Auszüge:
SPIEGEL ONLINE: Herr Schmidt-Denter, wozu braucht man eigentlich Nationalhymnen?
Ulrich Schmidt-Denter: Der Nationalstaat repräsentiert sich ja wie eine Familie: Man gehört zusammen. Um diese sinnbildliche Verwandtschaft herzustellen, braucht man gewisse Symbole wie die Flagge oder eben die Nationalhymne. Sie hat einen besonders hohen Stellenwert, weil Musik stärker an die Emotionen heranreicht als etwa die Verfassung.
Worum es mir hier geht, ist weniger, warum Özil die Nationalhymne nicht mit singt (wenn der mehr Emotionen haben möchte, dann würde er doch gerne mitsingen), sondern, ob unsere Gesellschaft mehr Dinge für das Gemüt braucht, Dinge, die gemeinschaftliche Emotionen, gemeinsames Erleben schafft.SPIEGEL ONLINE: Das heißt: Die Nachfrage ist da, aber das Angebot der Deutschen ist nicht attraktiv genug?
Schmidt-Denter: Jedenfalls stößt die deutsche Art der nationalen Identitätsvermittlung viele ausländische Jugendliche ab. Sie macht es ihnen schwer, sich mit Deutschland zu identifizieren. Und insbesondere junge Türken wenden sich von daher eher einer türkischen Identität zu. Die sie stark idealisieren, klar. Aber wenn es bei Erdogan Nationalstolz zu kaufen gibt und bei den Deutschen nur Schuld, Scham und Befangenheit, dann muss man sich nicht wundern, wenn beim ersten Kiosk die Schlange länger ist als beim zweiten.
Übrigens ist die Argumentationskette des Wissenschaftlers auch für die Religion gültig: Die allermeisten Menschen, die religiös sind, sind es, weil religiöse Handlungen die zu positiven Gemeinschaftserlebnissen führen.