Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

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ryu1850
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von ryu1850 »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(02 Dec 2017, 21:49)

Am einfachsten geht das, wenn du dir überlegst, was dich mit den dreien verbindet.
Ich finde bei mir nichts.
Was ist denn bei dir? Du sagst die Kultur sind mehr als die Gesetze die wir achten. Was verbindet dich denn mit den 3en?
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schokoschendrezki
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(02 Dec 2017, 21:04)

Über den Liberalismus gibt's vielleicht mal einen eigenen Thread. Für ihn zieht die Abendröte auf, er wird nach dem kurzen aber heftigen Leben des Faschismus und dem an Altersschwäche dahingeschiedenen Kommunismus als letzter der drei ungleichen und doch aufeinander bezogenen Brüder sein Leben aushauchen, wenn er sich weiterhin auf den Staat als seinen Hauptfeind konzentriert.
Wie kann er das. Wenn er die Rechtsordnung als Basis und Garant für persönliche Freiheit ansieht. Wie schon geschrieben: Von Grundgesetz und Demokratieprinzip bis hinunter zu Straßenverkehrsordnung und Schulpflicht. Er weiß doch, dass er dafür Verfassungsgericht, Justiz, Polizei, Bildungssystem usw. braucht. Und dass das auch eine Stange Geld kostet. Wer das nicht akzeptiert, kann doch eigentlich kein Liberaler im eigentlichen SInne sein. Mal so ganz naiv gesagt.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Sextus Ironicus
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

ryu1850 hat geschrieben:(02 Dec 2017, 22:12)

Ich finde bei mir nichts.
Was ist denn bei dir? Du sagst die Kultur sind mehr als die Gesetze die wir achten. Was verbindet dich denn mit den 3en?
Ja, dann ist das so bei dir. Wenn du als Flüchtling ohne Mittel und Kontake irgendwo in Südostasien landen würdest und kein Weg nach Europa, nach Deutschland zurückführte, meinst du es würde dir reichen, wenn du dort die Gesetze einhältst, um ein Mitglied der Gesellschaft zu werden? Und wenn dir dann die drei als Mitflüchtlinge begegnen, glaubst du, es würde dich dann mit ihnen auch nur das Einhalten verbinden?

Ich bin immer wieder erstaunt, wie a-historisch, wie völlig anti-anthropologisch, a-sozial, anti-(entwicklungs)psychologisch Menschen an solche Themen rangehen. Ich kenne das eigentlich sonst nur von tief religiösen Menschen aus dem Unterricht, die Evolution ablehnen und behaupten, Gott habe sie genau als derjenige gemeint, der sie sind und der sie unter allen Bedingungen geworden wären. So ähnlich, wenn auch säkular ist das, was du sagst, auch.

Du sagst: Ich finde nichts bei mir. Also gibt es das nicht? In Südostasien würden sie sich, falls sie es verstehen könnten, halbtot lachen. Was euch dort, falls ihr alle vier zu diesem Ergebnis dort kämt, verbände, wäre euer Paria-Dasein. Denn da ihr eure Kultur nicht verstehen könnt und euch aufs Gesetzeeinhalten beschränken würdet, würdet ihr dort einfach durchfallen.

Was ich mit denen teile, hatte ich schon oben mal an einem Beispiel erläutert. Ich teile, falls du hier aufgewachsen sein solltest, mit dir zum Beispiel die Tatsache, dass wir beide unter bestimmten Sozialisierungsbedingungen aufgewachsen bin. Die uns zu dem gemacht haben, was und wer wir sind.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(03 Dec 2017, 01:30)

Wie kann er das. Wenn er die Rechtsordnung als Basis und Garant für persönliche Freiheit ansieht. Wie schon geschrieben: Von Grundgesetz und Demokratieprinzip bis hinunter zu Straßenverkehrsordnung und Schulpflicht. Er weiß doch, dass er dafür Verfassungsgericht, Justiz, Polizei, Bildungssystem usw. braucht. Und dass das auch eine Stange Geld kostet. Wer das nicht akzeptiert, kann doch eigentlich kein Liberaler im eigentlichen SInne sein. Mal so ganz naiv gesagt.
Zur Erinnerung:


„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

– Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(03 Dec 2017, 09:38)

Ja, dann ist das so bei dir. Wenn du als Flüchtling ohne Mittel und Kontake irgendwo in Südostasien landen würdest und kein Weg nach Europa, nach Deutschland zurückführte, meinst du es würde dir reichen, wenn du dort die Gesetze einhältst, um ein Mitglied der Gesellschaft zu werden? Und wenn dir dann die drei als Mitflüchtlinge begegnen, glaubst du, es würde dich dann mit ihnen auch nur das Einhalten verbinden?

Ich bin immer wieder erstaunt, wie a-historisch, wie völlig anti-anthropologisch, a-sozial, anti-(entwicklungs)psychologisch Menschen an solche Themen rangehen. Ich kenne das eigentlich sonst nur von tief religiösen Menschen aus dem Unterricht, die Evolution ablehnen und behaupten, Gott habe sie genau als derjenige gemeint, der sie sind und der sie unter allen Bedingungen geworden wären. So ähnlich, wenn auch säkular ist das, was du sagst, auch.

Du sagst: Ich finde nichts bei mir. Also gibt es das nicht? In Südostasien würden sie sich, falls sie es verstehen könnten, halbtot lachen. Was euch dort, falls ihr alle vier zu diesem Ergebnis dort kämt, verbände, wäre euer Paria-Dasein. Denn da ihr eure Kultur nicht verstehen könnt und euch aufs Gesetzeeinhalten beschränken würdet, würdet ihr dort einfach durchfallen.

Was ich mit denen teile, hatte ich schon oben mal an einem Beispiel erläutert. Ich teile, falls du hier aufgewachsen sein solltest, mit dir zum Beispiel die Tatsache, dass wir beide unter bestimmten Sozialisierungsbedingungen aufgewachsen bin. Die uns zu dem gemacht haben, was und wer wir sind.
Den Gedanken dahinter kann man übrigens auch in theoretisch auf den Pubkt bringen: Von der Tatsache, dass das Verbindende aufgrund seiner alltäglichen Selbstverständlichkeit nicht ständig ins Bewusstsein dringt, kann nicht darauf geschlossen werden, es gäbe dieses Verbindende nicht. So, wie Glück erst nach einem plötzlichen Negativereignis nach seinem Ende als etwas, das gewesen ist, ins Bewusstsein dringt, so ist das mit dem Verbindenden in meinem Gedankenspiel Flucht nach Südostasien auch. Spätestens dort würde einem klar, was einen mit dem Hausmeister, dem Lehrer und dem Aufsichtsratvorsitzenden verbindet.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von ryu1850 »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(03 Dec 2017, 09:38)
Ich teile, falls du hier aufgewachsen sein solltest, mit dir zum Beispiel die Tatsache, dass wir beide unter bestimmten Sozialisierungsbedingungen aufgewachsen bin. Die uns zu dem gemacht haben, was und wer wir sind.
Zu was außer zu Menschen die sich an Gesetze halten wurden wir denn sozialisiert?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

ryu1850 hat geschrieben:(03 Dec 2017, 12:54)

Zu was außer zu Menschen die sich an Gesetze halten wurden wir denn sozialisiert?
Ich mach keine Stöckchenspiele :D
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von ryu1850 »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(03 Dec 2017, 13:24)

Ich mach keine Stöckchenspiele :D
Das beantwortet meine Frage nicht. Was haben wir beide gemeinsam, außer den Gesetzen an die wir uns halten?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Kürzlich in der S-Bahn: Eine Gruppe von Menschen in drei Generationen (Großeltern, Eltern, Enkel vermutlich) über und über in irgendwelchen Fantrachten für (vemutlich) irgendeinen Fußball- oder Eishockey-Club. Ich habe auch nicht die allerleisteste Ahnung, worum es bei solchen kulturellen Ritualen eigentlich geht. Was eigentlich hinter einem Begriff wie "Fankultur" steht. Was sich in einem Bereich, den man mir mit "Fankurve" bezeichnet, eigentlich abspielt. Ebensogut hätten Marsmenschen neben mir sitzen können.

Noch die 60er, 70er waren in Europa doch noch sehr von gemeinschaftlich ausgeübten kulturellen Ritualen geprägt. Vorabendserie, Abendbrot, Tagesschau usw. Die von allen verstanden wurden. Es gehört nicht sehr viel Prophetie dazu, vorherzusagen, dass wir uns, insbesondere durch die Entwicklung digitaler Medien, schon kurzrfristig in einer Realität völlig disparater Lebenswelten auch innerhalb geographisch lokaler Räume befinden werden.

Für mich besteht zwischen einer Ansammlung von 40, 50 Frauen mit Kopftuch und Kindern in Neukölln und eine Gruppe von EHC-Fans in der S-Bahn kein wesentlicheri Unterschied. In beiden Fällen ist es eine Konfrontation mit einer Lebenswelt, die mir vollkommen fremd ist.

Zu dieser gesellschaftlichen Fragmentierung kommt es so oder so. Oder ist es schon gekommen. Ob mit oder ohne Flüchtlingsphänomen. Wie damit anders umgehen, als sich auf die Gültigkeit einer Rechtsordnung als letztes, verbleibendes Regularium zu berufen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Zunder »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(03 Dec 2017, 09:59)

Zur Erinnerung:
Böckenförde hat mit der "Homogenität der Gesellschaft" allerdings keine ethnische Homogenität gemeint, sondern die breite gesellschaftliche Anerkennung der Werte, die der freiheitlichen Rechtsordnung zu Grunde liegen.

