think twice hat geschrieben:(06 Dec 2017, 19:46)
Ich kenne Selina nicht persönlich, aber ich glaube, sie ist einer der anständigsten Menschen in diesem Forum. Sie ist klar links und hasst rechtes Gedankengut. Na und? Hast du dich schon mal mit ihren Gedanken und Meinungen beschäftigt? Bist du schon mal auf sie eingegangen? Du bist doch diejenige, die jeden für doof erklärt, der dir und deinen aus dem Hut/Internet gezauberten Koryphaeen nicht vorbehaltlos zustimmt.
Danke. Wirklich nett von dir
Der Witz ist vor allem, dass ich hier überhaupt nicht vordergründig über den Sozialismus sprach. Nur mit nem halben Nebensatz, über den sich nun viele hier enorm aufregen. Dabei ging es mir in meinen Postings weiter oben vor allem um die Zeit
nach der Wende, als für die ehemaligen Ostblockstaaten erstmal alles wegbrach. Und ich sprach darüber, dass der real existierende heutige Kapitalismus verantwortlich dafür ist, dass sich etliche Leute wieder auf die "eigene Kultur", "die Identität", "das Nationale", "das Verbindende" zurückziehen. Das meiste, was Leute denken und sagen, hat nun mal seinen Ursprung, seine Basis in den Lebensverhältnissen, in den Macht-, Eigentums- und Wirtschaftsverhältnissen.
Noch mal was zum Sozialismus: Ich hatte es hier schon angedeutet, dass auch meine Familie unter dem System damals zu leiden hatte. Wir waren allesamt keine Privilegierten, sondern heftige Kritiker von Staat und SED. Dafür hatten wir viele Nachteile und Bestrafungen (mit üblen praktischen Auswirkungen) zu ertragen. Dennoch weiß ich hundertprozentig und aus eigener erlebter Erfahrung, dass es damals soziale Selbstverständlichkeiten gab und man sich nicht wie heute mit solchen entwürdigenden Hartz-vier-Geschichten herumschlagen musste. Und es gab etliche andere Dinge, die einfach mal gut waren. Fast 90 Prozent der Frauen waren berufstätig und das zum größten Teil auch richtig gerne. Das machte sie finanziell unabhängig von ihren Männern, was ihrem Selbstbewusstsein sehr gut tat. Seit 1972 konnten die Frauen eine Schwangerschaft ungestraft abbrechen lassen, dafür gab es eine klare gesetzliche Grundlage. Das Ergebnis: Der befürchtete starke Geburtenrückgang durch die Abbrüche ist damals ausgeblieben. Die Frauen bekamen weiterhin viele Kinder, und das trotz des Abbruch-Gesetzes. Die Geburtenrate in der DDR gehörte weltweit zu den höchsten (sie ging erst nach der Wende rapide in den Keller, als keine Perspektive, keine wirtschaftliche Sicherheit, keine Zukunftsplanung in Sicht war). Es gab genügend Kita-Plätze und die polytechnische Schulbildung hatte schon damals eine Art Ganztagsschulcharakter. Vertreter skandinavischer Länder schauten sich das Schulsystem in der DDR genau an und bezeichneten es als vorbildlich.
Und was schoko mit "kollektivistisch" beschreibt, auch das hat sich für den Einzelnen unterschiedlich dargestellt. Ich zum Beispiel war nie in irgendwelchen Gruppen oder Kollektiven, wo es "kollektivistisch" zuging, sondern meistens in Gemeinschaften, die sich aus ganz verschiedenen, bunt zusammengewürfelten Leuten zusammensetzten. Und in diesen Gemeinschaften war niemand obrigkeitshörig und angepasst, dort wurde stets und ständig Systemkritik geäußert, wurden politische Witze gerissen und die Leute wurden nicht abgeholt von den Schlapphüten. Obwohl ich natürlich weiß, dass etliche andere durchaus abgeholt worden sind. Es war aber eben nicht so schwarz-weiß: Einmal Witz erzählt, zack ab in den Knast.
Kurz und gut: Es ist einfach eine Bildzeitungs-Ente, wenn die DDR einzig und alleine als bösartige Diktatur und menschenverachtendes System, das nur aus Stasi-Knast und Verfolgung bestand, beschrieben wird. All das gab es natürlich, aber eben auch die andere, völlig normale und alltägliche Seite. Menschen haben Berufe erlernt und sie (zum Teil hochmotiviert) ausgeübt, Familien gegründet, sie hatten ne Menge Hobbies, konnten zu ihrem Bedauern in den Ferien zwar nur im Osten herumreisen, taten das dafür aber sehr ausgiebig, sie saßen oft in Klubs zusammen, amüsierten sich und gingen nicht ständig in Sack und Asche. Sie waren wütend, dass es keine Reisefreiheit gab, dass die Alte-Herren-Riege (Politbüro) nicht endlich mal abdankte und dass man ewig lange auf son Scheißauto warten musste. Und und und. Sie haben aber gelebt, viele sogar recht gut, denn der bescheidene Wohlstand der DDR-Haushalte war den Lebensverhältnissen in den anderen sozialistischen Staaten um ein Vielfaches voraus.
Ich finde einfach, man sollte mit derselben kritischen Sicht, mit der man den nun schon so lange verflossenen Sozialismus betrachtet, mal auf das jetzige System schauen. Das ist ganz bestimmt auch nicht das Ende der Geschichte und ich sehe vieles, was die Menschen klein macht und verdrossen - trotz aller Freiheit und aller Demokratie. Sie sind frei und doch wieder nicht. Wer die nötige Kohle hat, kann sich alles kaufen. Im Zweifel sogar die bessere medizinische Betreuung. Und die mit ganz viel Knete kaufen sich sogar politischen Einfluss. Und wer sich den globalen Kapitalismus anschaut, sieht an allen Ecken und Enden Verfall, Krise, Krieg, Not, Krankheit, Umweltzerstörung. Wo bleibt da die Systemkritik? Wo?
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz