Falle Precht) ebenso hielten und offenbar immer halten. Und so kommt eine Art bürgerlicher Warenhaus-Philosoph dabei heraus: Für jeden etwas im Angebot. Grauenvoll.

Ich habe Prechts neustes Buch über die Digitalisierung gelesen , ( ich habe auch eine Leidenschaft für Philosophie von Sokrates bis Nietzsche) bisweilen sehr gute gesellschaftskritische Analysen auch seine Kritik am modernen High Tech Datenkapitalismus ( Amazon Facebook, Google und Co) und dessen Bedrohung für Demokratie und Freiheit des Einzelnen teile ich weitgehend, zudem ist Precht wie ich Befürworter des bedinungslosen Grundeinkommens , er ist wie ich kein wirklich LINKER sonder eher wie auch ich selbst politisch linker Liberaler bzw. linksliberal würde ich sagen.
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:19)

Ich habe Prechts neustes Buch über die Digitalisierung gelesen , ( ich habe auch eine Leidenschaft für Philosophie von Sokrates bis Nietzsche) bisweilen sehr gute gesellschaftskritische Analysen auch seine Kritik am modernen High Tech Datenkapitalismus ( Amazon Facebook, Google und Co) und dessen Bedrohung für Demokratie und Freiheit des Einzelnen teile ich weitgehend, zudem ist Precht wie ich Befürworter des bedinungslosen Grundeinkommens , er ist wie ich kein wirklich LINKER sonder eher wie auch ich selbst politisch linker Liberaler bzw. linksliberal würde ich sagen.
Er steht vor allem dem Kommunitarismus nahe, den einige ja gerne mit dem Nationalismus oder dem identitären in Verbindung bringen möchten.
Wer allerdings linksliberal ist, dürfte Precht oder den Kommunitarismus mit seiner Kritik am Menschenbild der Liberalen eigentlich nicht gut finden.
Alpha Centauri
Beiträge: 6512
Registriert: Mo 19. Jun 2017, 10:49

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Alpha Centauri »

sünnerklaas hat geschrieben:(09 Dec 2018, 13:47)

Ich glaube, zur Zeit ist der politische Konservativismus - bzw. das, was von ihm noch übrig ist - stark von einem skeptischen Menschenbild geprägt. Tatsächlich befindet sich der politische Konservativismus schon seit längerem in einer schweren strukturellen Krise. Deutlich sichtbar wurde das bereits am Wahlabend im Herbst 2005, als der Wähler den beim Leipziger Parteitag 2003 verkündeten Maximen eine klare Absage erteilt hat. Die Finanzkrise 2008 hat den Wähler in seiner skeptische Haltung gegenüber den wirtschaftspolitisch marktradikalen Positionen bei gleichzeitig konservativem Gesellschaftsbild bestätigt. Man kann Angela Merkel vieles anlasten - aber dass sie und ihr damaliger Finanzminister Peer Steinbrück im Angesicht des Zusammebruchs vom Lehman Bros. und den Meldungen, die Bürger würden im verstärkten Maße ihre Konten leerräumen, richtig gehandelt haben, in dem sie die alten Lehrbücher von Keynes herausholten, ist heute unbestritten. Beide haben damals mit Konkunturpaketen, Abwrackprämien und dem gezielten Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instruments der Kurzarbeit nicht nur großen Schaden vom Land abgewandt, sie haben es sogar noch hinbekommen, eine derart fundamentale Krise zu einem wirtschaftlichen Boom umzudrehen. Allerdings: schon das war nicht mehr der Pfad des politischen Konservativismus - auch wenn das alles ganz großes Kino in Sachen Regieren war.

Schön kann man die Krise des Konservativismus auch im Umgang mit dem GAU von Fukushima beobachten. Die Kernenergie galt als so etwas, wie einer der zentralen konservativen Werte. Nach Fukushima war sehr schnell klar, dass man mit einem krampfhaften Festhalten an der Kernenergie zukünftig alle Wahlen verlieren würde. Um das zu verhindern, musste die UNION einen ihrer Markenkerne aufgeben.

Bei der Wehrpflicht sieht es ähnlich aus: auch die war nicht mehr politisch zu vermitteln. Auch da musste man sich bewegen. Der Ausspruch, Opposition sei Mist, gilt nicht nur für die SPD, sondern auch und ganz besonders für die UNION.

Der Konservativismus ist ohnehin eher negativ eingestellt er hat ein eher negatives Menschenbild dass zeigt die Union gerade derzeit z.b bei der Hartz Debatte und Reform des Sozialstaates, die Union setzt da ja weiter eher auf den dicken schikanierenden Bürokratieappart , den Menschen strafend zu sanktionieren statt positiv zu motivieren, Bevormundung statt Vertrauen diese Mentalität ist ja gerade Ausdruck eines negativen Menschenbildes a la Konservative. Ich als Liberaler kann damit nichts anfangen.
Zuletzt geändert von Alpha Centauri am Mo 10. Dez 2018, 14:50, insgesamt 1-mal geändert.
Alpha Centauri
Beiträge: 6512
Registriert: Mo 19. Jun 2017, 10:49

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Alpha Centauri »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:40)

Er steht vor allem dem Kommunitarismus nahe, den einige ja gerne mit dem Nationalismus oder dem identitären in Verbindung bringen möchten.
Wer allerdings linksliberal ist, dürfte Precht oder den Kommunitarismus mit seiner Kritik am Menschenbild der Liberalen eigentlich nicht gut finden.

Ich habe hier nur einige inhaltliche Schnittmengen die ich mit den Positionen Prechts habe herausgestellt. Zudem halte ich Precht keineswegs durch und durch als eingefleischten Kommunitarier.
Benutzeravatar
Ein Terraner
Beiträge: 14308
Registriert: Sa 7. Mai 2016, 19:48
Wohnort: München

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Ein Terraner »

MäckIntaier hat geschrieben:(09 Dec 2018, 13:05)

um Sinn oder Unsinn des Vorschlags eines "progressiven Konservatismus" ein wenig von allen Seiten zu beleuchten.
Progressiv ist das genaue Gegenteil von Konservatismus, dieses Wortgebilde das ist einfach nur wiedermal ein Oxymoron wie sie von Rechts immer häufiger auftauchen. Das einzige was daran diskussionswürdig ist, ist in welcher Tonne man das entsorgen sollte.
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:19)

Ich habe Prechts neustes Buch über die Digitalisierung gelesen , ( ich habe auch eine Leidenschaft für Philosophie von Sokrates bis Nietzsche) bisweilen sehr gute gesellschaftskritische Analysen auch seine Kritik am modernen High Tech Datenkapitalismus ( Amazon Facebook, Google und Co) und dessen Bedrohung für Demokratie und Freiheit des Einzelnen teile ich weitgehend, zudem ist Precht wie ich Befürworter des bedinungslosen Grundeinkommens , er ist wie ich kein wirklich LINKER sonder eher wie auch ich selbst politisch linker Liberaler bzw. linksliberal würde ich sagen.
Ja, linksliberal triffts. Mit leichtem Touch zum Konservativen. Kapitalismuskritik sehe ich da so gut wie keine. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Die Lebensumstände prägen eben doch. Also seine eigenen aktuellen, nicht die in seinem damaligen Elternhaus. Letztere haben nur den normalen Trotz beim Sprößling hervorgerufen.
Zuletzt geändert von Selina am Mo 10. Dez 2018, 15:52, insgesamt 1-mal geändert.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:03)

https://www.deutschlandfunkkultur.de/ei ... _id=153804

https://www.welt.de/welt_print/article3 ... -geht.html

So hatte ich es in Erinnerung, und dass an der DKP und selbst der damaligen Stamokap-Linken irgendetwas grün gewesen wäre, würde sich auch mit meinen persönlichen Erfahrungen nicht decken, da zum Beispiel die DKP ja kein grundsätzliche Problem an AKWs sah, sondern diese würden bei einer Änderung der Eigentumsverhältnisse automatisch sicher.

So, zurück zum progressiven Konservatismus und Herrn Mais Gedankenspielen.
Ok, dann lassen wir das "grün" bei Prechts damaliger Familie halt weg, aber links auf alle Fälle. Nur am Rande: Auch die Grünen haben einige linke Wurzeln (68er). Haben sie heute nur völlig ad acta gelegt. Im Übrigen bestätigen die beiden von Ihnen verlinkten Texte (Deutschlandfunk und Welt) das, was ich sagte: Precht hat seine linken Wurzeln ebenso abgestreift, wie das die erwähnten Grünen taten. Und wie das viele linke 68er taten. Er ist heute ein angepasster bürgerlicher Linksliberaler mit zeitweiliger Neigung zur FDP. Entspricht seinem Status.
Zuletzt geändert von Selina am Mo 10. Dez 2018, 16:19, insgesamt 1-mal geändert.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Benutzeravatar
BlueMonday
Beiträge: 3794
Registriert: Mo 14. Jan 2013, 17:13
user title: Waldgänger&Klimaoptimist

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

Wenn man fragt, was Konservatismus heute bedeute, dann ist das schon eine verstörende oder zerstörende Frage. Für mich ist genuiner Konservatismus etwas, das nach dem Ewigen sucht und darauf seine Hoffnung setzt, dass es also Dinge gibt, die bleiben, die sich nicht auf den Kopf stellen lassen, so etwas wie Naturgesetze, die gesucht und gefunden aber nicht erfunden und befohlen werden können. Es wird immer eine "natürliche" Reaktion auf den künstlichen Eingriff geben. Der Konservative ist pessimistisch ggü. Machbarkeitfantasien, die die politische "Gestaltung" des Ganzen betreffen. Er ist hingegen zuversichtlich, dass "in the long run" für diesen Übermut oder diese Hybris immer wieder die Rechnung präsentiert wird, dass eine Korrektur, eine teure Reaktion aus der Sphäre außerhalb des Politischen unausbleiblich ist. Im Griechischen gibt es dazu die Begriffe Kosmos und Taxis. Das eine ist die gewordene oder spontane Ordnung, das andere, die Taxis, die gemachte, befohlene, entworfene Ordnung. Der Kosmos überspannt die Taxis und überdauert alles. In diesem kosmischen Gewebe lebt der Konservative.

Wenn es Änderungen gab, dann wäre eine angemessenere Frage, wie weit man sich vom konservativen Denken heute entfernt hat. Das sind die beiden Möglichkeiten: man sucht im Ewigen einen Wesenskern oder man läuft einer bloßen Bezeichnung nach und schaut meinungslos, was die so Bezeichneten treiben und das wäre dann konservativ.
Also wenn, dann wäre das allenfalls ein relativistischer Konservatismus, der sich immer wieder inhaltlich (zeitgeistlich) neu ausrichtet, wonach auch immer. Die Frage ist dann nur, worin er sich von den anderen politischen Strömungen wesentlich unterscheidet.
Offenbar reichen aber heutzutage schon winzige Nuancen, um politisch Kapital zu schlagen.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

[quote="Selina"](10 Dec 2018, 15:33)

sorry, doppelt
Zuletzt geändert von Selina am Mo 10. Dez 2018, 16:18, insgesamt 1-mal geändert.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19723
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von sünnerklaas »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:45)

Der Konservativismus ist ohnehin eher negativ eingestellt er hat ein eher negatives Menschenbild dass zeigt die Union gerade derzeit z.b bei der Hartz Debatte und Reform des Sozialstaates, die Union setzt da ja weiter eher auf den dicken schikanierenden Bürokratieappart , den Menschen strafend zu sanktionieren statt positiv zu motivieren, Bevormundung statt Vertrauen diese Mentalität ist ja gerade Ausdruck eines negativen Menschenbildes a la Konservative. Ich als Liberaler kann damit nichts anfangen.
Bemerkenswert ist ja, dass die Hartz-Reformen erst durch die gestalterische Einflussnahme von CDU und CSU im Vermittlungsausschuss den extrem bürokratischen Charakter annahm. Hinterher wurde der SPD die alleinige Schuld gegeben.
Bemerkenswert waren übrigens damals die Parallelen zur Arbeitslosendebatte Anfang der 1930er Jahre. Auf dem Höchststand der Arbeitslosenzahl (ca. 8 bis 9 Millionen) fingen die Konservativen an, lautstarke Faulheitsdebatten zu führen und von der überbordenden Masse an Arbeitsscheuen zu schwadronieren.
Benutzeravatar
sünnerklaas
Beiträge: 19723
Registriert: Do 10. Aug 2017, 15:41

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von sünnerklaas »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 15:33)

Ok, dann lassen wir das "grün" bei Prechts damaliger Familie halt weg, aber links auf alle Fälle. Nur am Rande: Auch die Grünen haben einige linke Wurzeln (68er). Haben sie heute nur völlig ad acta gelegt. Im Übrigen bestätigen die beiden von dir verlinkten Texte (Deutschlandfunk und Welt) das, was ich sagte: Precht hat seine linken Wurzeln ebenso abgestreift, wie das die erwähnten Grünen taten. Und wie das viele linke Alt-68er taten. Er ist ein angepasster bürgerlicher Linksliberaler mit zeitweiliger Neigung zur FDP. Entspricht seinem Status.
Ich finde eines ja sehr bemerkenswert: Das Jahr 68 wird von vielen Konservativen als das politische Katastrophenjahr schlechthin angesehen. Fragt man dann explizit nach, was sie genau meinen, dann stellt man eines fest: es geht eigentlich nur um Sex.
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

Alpha Centauri hat geschrieben:(10 Dec 2018, 14:45)

Der Konservativismus ist ohnehin eher negativ eingestellt er hat ein eher negatives Menschenbild dass zeigt die Union gerade derzeit z.b bei der Hartz Debatte und Reform des Sozialstaates, die Union setzt da ja weiter eher auf den dicken schikanierenden Bürokratieappart , den Menschen strafend zu sanktionieren statt positiv zu motivieren, Bevormundung statt Vertrauen diese Mentalität ist ja gerade Ausdruck eines negativen Menschenbildes a la Konservative. Ich als Liberaler kann damit nichts anfangen.
Das Gefettete ist für mich der Kern des Konservatismus, wie man ihn heute tagtäglich erlebt: Das negative Menschenbild, das immer misstraut, unterstellt, Angst macht, einschüchtert. Kann ich nix Gutes dran finden.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

sünnerklaas hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:20)

Ich finde eines ja sehr bemerkenswert: Das Jahr 68 wird von vielen Konservativen als das politische Katastrophenjahr schlechthin angesehen. Fragt man dann explizit nach, was sie genau meinen, dann stellt man eines fest: es geht eigentlich nur um Sex.
:D

Ein bisschen mehr war es schon ;) Aber wie nahe die Konservativen den rechts außen Stehenden oft sind, sieht man genau in diesem Punkt. Auch der Neuen Rechten (wie der AfD) sind sämtliche Errungenschaften der 68er ein Dorn im Auge.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Benutzeravatar
BlueMonday
Beiträge: 3794
Registriert: Mo 14. Jan 2013, 17:13
user title: Waldgänger&Klimaoptimist

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:25)

Das Gefettete ist für mich der Kern des Konservatismus, wie man ihn heute tagtäglich erlebt: Das negative Menschenbild, das immer misstraut, unterstellt, Angst macht, einschüchtert. Kann ich nix Gutes dran finden.


Wie "konservativ" war dann erst ein System, das seine Bürger einschüchtern, einmauern, einsperren und bespitzeln musste.
Das ist das Gegenteil von Konservatismus. Das ist ein aussichtsloses gewaltsames Festhalten an einer Künstlichkeit.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:40)

Wie "konservativ" war dann erst ein System, das seine Bürger einschüchtern, einmauern, einsperren und bespitzeln musste.
Das ist das Gegenteil von Konservatismus. Das ist ein aussichtsloses gewaltsames Festhalten an einer Künstlichkeit.
Ja. Also kann man sagen: Vom Regen in die Traufe gekommen.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ein Terraner hat geschrieben:(10 Dec 2018, 15:28)

Progressiv ist das genaue Gegenteil von Konservatismus, dieses Wortgebilde das ist einfach nur wiedermal ein Oxymoron wie sie von Rechts immer häufiger auftauchen. Das einzige was daran diskussionswürdig ist, ist in welcher Tonne man das entsorgen sollte.
Nun, diese Tonne müsste ja auch einen demokratischen Sozialismus aufnehmen, für den sich das gleiche behaupten ließe, wenn man Begriffe rein historisch verwenden wollte.

Es bleibt dabei: Ein politischer Konservatismus ist erst einmal etwas anderes als ein konservativen Menschenbild. Letzteres setzt dem Menschen zum Beispiel im Sinne Gehlens als ein Mängelwesen, das der Institutionen für seine Lebenssicherung bedarf. Das unterscheidet den Konservatismus bei oft gleicher Wirtschaftspolitik vom Liberalismus, der den Menschen eben nicht als Mängelwesen, sondern das Individuum als solches und Einzelnen an sich für etwas von allen Institutionen Losgelöstes beschreibt. Es ist also in diesem Bereich vor allem die unterschiedlich gewichtete Rolle des Staates.

Davon wiederum entfernt sich Mai in seinem Artikel - denn ein Kommunitarismus würde dem Konservatismus seine Fixierung auf den starken Staat austreiben, ohne das Individuum in die absolute Bindungslosigkeit setzen zu wollen, wie ihr Hartmut Rosa im oben verlinkten Artikel nachgeht. Einem solchen progressiven Konservatismus würde vermutlich auch das reaktionäre Element fehlen. Dieses reaktionäre Element besteht in der Regel aus einem in irgendeine Vergangenheit gesetzten Idealzustand, den es wiederherzustellen gilt (im Sozialismus und Liberalismus liegt dieser Zustand in der Zukunft). Wo das fehlt - in den osteuropäischen Staaten wird gerade so ein Zustand fast manisch beschworen - wäre ein progressiver Konservatismus auch für gesellschaftliche Entwicklungen offener, als das in Polen oder Ungarn der Fall ist. Er würde den Untertanen ein wenig mehr Unabhängigkeit vom Staat verschaffen, als es beispielsweise den Grünen vorschwebt, da hat Mai sicherlich einen wichtigen Punkt angesprochen. Aber darüber hinaus bleibt es trotzdem vage und müsste mit Leben gefüllt werden. Doch hierfür lässt der nackte Kampf um die Macht in der Regel keine zeitlichen und geistigen Spielräume.
Benutzeravatar
Ein Terraner
Beiträge: 14308
Registriert: Sa 7. Mai 2016, 19:48
Wohnort: München

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Ein Terraner »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 18:18)

Nun, diese Tonne müsste ja auch einen demokratischen Sozialismus aufnehmen, für den sich das gleiche behaupten ließe, wenn man Begriffe rein historisch verwenden wollte.
Nicht wirklich, beim Sozialismus ist eine Wirtschaftsform und keine Staatsform, das Oxymoron was du meinst wäre eine demokratische Diktatur.
Alpha Centauri
Beiträge: 6512
Registriert: Mo 19. Jun 2017, 10:49

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Alpha Centauri »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:25)

Das Gefettete ist für mich der Kern des Konservatismus, wie man ihn heute tagtäglich erlebt: Das negative Menschenbild, das immer misstraut, unterstellt, Angst macht, einschüchtert. Kann ich nix Gutes dran finden.
In Bezug auf die Hartz Debatte und der Zukunft des Sozialstaates ist dass konservativ ( die Argumentationen eines Jens Spahn bei dem Thema sind ja bezeichnend) mitsamt der Faulenzerkeule und soziale Hängenmatten Rhetorik, steckt wie ich es beschrieb hinter Strafe und Sanktionen statt positive Motivation ( BGE) ein negatives Menschenbild womit kein liberal freiheitlich denkender Mensch wirklich was anfangen kann.
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ein Terraner hat geschrieben:(10 Dec 2018, 18:42)

Nicht wirklich, beim Sozialismus ist eine Wirtschaftsform und keine Staatsform, das Oxymoron was du meinst wäre eine demokratische Diktatur.
???

Der Sozialismus ist eine politische Ideologie wie auch der Liberalismus und der Konservatismus und wie diese mit einer bestimmten Philosophie unterlegt keinesfalls auf eine Wirtschaftsform begrenzt.
Benutzeravatar
Ein Terraner
Beiträge: 14308
Registriert: Sa 7. Mai 2016, 19:48
Wohnort: München

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Ein Terraner »

MäckIntaier hat geschrieben:(10 Dec 2018, 19:10)

???

Der Sozialismus ist eine politische Ideologie wie auch der Liberalismus und der Konservatismus und wie diese mit einer bestimmten Philosophie unterlegt keinesfalls auf eine Wirtschaftsform begrenzt.
Am Ende ist alles eine Ideologie, auch der Kapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft. Aber wo beißt sich bei dir jetzt der demokratische Sozialismus? In der Tatsache das der Sozialismus bis jetzt nur in Diktaturen auftauchte?
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Ein Terraner hat geschrieben:(10 Dec 2018, 19:19)

Am Ende ist alles eine Ideologie, auch der Kapitalismus und die Soziale Marktwirtschaft. Aber wo beißt sich bei dir jetzt der demokratische Sozialismus? In der Tatsache das der Sozialismus bis jetzt nur in Diktaturen auftauchte?
Dort, wo ggf. der progressive Konservatismus sich beißen würde. Der ist auch Thema. Zum Sozialismus kann man gerne eine Strang eröffnen.
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)

Wenn man fragt, was Konservatismus heute bedeute, dann ist das schon eine verstörende oder zerstörende Frage. Für mich ist genuiner Konservatismus etwas, das nach dem Ewigen sucht und darauf seine Hoffnung setzt, dass es also Dinge gibt, die bleiben, die sich nicht auf den Kopf stellen lassen, so etwas wie Naturgesetze, die gesucht und gefunden aber nicht erfunden und befohlen werden können. Es wird immer eine "natürliche" Reaktion auf den künstlichen Eingriff geben.
Das wären aber alles Dinge, die im Wesentlichen jenseits aller Politik angesiedelt wären.
BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)
Der Konservative ist pessimistisch ggü. Machbarkeitfantasien, die die politische "Gestaltung" des Ganzen betreffen. Er ist hingegen zuversichtlich, dass "in the long run" für diesen Übermut oder diese Hybris immer wieder die Rechnung präsentiert wird, dass eine Korrektur, eine teure Reaktion aus der Sphäre außerhalb des Politischen unausbleiblich ist. Im Griechischen gibt es dazu die Begriffe Kosmos und Taxis. Das eine ist die gewordene oder spontane Ordnung, das andere, die Taxis, die gemachte, befohlene, entworfene Ordnung. Der Kosmos überspannt die Taxis und überdauert alles. In diesem kosmischen Gewebe lebt der Konservative.
Aus diesem Pessimismus ggü. allen Machbarkeitsphantasien, was man um eine Skepsis gegen Menschheits- oder Menschenverbesserungsphantasien erweitern könnte, ergibt sich für mich persönlich der wichtigste Punkt konservativer Haltungen (nicht zu verwechseln mit einem politischen Konservatismus): Wer etwas ändern will, ist in der Beweispflicht, nicht diejenigen, die etwas bewahren wollen. Die Machbarkeitsphantasie muss sich also konkret präsentieren und über die Phantasterei, das infantile Wünschen hinausgehen.
BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)
Wenn es Änderungen gab, dann wäre eine angemessenere Frage, wie weit man sich vom konservativen Denken heute entfernt hat. Das sind die beiden Möglichkeiten: man sucht im Ewigen einen Wesenskern oder man läuft einer bloßen Bezeichnung nach und schaut meinungslos, was die so Bezeichneten treiben und das wäre dann konservativ.
Also wenn, dann wäre das allenfalls ein relativistischer Konservatismus, der sich immer wieder inhaltlich (zeitgeistlich) neu ausrichtet, wonach auch immer. Die Frage ist dann nur, worin er sich von den anderen politischen Strömungen wesentlich unterscheidet.
Offenbar reichen aber heutzutage schon winzige Nuancen, um politisch Kapital zu schlagen.
Das einzige, worin er sich unterscheiden könnte, wäre die Aufgabe aller teleologischen Geschichtsphilosophie. Aber spätestens seit den Achtzigern, seit Thatcher und Reagan und Fukuyama, ist auch der Konservatismus uneingeschränkt ins Lager der heilsgeschichtlichen Narrative gewechselt - und spätestens hier hat er von aller Skepsis gelassen.
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(10 Dec 2018, 11:50)