Für die Freiheit ist die Gesellschaft verantwortlich, nicht der Staat.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(03 Dec 2017, 09:38)
Du sagst: Ich finde nichts bei mir. Also gibt es das nicht? In Südostasien würden sie sich, falls sie es verstehen könnten, halbtot lachen. Was euch dort, falls ihr alle vier zu diesem Ergebnis dort kämt, verbände, wäre euer Paria-Dasein. Denn da ihr eure Kultur nicht verstehen könnt und euch aufs Gesetzeeinhalten beschränken würdet, würdet ihr dort einfach durchfallen.
Du darfst die "Berufung auf eine Rechtsordnung" nicht einfach auf "Gesetzeeinhalten" verkürzen. Nur als ein Beispiel: Die KZ-Gedenkstätten in Deutschland werden im wesentlichen durch Stiftungen getragen. Für die es entsprechende rechtliche Grundlagen gibt. Und auf der anderen Seite gibt es gesetzlich festgelegte Bildungsrichtlinien. Zum Beispiel die landesbezogenen Schulgesetze. Im ersten Satz des ersten Paragrpahen des ersten Teils des Berliner Schulgetzes heißt es dazu:
Auftrag der Schule ist es, alle wertvollen Anlagen der Schülerinnen und Schüler zur vollen Entfaltung zu bringen und ihnen ein Höchstmaß an Urteilskraft, gründliches Wissen und Können zu vermitteln. Ziel muss die Heranbildung von Persönlichkeiten sein, welche fähig sind, der Ideologie des Nationalsozialismus und allen anderen zur Gewaltherrschaft strebenden politischen Lehren entschieden entgegenzutreten sowie das staatliche und gesellschaftliche Leben auf der Grundlage der Demokratie, des Friedens, der Freiheit, der Menschenwürde, der Gleichstellung der Geschlechter und im Einklang mit Natur und Umwelt zu gestalten.
Anders gesagt: Das, was in diesem Strang schon einigemale als "Erinnerungskultur" erwähnt wurde, ist voll und ganz notwendige Folge unserer "Rechtsordnung". Dabei ist aber nicht das Herumreiten auf formalen Paragrafen wichtig, sondern genau umgekehrt: Die Absicherung, dass es jenseits dieser festgeschriebenen Regeln keinerlei Beschränkungen, keinerlei Vorgaben gibt. Dass der Mensch vollkommen frei machen kann, wie er will.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

Zunder hat geschrieben:(04 Dec 2017, 09:52)

Böckenförde hat mit der "Homogenität der Gesellschaft" allerdings keine ethnische Homogenität gemeint, sondern die breite gesellschaftliche Anerkennung der Werte, die der freiheitlichen Rechtsordnung zu Grunde liegen.
Schon klar, dass es bei einigen da falsch klingelt. Aber das ist nicht mein Problem, wenn dieser oder jener versteht, was er verstehen will :D
Zunder hat geschrieben:(04 Dec 2017, 09:52)
Für die Freiheit ist die Gesellschaft verantwortlich, nicht der Staat.
Eben. Und mit dem Verlust der Homogenität, d.h. mit dem Übergang vom "Wert" des Allgemeinen auf die multiplen "Werte" des Besonderen verliert sich ein Grundkonsens, und diese Werte müssen immer stärker gegeneinander durchgesetzt bzw. zwangsweise gleichgesetzt werden. Das kann die Gesellschaft der Singularitäten nicht mehr leisten, sondern muss die Dinge mit den "Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen". Das ist ja der Grundgedanke hinter Konzepten wie identity politics bzw. das sind ihre Folgen. Und das ist die Variante, bei der sich der Liberalismus von innen her selbst auffrisst, wenn sie erfolgreich ist. Die Alternative besteht darin, eine Gegenbewegung auf den Plan zu rufen, die dann das Allgemeine mit Zwang durchsetzt. Anti-liberale Nomokratien sind beide, nur auf andere Art.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Wir leben in einer Gesellschaft, die vorschreibt, was zu tun ist und was zu lassen ist. Und die eben nicht vorschreibt, wie man zu sein hat.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(04 Dec 2017, 09:52)
Für die Freiheit ist die Gesellschaft verantwortlich, nicht der Staat.
Grundverkehrt. Für die Freiheit ist jedes Individuum selbst verantwortlich. Indem es sie entweder wahrnimmt oder eben nicht.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(04 Dec 2017, 09:52)

Böckenförde hat mit der "Homogenität der Gesellschaft" allerdings keine ethnische Homogenität gemeint, sondern die breite gesellschaftliche Anerkennung der Werte, die der freiheitlichen Rechtsordnung zu Grunde liegen.
Dieses mittlerweile fast totzitierte Böckenförde-Diktum ist vor allem im Zusammenhang mit der Säkularisierung des Staats entstanden. Der Staat schafft aber etwa mit Bildungssystem und Bemühung um sozialen Ausgleich durchaus auf freiheitliche Art Voraussetzungen, mit denen er die eigene freiheitliche Fortexistenz - wenn vielleicht nicht garantieren - aber weitgehend absichern kann. Eine Art "Zivilreligion" wie Böckenförde sie fordert ist nicht nötig.

Das ganze ist aber auch einfach aus der Zeit gefallen.
Heute darf der Satz vom Garantieausschluss nicht fehlen, wo Kardinäle, Bundespräsidenten oder Feuilletonisten zur Lage der Verfassungsnation sprechen.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 50342.html
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Selina
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 11:18)

Dieses mittlerweile fast totzitierte Böckenförde-Diktum ist vor allem im Zusammenhang mit der Säkularisierung des Staats entstanden. Der Staat schafft aber etwa mit Bildungssystem und Bemühung um sozialen Ausgleich durchaus auf freiheitliche Art Voraussetzungen, mit denen er die eigene freiheitliche Fortexistenz - wenn vielleicht nicht garantieren - aber weitgehend absichern kann. Eine Art "Zivilreligion" wie Böckenförde sie fordert ist nicht nötig.