Das Nebeneinander von "Globalisten" und "Kommunitaristen" hat es eigentlich schon immer gegeben und das wird es auch weiter geben. Wobei sich durch diese harmonisierenden Begriffe der Rechts-Links-Konflikt nicht einfach hinwegreden lässt. So sehr sich das manche auch wünschen. Denn diesen Konflikt gibt es nach wie vor und der spitzt sich zu. Zumal es bei den ganzheitlich denkenden "Globalisten" nun mal mehr Linke und Linksliberale gibt als Konservative und weiter rechts Stehende. Und bei den "Kommunitaristen" - im Sinne von Regionalisierung und Nationalisierung - gibt es eindeutig mehr Rechte als Linke. Die Linken, die gleichfalls nationale Antworten bei der Migration, in der Wirtschaft und im Handel präferieren, die für "Grenzen dicht" und "Abschottung" sind, sind in dieser "Gruppe" deutlich in der Minderzahl. Es ist nur einfach etwas schicker und bequemer geworden, zu sagen, die politischen Richtungen "rechts" und "links" gibt es nicht mehr, sie hätten sich aufgelöst, der Riss gehe quer durch diese Richtungen. Das hängt auch mit eigenen Ängsten der Leute zusammen, die aufgrund ihrer Erfahrungen irgendwelche Arten von Bekenntnissen meiden wie der Teufel das Weihwasser und die um Gottes Willen nicht im "rechten Lager" mit dem Nazi-Stallgeruch landen wollen, aber eben auch nicht im "linken Lager", wo angeblich "Enteignung" und "Kollektivismus" drohen. Am Ende bleibt eine Art "neutrale" Beobachterposition. Man sitzt gemütlich im Ohrensessel und beschaut sich die Welt. Ok, so fern mir Letzteres (Ohrensessel-Passivität) auch ist, es ist immer noch besser, als rassistisch und fremdenfeindlich motiviert durch die Straßen zu marschieren.

Im Übrigen hats die Ohrensessel-Fraktion auch schon immer gegeben. Motto: "Sie mögen sich die Köpfe spalten, mag alles durcheinander gehn; doch nur zu Hause bleib's beim alten" (Goethe/Faust).
Neben der "Ohrensessel-Fraktion" gibts heute und aktuell aber eben noch so was wie die Gelbwesten-Fraktion. Da weiß man auch nicht bzw. die wissen selbst nicht, ob sie links oder rechts sein sollen bzw. sie wollen weder das eine noch das andere sein.

Ganz rational und nüchtern gesehen kann man in dem ziemlich zentralistisch angelegten Frankreich zu dem Schluss kommen, dass man irgendwo in der Provinz aufs Auto angewiesen und mit steigenden Benzinpreisen am Arsch ist. Und Leute in Paris unter Berufung auf Hegel von einem neuen Europa schwafeln. Und Konflikte wie dieser finden in verschiedener Form eben überal in derf Welt statt. Es wird nicht ohne einen Kompromiss gehen.

Oder sagen wir mal so: Es ist ist absolut nicht damit zu rechnen, dass sich der Konflikt zwischen Globalisten und Kommunitaristen einfach so und von allein auflösen wird. Der wird sich womöglich noch verstärken,
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Di 11. Dez 2018, 14:34, insgesamt 1-mal geändert.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(10 Dec 2018, 16:07)

Wenn man fragt, was Konservatismus heute bedeute, dann ist das schon eine verstörende oder zerstörende Frage. Für mich ist genuiner Konservatismus etwas, das nach dem Ewigen sucht und darauf seine Hoffnung setzt, dass es also Dinge gibt, die bleiben, die sich nicht auf den Kopf stellen lassen, so etwas wie Naturgesetze, die gesucht und gefunden aber nicht erfunden und befohlen werden können. Es wird immer eine "natürliche" Reaktion auf den künstlichen Eingriff geben. Der Konservative ist pessimistisch ggü. Machbarkeitfantasien, die die politische "Gestaltung" des Ganzen betreffen. Er ist hingegen zuversichtlich, dass "in the long run" für diesen Übermut oder diese Hybris immer wieder die Rechnung präsentiert wird, dass eine Korrektur, eine teure Reaktion aus der Sphäre außerhalb des Politischen unausbleiblich ist. Im Griechischen gibt es dazu die Begriffe Kosmos und Taxis. Das eine ist die gewordene oder spontane Ordnung, das andere, die Taxis, die gemachte, befohlene, entworfene Ordnung. Der Kosmos überspannt die Taxis und überdauert alles. In diesem kosmischen Gewebe lebt der Konservative.
Es ist immer richtig, zunächst mal die Begriffe zu hinterfragen. "Konservativ", bewahrend, ist erstmal ziemlich klar. "Progressiv", fortschreitend schon nicht mehr so ganz. "Fortschreitung" ist normalerweise nur unter halbwegs konstanten äußeren Bedingungen und innerer Systemstabilität möglich. Fortschreitung ist etwas anderes als Umordnung.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Dec 2018, 13:41)

Neben der "Ohrensessel-Fraktion" gibts heute und aktuell aber eben noch so was wie die Gelbwesten-Fraktion. Da weiß man auch nicht bzw. die wissen selbst nicht, ob sie links oder rechts sein sollen bzw. sie wollen weder das eine noch das andere sein.

Ganz rational und nüchtern gesehen kann man in dem ziemlich zentralistisch angelegten Frankreich zu dem Schluss kommen, dass man irgendwo in der Provinz aufs Auto angewiesen und mit steigenden Benzinpreisen am Arsch ist. Und Leute in Paris unter Berufung auf Hegel von einem neuen Europa schwafeln. Und Konflikte wie dieser finden in verschiedener Form eben überal in derf Welt statt. Es wird nicht ohne einen Kompromiss gehen.
Damit hast du natürlich recht. Die Gelbwesten nennen sich aus tiefster Seele "unpolitisch". Auch wenn ihre Straßenkämpfe gegen Steuer-Ungerechtigkeit, gegen "das System" und gegen Macron alles andere als wirklich unpolitisch sind. Jetzt kommt ja auch der Punkt, wo es allmählich kippt. Da könnten sich dann alle möglichen Extremisten davor spannen und den Karren irgendwohin ziehen. Mal sehen, wie es weitergeht. An demokratischen Gremien aus ihrer Mitte heraus, die dann mit der Regierung verhandeln, scheinen sie ja im Moment gar nicht interessiert zu sein. Trotzdem bleibe ich dabei (unabhängig von den Gelbwesten), die klassischen Rechts-Links-Verortungen spielen weiterhin eine Rolle, auch wenn es etwa bei Spritpreisen und anderen existenziellen Fragen mal queerbeet geht. Es gibt ja auch einen Unterschied zwischen Selbst- und Fremdverortungen. Pegida nannte sich auch lange "unpolitisch" und tut es wohl heute noch. Obwohl dieser Verein klar als rechts einzuordnen ist. Wenn nicht sogar als sehr weit rechts außen.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Bitte keine Gelbwesten, Pegida und ähnliche Figuren. Bleiben Sie einfach mal beim Thema, der Rest wird doch schon anderswo diskutiert. Danke.
Benutzeravatar
Selina
Beiträge: 17527
Registriert: Do 29. Sep 2016, 15:33

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Selina »

MäckIntaier hat geschrieben:(11 Dec 2018, 15:02)

Bitte keine Gelbwesten, Pegida und ähnliche Figuren. Bleiben Sie einfach mal beim Thema, der Rest wird doch schon anderswo diskutiert. Danke.
Sorry, aber Ihr "progressiver Konservatismus" ordnet sich im philosophischen und politischen Gefüge irgendwo zwischen allen diesen Polen oder Farben oder Seiten ein. Den Sachverhalt nun losgelöst von allen anderen Erscheinungen in der Gesellschaft diskutieren zu wollen, scheint mir gerade der ca­sus knack­sus zu sein. Unter den Gelbwesten sind sicher auch einige, die sich selbst "konservativ" nennen. Und das sicher nicht zu knapp. Im Übrigen ist der Begriff "progressiver Konservatismus" ein Oxymoron, wie hier ein User weiter oben richtig sagte.
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

Selina hat geschrieben:(11 Dec 2018, 15:16)

Sorry, aber Ihr "progressiver Konservatismus" ordnet sich im philosophischen und politischen Gefüge irgendwo zwischen allen diesen Polen oder Farben oder Seiten ein. Den Sachverhalt nun losgelöst von allen anderen Erscheinungen in der Gesellschaft diskutieren zu wollen, scheint mir gerade der ca­sus knack­sus zu sein. Unter den Gelbwesten sind sicher auch einige, die sich selbst "konservativ" nennen. Und das sicher nicht zu knapp. Im Übrigen ist der Begriff "progressiver Konservatismus" ein Oxymoron, wie hier ein User weiter oben richtig sagte.
Sagte er - aber es wurde ihm auch gesagt, warum es falsch ist. Es ist übrigens nicht "mein" Begriff, sondern Herrn Mais Begriff.
Benutzeravatar
BlueMonday
Beiträge: 3794
Registriert: Mo 14. Jan 2013, 17:13
user title: Waldgänger&Klimaoptimist

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

Fortschreitung also Fortschritt ist ja vor allem auch ein Werturteil, also in einer Änderung Gewinn statt rückschrittigen Verlust zu sehen.
Der Konservative glaubt im Gegensatz zum Progressiven nicht an einen linearen Fortschritt, der irgendwann in einem paradiesischen Omega endet. Er glaubt eher an geschichtliche Wellenbewegungen, an die "Wiederkehr des ewig Gleichen". Er ist kein hysterischer Interventionist. Seine Zeitpräferenz ist klein. Er kann warten und zusehen, Zuschauer, Historiker sein. Er weiß, dass jeder noch so große Koloss an seiner eigenen Schwere irgendwann wieder in seine Einzelteile zerbrechen wird. Er braucht keine Wettbewerbsbehörde. Auszuhalten, durchzuhalten, innezuhalten, das ist konservativ, sich nicht vom Lärm des Tages beeindrucken zu lassen.

Auch jemand wie Thatcher erinnert sich manchmal an das Konservative, etwa wenn sie sagt: "Es gibt keine Gesellschaft". Wenn sie ohne diese Gesellschaft darauf vertraut, dass die wirklichen Menschen wirken werden, dass die Welt ohne diese Gesellschaft nicht untergehen wird, dass im Gegenteil, ganz vernünftige Strukturen spontan entstehen werden. Konservatives Denken ist apolitisches Denken.

Versteht man unter konservativ nur bewahrend, dann löst man den Begriff auf, denn praktisch jeder will ja irgendetwas bewahren. Der eine bewahrt den Wald, der andere seine Familie, der Dritte alte DDR-Literatur, der Vierte den Sozialstaat, der Progressive das, was er als Fortschritt geschaffen hat... Ein Begriff hat aber nur in der Differenz, in der Scheidung eine Bedeutung.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(11 Dec 2018, 16:45)

Fortschreitung also Fortschritt ist ja vor allem auch ein Werturteil, also in einer Änderung Gewinn statt rückschrittigen Verlust zu sehen.
Der Konservative glaubt im Gegensatz zum Progressiven nicht an einen linearen Fortschritt, der irgendwann in einem paradiesischen Omega endet. Er glaubt eher an geschichtliche Wellenbewegungen, an die "Wiederkehr des ewig Gleichen". Er ist kein hysterischer Interventionist. Seine Zeitpräferenz ist klein. Er kann warten und zusehen, Zuschauer, Historiker sein. Er weiß, dass jeder noch so große Koloss an seiner eigenen Schwere irgendwann wieder in seine Einzelteile zerbrechen wird. Er braucht keine Wettbewerbsbehörde. Auszuhalten, durchzuhalten, innezuhalten, das ist konservativ, sich nicht vom Lärm des Tages beeindrucken zu lassen.

Auch jemand wie Thatcher erinnert sich manchmal an das Konservative, etwa wenn sie sagt: "Es gibt keine Gesellschaft". Wenn sie ohne diese Gesellschaft darauf vertraut, dass die wirklichen Menschen wirken werden, dass die Welt ohne diese Gesellschaft nicht untergehen wird, dass im Gegenteil, ganz vernünftige Strukturen spontan entstehen werden. Konservatives Denken ist apolitisches Denken.

Versteht man unter konservativ nur bewahrend, dann löst man den Begriff auf, denn praktisch jeder will ja irgendetwas bewahren. Der eine bewahrt den Wald, der andere seine Familie, der Dritte alte DDR-Literatur, der Vierte den Sozialstaat, der Progressive das, was er als Fortschritt geschaffen hat... Ein Begriff hat aber nur in der Differenz, in der Scheidung eine Bedeutung.
Ich kann diese Gedanken durchaus nachvollziehen. Aber immer schon bin ich am Ende zu dem Schluss gekommen ... Thatcher, Reagan, Neoliberalismus, "die Dinge geschehen lassen wollen" ... am Ende läuft dies auf ein religiöses Weltverständnis hinaus. Nicht als eine bestimmte religiös-kulturelle Richtung sondern abstrakt. Man muss auch und gerade als beinharter Neoliberalist daran glauben, dass irgendetwas im Universum Entropiewachstum verhindert, ganz grundsätzlich, und zum Beispiel auch eine Klimakatastrophe verhindern wird. Es kann gar nicht anders sein. Wall Street, London Stock Exchange usw. würden ja sonst nicht weiter funktionieren ...
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2018, 09:51)

Ich kann diese Gedanken durchaus nachvollziehen. Aber immer schon bin ich am Ende zu dem Schluss gekommen ... Thatcher, Reagan, Neoliberalismus, "die Dinge geschehen lassen wollen" ... am Ende läuft dies auf ein religiöses Weltverständnis hinaus. Nicht als eine bestimmte religiös-kulturelle Richtung sondern abstrakt. Man muss auch und gerade als beinharter Neoliberalist daran glauben, dass irgendetwas im Universum Entropiewachstum verhindert, ganz grundsätzlich, und zum Beispiel auch eine Klimakatastrophe verhindern wird. Es kann gar nicht anders sein. Wall Street, London Stock Exchange usw. würden ja sonst nicht weiter funktionieren ...
Der Neoliberalismus ist eine teleologische Geschichte wie andere Heilslehren auch, da auch er auf einen idealen Zustand der Menschheit unter den von ihm hierfür proklamierten Bedingungen ausgeht. Es hat so viele chiliastische Merkmle wie alle anderen religiösen und säkularen Ideologien auch. Und dass Thatcher oder Reagan "die Dinge geschehen lassen" haben, ist doch ein Märchen. Beide haben mit ungeheuer starken staatlichen Mitteln versucht, ihn durchzusetzen, auch mit kriegerischen Mitteln. Insofern halte ich das für einen Mythos, dass die beiden etwas geschehen ließen.
Benutzeravatar
BlueMonday
Beiträge: 3794
Registriert: Mo 14. Jan 2013, 17:13
user title: Waldgänger&Klimaoptimist

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von BlueMonday »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Dec 2018, 09:51)

Ich kann diese Gedanken durchaus nachvollziehen. Aber immer schon bin ich am Ende zu dem Schluss gekommen ... Thatcher, Reagan, Neoliberalismus, "die Dinge geschehen lassen wollen" ... am Ende läuft dies auf ein religiöses Weltverständnis hinaus. Nicht als eine bestimmte religiös-kulturelle Richtung sondern abstrakt. Man muss auch und gerade als beinharter Neoliberalist daran glauben, dass irgendetwas im Universum Entropiewachstum verhindert, ganz grundsätzlich, und zum Beispiel auch eine Klimakatastrophe verhindern wird. Es kann gar nicht anders sein. Wall Street, London Stock Exchange usw. würden ja sonst nicht weiter funktionieren ...
Diese "laissez faire"-Attitüde hatte noch der klassische Liberalismus. Der Neoliberale wie Neokonservative ist ein Staatsgläubiger. Du nennst es Religion, ich würde es Transzendenz nennen.
Und auch das ist nicht ganz zutreffend. Im Grunde ist es transzendental in Differenz zu transzendent (so wie es Kant unterscheidet), also die Voraussetzungen des Seins überhaupt in sich zu suchen und zu finden, a priori. In diesem Sinne: "Der Mensch weiß von Gott in dem Sinne, dass Gott im Menschen von sich selber weiß." (Hegel) Ein Wissen a priori, vor der Erfahrung. Ein Gott, der nicht außerhalb, sondern innerhalb gefunden wird. Oder die Figur des Jesus (wie sie ein Nietzsche verstanden hat) war in dem Sinne konservativ, seine frohe Botschaft: Das Reich ist da, hier und jetzt, in euch, durch euch. Diese völlige Diesseitigkeit.

Nun ist gerade der Staatsgläubige der Religiöse, der Heilsverkünder. Was ist denn der Staat? Ist der Staat real? Der Staat ist eine Vorstellung, die Handlungsweisen bewirkt, also nur als Vorstellung wirklich.
Worin besteht diese Vorstellung?

In einem anderen Thread schrieb ich dazu:

"Zwei Akteure haben ein Vertrauensproblem. Die Spieltheorie nennt es auch "Gefangenendilemma". Man kommt nicht zur für beide Seiten besten Lösung (die Taube auf dem Dach), denn jede Seite fürchtet den Defekt (Betrug, Vertragsbruch) durch die andere Seite. Durch den Defekt gewinnt nur die eine Seite und spart sich die Gegenleistung. Durch das wundersame Hinzutreten eines dritten Akteurs - der "Staat" - der auf einer höheren Ebene über den beiden anderen Aktueren schwebt, löst sich scheinbar das Problem auf. Die ursprünglichen Akteure geben dazu die Waffen an diesen Dritten ab, entwaffnen sich, geben ihre Macht ab. Und die dritte Partei wacht nun über die Einhaltung von Versprechen (Verträge etc.). Jeder Defekt wird geahndet und bestaft und erscheint dadurch weitaus weniger lukrativ. Die Taube wird vom Dach geholt. Fantastisch.

Nur hat man damit leider ein gewaltiges neues Vertrauensproblem und Defektionspotential geschaffen. Man muss nun dem Gewaltmonpolisten vertrauen, seine Macht nicht zu missbrauchen. Und dafür braucht es dann schon viel Glauben und religiösen Kult. Hymnen, Flaggen, Symbole, Oberhäupter, Vertreter, Diener, Amtskutten als Ausweis, Riten und Zeremonien, Stätten der Glaubensbekundung, Gründungsmythen ("Gesellschaftsvertrag"), heilige Texte ("Verfassungen")... die ganze Palette eines tiefgläubigen Brauchtums."