Das ganze ist aber auch einfach aus der Zeit gefallen.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 50342.html
Interessant im Zusammenhang mit Böckenförde finde ich auch das (sorry für OT):

Zitat:

Im Jahr 2009 publizierte Böckenförde vor dem Hintergrund der globalen Wirtschaftskrise seit 2007 den kapitalismuskritischen Text "Woran der Kapitalismus krankt", in dem er den modernen Kapitalismus im Anschluss an Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters als sekundäres System beschreibt, vom „inhumanen Charakter“ des Kapitalismus spricht und dafür plädiert, die Katholische Soziallehre „aus ihrem Dornröschenschlaf auf(zu)wecken“.

https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst-Wol ... f%C3%B6rde
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 11:18)

Dieses mittlerweile fast totzitierte Böckenförde-Diktum ist vor allem im Zusammenhang mit der Säkularisierung des Staats entstanden. Der Staat schafft aber etwa mit Bildungssystem und Bemühung um sozialen Ausgleich durchaus auf freiheitliche Art Voraussetzungen, mit denen er die eigene freiheitliche Fortexistenz - wenn vielleicht nicht garantieren - aber weitgehend absichern kann. Eine Art "Zivilreligion" wie Böckenförde sie fordert ist nicht nötig.

Das ganze ist aber auch einfach aus der Zeit gefallen.

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/b ... 50342.html
Es war nie so aktuell wie jetzt. Du hast hier oder im Nachbarthread die Entwicklung des Zerfalls (Achtung: ich sage ZERfall und nicht VERfall) in der modernen Gesellschaft beschrieben. Unter fluiden Identitäten, die sich je nach der ebenso fluiden Wertewelt richten, wobei Werte jederzeit wieder entwertet werden können, in dieser allen allgemeinen Beindungen entzogenen Welt der Einzelnen gibt es über ein immer dichter geknüpftes Netz rechtlicher Vorschriften für den Umgang keine gesamtgesellschaftliches Bindeglied mehr. Was sich bisher aus dem Inneren der Gesellschaft entwickelt hat, was immer ein langsamer Prozess ist, wird nun immer stärker dekretiert werden müssen, weil die multiplen, fluiden Grüppchen ihre jeweiligen Ansprüche und Bedürfnisse ja nur auf dem Rechtsweg und nicht mehr auf dem Weg gesellschaftlicher Prozesse durchsetzen können. Denn wie oben gesagt wurde: Es verbindet nur die Einhaltung der Gesetze, also müssen die entsprechenden Gesetze auch her, um die multiplen Identitäten und Werte und ihre möglichen und unmöglichen Beziehungen abzubilden.

Dass das ein Ideal ist, sehe ich schon. Dass das tragfähig sein könnte, nicht. Es ist ein Sprungbrett fürs Totalitäre. Bestenfalls eine Nomokratie, aber etwas Liberales hält sich dort nicht mehr. Denn welchen Sinn sollte ein Staat überhaupt noch haben in so einem Modell? Wer würde ihn ggf. gegen Druck von außen wie verteidigen?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(04 Dec 2017, 12:47)

Es war nie so aktuell wie jetzt. Du hast hier oder im Nachbarthread die Entwicklung des Zerfalls (Achtung: ich sage ZERfall und nicht VERfall) in der modernen Gesellschaft beschrieben. Unter fluiden Identitäten, die sich je nach der ebenso fluiden Wertewelt richten, wobei Werte jederzeit wieder entwertet werden können, in dieser allen allgemeinen Beindungen entzogenen Welt der Einzelnen gibt es über ein immer dichter geknüpftes Netz rechtlicher Vorschriften für den Umgang keine gesamtgesellschaftliches Bindeglied mehr. Was sich bisher aus dem Inneren der Gesellschaft entwickelt hat, was immer ein langsamer Prozess ist, wird nun immer stärker dekretiert werden müssen, weil die multiplen, fluiden Grüppchen ihre jeweiligen Ansprüche und Bedürfnisse ja nur auf dem Rechtsweg und nicht mehr auf dem Weg gesellschaftlicher Prozesse durchsetzen können. Denn wie oben gesagt wurde: Es verbindet nur die Einhaltung der Gesetze, also müssen die entsprechenden Gesetze auch her, um die multiplen Identitäten und Werte und ihre möglichen und unmöglichen Beziehungen abzubilden.

Dass das ein Ideal ist, sehe ich schon. Dass das tragfähig sein könnte, nicht. Es ist ein Sprungbrett fürs Totalitäre. Bestenfalls eine Nomokratie, aber etwas Liberales hält sich dort nicht mehr. Denn welchen Sinn sollte ein Staat überhaupt noch haben in so einem Modell? Wer würde ihn ggf. gegen Druck von außen wie verteidigen?
Was bei diesem "Ideal" aber gerne übersehen wird, dass eben diese "Vereinzelten", mit ihren fluiden Identitäten, ohne jegliche allgemeine Bindung und ohne gesamtgesellschaftliches Bindeglied, ganz wunderbar manipulierbar, indoktrinierbar und damit auch instrumentalisierbar sind. Menschliche Roboter!
Gegen die menschliche Dummheit sind selbst die Götter machtlos.