Konservatismus ist nun sicherlich nicht antiautoritär. Es geht um die Differenz zwischen Autoritätsgläubigkeit und Autoritätsbedürftigkeit. Die Autorität geht im letzteren Falle vom Bedürftigen aus, er ist kein ohnmächtig Ausgelieferter, er ist damit ein Verantwortlicher. Er erschafft sozusagen seinen Führer, so wie er ihn auch wieder abschaffen kann, wenn er nicht mehr bedürftig ist. Es ist keine Besessenheit. Der Konservative gibt sozusagen seine Waffen nicht ab, er bleibt auf der Hut.
ensure that citizens are informed that the vaccination is not mandatory and that no one is under political, social or other pressure to be vaccinated if they do not wish to do so;
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

MäckIntaier hat geschrieben:(12 Dec 2018, 10:01)

Der Neoliberalismus ist eine teleologische Geschichte wie andere Heilslehren auch, da auch er auf einen idealen Zustand der Menschheit unter den von ihm hierfür proklamierten Bedingungen ausgeht. Es hat so viele chiliastische Merkmle wie alle anderen religiösen und säkularen Ideologien auch. Und dass Thatcher oder Reagan "die Dinge geschehen lassen" haben, ist doch ein Märchen. Beide haben mit ungeheuer starken staatlichen Mitteln versucht, ihn durchzusetzen, auch mit kriegerischen Mitteln. Insofern halte ich das für einen Mythos, dass die beiden etwas geschehen ließen.
Das wird wohl richtig sein. "Geschehen lassen" hieß wohl eher "Die machen lassen und nicht durch staatliche Eingriffe behindern, die ohnehin die Fäden in der Hand halten". Heute sind das vor allem die großen Technologie-Konzerne.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Benutzeravatar
schokoschendrezki
Beiträge: 19263
Registriert: Mi 15. Sep 2010, 16:17
user title: wurzelloser Kosmopolit
Wohnort: Berlin
Kontaktdaten:

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von schokoschendrezki »

BlueMonday hat geschrieben:(12 Dec 2018, 13:34)
Nur hat man damit leider ein gewaltiges neues Vertrauensproblem und Defektionspotential geschaffen. Man muss nun dem Gewaltmonpolisten vertrauen, seine Macht nicht zu missbrauchen. Und dafür braucht es dann schon viel Glauben und religiösen Kult. Hymnen, Flaggen, Symbole, Oberhäupter, Vertreter, Diener, Amtskutten als Ausweis, Riten und Zeremonien, Stätten der Glaubensbekundung, Gründungsmythen ("Gesellschaftsvertrag"), heilige Texte ("Verfassungen")... die ganze Palette eines tiefgläubigen Brauchtums."
Das alles betrifft den Staat als reales Macht-Konstrukt. Der kann sich tatsächlich nur über solche Kulte halten. Über Nationalhymnen absingen und Ehrenformationen abschreiten. Und viele Menschen glauben auch nur gerne daran.

Mir ging es um die ganz abstrakte Frage, ob das Universum gegenüber dem Menschen und seinen Werten gleichgültig ist oder ob es einen der Natur innewohnenden Hang zum Nicht-Destruktiven gibt.

Bei Kierkegaard heißt es (sinngemäß) "das Dasein riecht nach nichts". Sprich: Dem Universum ist es völlig gleichgültig, ob die Saurier aussterben oder ein paar Millionen Jahre später die Menschen. Und das heißt auf der anderen Seite: Wenn den Menschen ihr eigenes Dasein irgendetwas bedeutet, müssen sie, wenn sie von einem gottlosen, gleichgültigen Universum ausgehen, irgendetwas tun. Selber Gott spielen. Dass das in den meisten Fällen schief geht, ist hinlänglich bekannt. Und Gott spielen in Form eines Staats ist wahrscheinlich die gängigste Variante dieses Spiels. Aber es nützt nix: Irgendwie muss der Mensch sich aktiv verhalten. Politisch ist das ja weniger abstrakt und philosophisch und heißt zum Beispiel: Die Macht der großen IT-Konzerne einschränken. Oder auch das Schreckensszenario eines neuen Völker- und Nationenfrühlings im 21. Jahrhundert verhindern.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
Stoner

Re: Progressiver Konservatismus

Beitrag von Stoner »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Dec 2018, 08:12)

Das alles betrifft den Staat als reales Macht-Konstrukt. Der kann sich tatsächlich nur über solche Kulte halten. Über Nationalhymnen absingen und Ehrenformationen abschreiten. Und viele Menschen glauben auch nur gerne daran.

Mir ging es um die ganz abstrakte Frage, ob das Universum gegenüber dem Menschen und seinen Werten gleichgültig ist oder ob es einen der Natur innewohnenden Hang zum Nicht-Destruktiven gibt.

Bei Kierkegaard heißt es (sinngemäß) "das Dasein riecht nach nichts". Sprich: Dem Universum ist es völlig gleichgültig, ob die Saurier aussterben oder ein paar Millionen Jahre später die Menschen. Und das heißt auf der anderen Seite: Wenn den Menschen ihr eigenes Dasein irgendetwas bedeutet, müssen sie, wenn sie von einem gottlosen, gleichgültigen Universum ausgehen, irgendetwas tun. Selber Gott spielen. Dass das in den meisten Fällen schief geht, ist hinlänglich bekannt. Und Gott spielen in Form eines Staats ist wahrscheinlich die gängigste Variante dieses Spiels. Aber es nützt nix: Irgendwie muss der Mensch sich aktiv verhalten. Politisch ist das ja weniger abstrakt und philosophisch und heißt zum Beispiel: Die Macht der großen IT-Konzerne einschränken. Oder auch das Schreckensszenario eines neuen Völker- und Nationenfrühlings im 21. Jahrhundert verhindern.
Dann müsste aber gesagt werden, welcher Ordnungsfaktor bei einer Ablösung der Völker und Nationen gelten soll. Ob der Krieg nun unter Abspielung der Nationalhymne und unter wehender Fahne oder unter freier Musikwahl mit dem Logo irgendeines privaten Kriegsanbieters geführt wird, scheint vom Ergebnis her ziemlich egal. Wer Völker und Nationen überwinden möchte, erzählt eine Heilsgeschichte, die einen Menschen anstrebt, wie es ihn nie gab.
Antworten