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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(04 Dec 2017, 12:47)

Es war nie so aktuell wie jetzt. Du hast hier oder im Nachbarthread die Entwicklung des Zerfalls (Achtung: ich sage ZERfall und nicht VERfall) in der modernen Gesellschaft beschrieben. Unter fluiden Identitäten, die sich je nach der ebenso fluiden Wertewelt richten, wobei Werte jederzeit wieder entwertet werden können, in dieser allen allgemeinen Beindungen entzogenen Welt der Einzelnen gibt es über ein immer dichter geknüpftes Netz rechtlicher Vorschriften für den Umgang keine gesamtgesellschaftliches Bindeglied mehr. Was sich bisher aus dem Inneren der Gesellschaft entwickelt hat, was immer ein langsamer Prozess ist, wird nun immer stärker dekretiert werden müssen, weil die multiplen, fluiden Grüppchen ihre jeweiligen Ansprüche und Bedürfnisse ja nur auf dem Rechtsweg und nicht mehr auf dem Weg gesellschaftlicher Prozesse durchsetzen können. Denn wie oben gesagt wurde: Es verbindet nur die Einhaltung der Gesetze, also müssen die entsprechenden Gesetze auch her, um die multiplen Identitäten und Werte und ihre möglichen und unmöglichen Beziehungen abzubilden.

Dass das ein Ideal ist, sehe ich schon. Dass das tragfähig sein könnte, nicht. Es ist ein Sprungbrett fürs Totalitäre. Bestenfalls eine Nomokratie, aber etwas Liberales hält sich dort nicht mehr. Denn welchen Sinn sollte ein Staat überhaupt noch haben in so einem Modell? Wer würde ihn ggf. gegen Druck von außen wie verteidigen?
Im Augenblick zumindest in Europa oder zumindest in der EU ist der demokratische Staat dort am stärksten bedroht, wo es in einem demokratischen System auf demokratischem Weg zu forcierten Homogenisierungen der Gesellschaft gekommen ist: In Polen und Ungarn. Sollte einem das nicht zu denken geben?

Das Böckenförde-Diktum ist vor allem eines: Eine Tautologie. Kein Ding der Welt kann die Voraussetzungen herbeiführen, unter denen es einmal neu entstanden ist.
Die Voraussetzungen, von denen etwas lebt, sind nicht die, unter denen es das erste Mal in die Welt trat.
Sehr empfehlenswert ein Artikel in der FR, in der das Böckenförde-Diktum als Böckenförde-Dilemma herausgestellt wird. http://www.fr.de/kultur/staatswesen-das ... a-a-355086. Das Böckenförde-Diktum ist einfach eine Binsenweisheit. Wenn ich meine Existenz als Mensch garantieren wollte, müsste ich zu jederzeit meine eigene Zeugung und nachfolgende Geburt reproduzierbar machen können. Sehr kurioser Gedanke.

Das Problem ist nur, dass dieses Diktum quasi als Universalbrechstange benutzt wird, um allen möglichen Scheiß als Forderung in die Gesellschaft hineinzutragen. Es ist, wie zigfach richtig festgestellt wurde, ein Sonntagsreden-Argument. Es hat dieses Potenzial zu dieser "Genau. So ist es. Der sagt es"-Beipflichtung.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(04 Dec 2017, 13:37)

Was bei diesem "Ideal" aber gerne übersehen wird, dass eben diese "Vereinzelten", mit ihren fluiden Identitäten, ohne jegliche allgemeine Bindung und ohne gesamtgesellschaftliches Bindeglied, ganz wunderbar manipulierbar, indoktrinierbar und damit auch instrumentalisierbar sind. Menschliche Roboter!
Nur weil Du nicht weißt, welchen Bindungen sich Individuen verpflichtet fühlen, die solche Bindungen als Privatsache ansehen, heißt das noch lange nicht, dass es solche Bindungen nicht gibt.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Und im Übrigen. Ich habe das auch weiter oben schon geschrieben. Ein Bezug auf die "Rechtsordnung" bedeutet weit mehr als nur die Beachtung der Paragraphen des Strafgesetzbuches. Auch die Verfassung mit ihren allgemeinen Prinzipien ist Teil der Rechtsordnung. Es müsste doch eigentlich klar sein, dass Entitäten, die sich dem Grundgesetz verpflichtet fühlen (egal ob Einzelindividuen oder soziale Gruppen) durchaus verschieden aber keine herummäandernden Spukwesen sein können.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(04 Dec 2017, 11:28)

Interessant im Zusammenhang mit Böckenförde finde ich auch das (sorry für OT):

Zitat:

Im Jahr 2009 publizierte Böckenförde vor dem Hintergrund der globalen Wirtschaftskrise seit 2007 den kapitalismuskritischen Text "Woran der Kapitalismus krankt", in dem er den modernen Kapitalismus im Anschluss an Hans Freyers Theorie des gegenwärtigen Zeitalters als sekundäres System beschreibt, vom „inhumanen Charakter“ des Kapitalismus spricht und dafür plädiert, die Katholische Soziallehre „aus ihrem Dornröschenschlaf auf(zu)wecken“.

https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst-Wol ... f%C3%B6rde
Es kann für diesen scheinbar fehlenden gesellschaftlichen Term alles mögliche herangezogen werden. Religion, Sport, nationale Kulturtraditionen. Hauptsache irgendein Kitt. Wenn das mal nicht brandgefährlich ist.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(04 Dec 2017, 12:47)

Es war nie so aktuell wie jetzt. Du hast hier oder im Nachbarthread die Entwicklung des Zerfalls (Achtung: ich sage ZERfall und nicht VERfall) in der modernen Gesellschaft beschrieben. Unter fluiden Identitäten, die sich je nach der ebenso fluiden Wertewelt richten, wobei Werte jederzeit wieder entwertet werden können, in dieser allen allgemeinen Beindungen entzogenen Welt der Einzelnen gibt es über ein immer dichter geknüpftes Netz rechtlicher Vorschriften für den Umgang keine gesamtgesellschaftliches Bindeglied mehr. Was sich bisher aus dem Inneren der Gesellschaft entwickelt hat, was immer ein langsamer Prozess ist, wird nun immer stärker dekretiert werden müssen, weil die multiplen, fluiden Grüppchen ihre jeweiligen Ansprüche und Bedürfnisse ja nur auf dem Rechtsweg und nicht mehr auf dem Weg gesellschaftlicher Prozesse durchsetzen können. Denn wie oben gesagt wurde: Es verbindet nur die Einhaltung der Gesetze, also müssen die entsprechenden Gesetze auch her, um die multiplen Identitäten und Werte und ihre möglichen und unmöglichen Beziehungen abzubilden.
Aber es muss doch gar nicht alles immer neu geregelt werden. Die Religionsfreiheit - als Beispiel - gilt ganz allgemein. Und sowohl mit der wachsenden Zahl von Muslimen in Deutschland als auch bei der theoretisch möglichen Entstehung einer ganz neuen Religion entsteht keineswegs die Notwendigkeit, extra nochmal einen neuen Absatz zum Prinzip der Religionsfreiheit abzufassen. Auch das Verbot von Mord und Gewaltanwendung sieht für Muslime keinen Deut anders aus als für Christen oder Nichtgläubige.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 13:54)

Im Augenblick zumindest in Europa oder zumindest in der EU ist der demokratische Staat dort am stärksten bedroht, wo es in einem demokratischen System auf demokratischem Weg zu forcierten Homogenisierungen der Gesellschaft gekommen ist: In Polen und Ungarn. Sollte einem das nicht zu denken geben?
Sollte es, wie ich schon mehrfach betont habe, denn in diese Richtung löst sich der Liberalismus auf, wenn nicht die reinen fluid-identitären reinen Gesetzesbefolger gewinnen, sondern deren autoritär orientierte Gegner. Mal davon abgesehen, dass Polen und Ungarn ihre Regierungen in freien Wahlen mit eindeutigen Mehrheiten gewählt haben. Daran zumindest ist nichts auszusetzen, ob einem die Richtung nun passt oder nicht.
schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 13:54)
Das Böckenförde-Diktum ist vor allem eines: Eine Tautologie. Kein Ding der Welt kann die Voraussetzungen herbeiführen, unter denen es einmal neu entstanden ist.
Es ist auch nicht von herbeiführen die Rede, sondern von garantieren, und was garantiert werden soll, ist vor allem ein Versprechen: Freiheit. Die ist aber nicht bedingungslos und voraussetzungslos zu haben. Man muss verstehen, was eigentlich diesen freiheitlichen Staat im Innersten wirklich zusammenhält.
schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 13:54)
Das Problem ist nur, dass dieses Diktum quasi als Universalbrechstange benutzt wird, um allen möglichen Scheiß als Forderung in die Gesellschaft hineinzutragen. Es ist, wie zigfach richtig festgestellt wurde, ein Sonntagsreden-Argument. Es hat dieses Potenzial zu dieser "Genau. So ist es. Der sagt es"-Beipflichtung.
Diese Beipflichtungen zu "allem möglichen Scheiß" finde ich hier in jedem Thread, das überzeugt mich eher nicht als Argument. Böckenfördes Sprüchlein ist eine Einladung, über das nachzudenken, was den Nationalstaat in seiner jetzt in Auflösung begriffenen Form einmal ausgemacht hat, was seine Grundlagen waren, was durch ihn ermöglicht wurde. Also auch darüber, weswegen manche Gesellschaften erfolgreicher als andere sind, was so als "soziales Kapital" vorhanden sein muss, um nach innen und außen ein Gleichgewicht zu haben. Recht ist ein wichtiger Teil, aber nicht der einzige. Normen lassen sich in Rechts-, Moral- und Sittennormen unterteilen. Sitten sind keine universal gültigen Normen, wer im weißen Anzug zur Beerdigung kommt, wird nicht zu Rechenschaft gezogen. Rechtsnormen sind für ihren Geltungsbereich von der Intention her allgemeingültig, Moralnormen universell angelegt, aber sie sind das Problem beim stabilitätsbildenden Normenmix. Je stärker versucht wird, Moralnormen gegen die Interessen der Beteiligten durchzusetzen, oder sie gar zu verrechtlichen und nicht dem freien gesellschaftlichen Spiel der Kräfte zu überlassen, desto illiberaler wird eine Gesellschaft.

Die Situation für den Liberalismus ähnelt also dem Spaß, den Nietzsche einst so ausdrückte: In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle.

So geht's dem Liberalismus, der seine Grundlagen ignoriert: In den Nomokratie wird die Freiheit von den vielen vielen Gesetzen gefressen, in der autoritären Demokratie von den Gesetzen, die ihr engste Grenzen setzen. Der Wähler möge wählen. :D
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 14:25)

Aber es muss doch gar nicht alles immer neu geregelt werden. Die Religionsfreiheit - als Beispiel - gilt ganz allgemein. Und sowohl mit der wachsenden Zahl von Muslimen in Deutschland als auch bei der theoretisch möglichen Entstehung einer ganz neuen Religion entsteht keineswegs die Notwendigkeit, extra nochmal einen neuen Absatz zum Prinzip der Religionsfreiheit abzufassen. Auch das Verbot von Mord und Gewaltanwendung sieht für Muslime keinen Deut anders aus als für Christen oder Nichtgläubige.
Sorry, aber da schreibst du ganz schönen Stuss zusammen!
Islam kennt keine Religionsfreiheit, keine persönlichen Freiheitsrechte, der kennt nichtmal Individualismus.
Man kann die Errungenschaften einer modernen aufgeklärten Gesellschaft/Kultur nicht mal eben 1:1 auf eine archaische Religion/Ideologie übertragen. Das funktioniert nicht! Wenn man die Unterschiede erkennen und verstehen will, muss man sich zwingend mit Hintergründen, mit Geschichte - insbesondere mit der Geschichte des Islam - und seinen Zielen beschäftigen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

@schokoschendrezki

Um etwas weniger abstrakt zu sein: Hast du dir eigentlich mal überlegt, warum jemand in diesem Land den Höchststeuersatz zahlen sollte, um irgendwelchen "Hungerleidern und Versagern" qua Umverteilung ihr Leben zu finanzieren? Wäre in einem Staat ohne verbindende Kultur nicht ein Modell, wie es Ayn Rand und libertäre Freunde vertreten, die "natürlichere" Variante? Wäre ja auch wesentlich billiger, notfalls die Polizei oder private Schutzdienste aufmarschieren zu lassen, falls die "Hungerleider und Versager" sich nicht an die Gesetze halten wollen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 14:11)

Es kann für diesen scheinbar fehlenden gesellschaftlichen Term alles mögliche herangezogen werden. Religion, Sport, nationale Kulturtraditionen. Hauptsache irgendein Kitt. Wenn das mal nicht brandgefährlich ist.
Ja, sicher. Wobei ich Kapitalismuskritik nicht zu "irgendeinem Kitt" zählen würde. Denn diese Rechtsdrift einschließlich Kulturalismus gedeiht ja nicht im luftleeren Raum, ökonomisch und gesellschaftspolitisch gesehen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 13:54)

Im Augenblick zumindest in Europa oder zumindest in der EU ist der demokratische Staat dort am stärksten bedroht, wo es in einem demokratischen System auf demokratischem Weg zu forcierten Homogenisierungen der Gesellschaft gekommen ist: In Polen und Ungarn. Sollte einem das nicht zu denken geben?
Ich möchte das noch einmal von einer anderen Seite her aufgreifen.

Wenn du liest, was so geantwortet wurde zum Thema, wäre es ja mal an der Zeit, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Oben war die Frage nach dem Verbindenden mit dem Hausmeister, Lehrer und Aufsichtsratsvorsitzendes negativ beantwortet worden, also nichts zu finden über die Gesetztestreue hinaus. Ok, ich akzeptiere das einmal für mich und nehme auch auch deine Freiheit, die ganz beim Individuum liegt.
Ich hab' also mein Sach auf nichts gestellt, wie es bei Stirner heißt, "Ich bin Eigner der Welt, der Dinge und Ich bin Eigner der Welt des Geistes." Was, so lautet jetzt die Frage, soll mir dann dein Ungarnbeispiel noch? Da kommt dann ein deutscher Herr Orban, und was passiert? Ich stehe morgens auf, frühstücke, gehe zur Arbeit, komme nach Hause, erledige den Haushalt greife zum Buch oder zur Gitarre, gehe ins Kino, ins Konzert, besuche Freunde oder gehe zum Kartenspielen, esse gut, der Wein aus der Gegend ist gut, mein Schlaf ist ordentlich und die Verdauung sowieso. Wo ist also für mich Unverbundenen jetzt das Problem mit dem deutschen Orban? Was kümmert der mich? Was ändert sich an meinem unverbundenen gesetzestreuen Leben :?: Und warum sollte ich, wenn ich schon keine Verbindung bei mir finde zu den dreien eine Verbindung finden zu irgendwem in Afrika oder zu den Steuervermeidern aus Griechenland?
Fort denn mit jeder Sache, die nicht ganz und gar Meine Sache ist! Ihr meint, Meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber Meine Sache, und Ich bin weder gut noch böse. Beides hat für Mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist – einzig, wie Ich einzig bin.
Welches Problem soll ich also noch mit Orban haben? Individuell frei sei, wer keinem Menschen verantwortlich ist, sagt Stirner auch, und damit kann mir eigentlich auch wurscht sein, was der deutsche Orban will. Meinen Tagesablauf ändert der nicht. Und wenn's um die Freiheit von irgendwelchen anderen geht? "Kein Anschluss unter dieser Nummer". "Mir geht nichts über Mich!" (Stirner again).
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 10:15)

Grundverkehrt. Für die Freiheit ist jedes Individuum selbst verantwortlich. Indem es sie entweder wahrnimmt oder eben nicht.
Deniz Yücel sollte endlich mal seine Freiheit wahrnehmen, der Depp.

(Denkst du gelegentlich auch über das, was du schreibst, wenigstens ein bißchen nach?)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(04 Dec 2017, 13:54)
Kein Ding der Welt kann die Voraussetzungen herbeiführen, unter denen es einmal neu entstanden ist.[....]
Das Böckenförde-Diktum ist einfach eine Binsenweisheit.
Richtig.
Manch einer braucht halt ein bißchen länger, um eine Binsenweisheit zu erfassen.

"Die Rechtsordnung ist als absolut zu betrachten. Wie ein Naturgesetz."

Vielleicht hast du ja inzwischen verstanden, was für einen Unfug du mit dieser Aussage verzapft hast.
Dann hätte die Binsenweisheit ihren Zweck erfüllt.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(04 Dec 2017, 14:53)

Sorry, aber da schreibst du ganz schönen Stuss zusammen!
Islam kennt keine Religionsfreiheit, keine persönlichen Freiheitsrechte, der kennt nichtmal Individualismus.
Man kann die Errungenschaften einer modernen aufgeklärten Gesellschaft/Kultur nicht mal eben 1:1 auf eine archaische Religion/Ideologie übertragen. Das funktioniert nicht! Wenn man die Unterschiede erkennen und verstehen will, muss man sich zwingend mit Hintergründen, mit Geschichte - insbesondere mit der Geschichte des Islam - und seinen Zielen beschäftigen.
Das Verbot von Mord und Gewaltanwendung gibt es im Islam gerade NICHT!
Um es kurz zu machen: Es geht (mir jedenfalls) auch nicht um Religionsfreiheit in einem sich selbst als islamisch oder gar islamistisch verstehenden Gemeinwesen sondern um die in der verfassungsmäßig als liberal festgeschriebenen Bundesrepublik Deutschland.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(04 Dec 2017, 15:02)

@schokoschendrezki

Um etwas weniger abstrakt zu sein: Hast du dir eigentlich mal überlegt, warum jemand in diesem Land den Höchststeuersatz zahlen sollte, um irgendwelchen "Hungerleidern und Versagern" qua Umverteilung ihr Leben zu finanzieren? Wäre in einem Staat ohne verbindende Kultur nicht ein Modell, wie es Ayn Rand und libertäre Freunde vertreten, die "natürlichere" Variante? Wäre ja auch wesentlich billiger, notfalls die Polizei oder private Schutzdienste aufmarschieren zu lassen, falls die "Hungerleider und Versager" sich nicht an die Gesetze halten wollen.
Mir ist schon klar, dass die ganze Debatte Liberalismus vs. Kommunitarismus nun wirklich nix neues ist.
Die Debatte zwischen Liberalen und Kommunitaristen war der wichtigste Diskurs der 1970er und 1980er Jahre der anglo-amerikanischen politischen Theorie.
Und so wie die meisten dieser großen DIskurse (der berühmte "Historikerstreit" 86/87 in der Bundesrepublik ist ja auch ein Beispiel) bleibt die gestellte Frage in der Regel offen.

So wie Ayn Rands politische Vorstellungen von ihren persönlichen Erfahrungen mit dem (frühen) russischen Kommunismus geprägt sind, ist zu berücksichtigen, was der forcierte Kollektivismus der DDR-Gesellschaft bei einer Reihe von heutigen Zeitgenossen an Aversionen hinterließ. Seltsamerweise sind die, die diesen Kollektivismus der DDR-Gesellschaft sehr sehr kritisch sehen (wie ich) aber eher in der Minderzahl.

Ich bin deutlich einmal von diesen Aversionen geprägt und zum anderen von den nicht weniger negativen Erfahrungen einer sich national-religiös-konservativ umorientierten Gesellschaft wie der Ungarischen. Als einzig rettendes Gegenbild und gleichzeitig Utopie bleibt mir die kosmopolitisch orientierte Metropolenkultur von Orten wie Berlin oder Budapest.

Wir haben in Europa kein "Hungerleiderproblem". Um es deutlich zu sagen. Das Problem der sozialen Ausgrenzung hat in Europa (mit Ausnahme von wenigen Regionen wie Moldawien vielleicht) nix mit Existenzbedrohung im eigentlichen Sinn zu tun.

Und dann: Wir müssen eine Antwort finden auf das, was mit technologischen Entwicklungen einhergeht. Wie schon weiter oben geschrieben. Wir werden schon in Kürze in einer Realität aufwachen mit völlig disparaten Lebenswelten. In der die einen überhaupt nicht mehr wissen, worüber die anderen eigentlich reden.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 09:51)

....

Wir werden schon in Kürze in einer Realität aufwachen mit völlig disparaten Lebenswelten. In der die einen überhaupt nicht mehr wissen, wovon die anderen eigentlich reden.
Hat es das nicht auch schon in langen Zeiten gegeben, als die hohen Herren auf Latein oder später Französisch in ihrer geistigen Welt lebten, und der Rest des Volkes in geistiger Finsternis in seiner eigenen Welt?

Die Bibelübersetzung war doch notwendig, weil diese Welt der hohen Herren die kleinen Leute nach Strich und Faden veralbert hatte.

Und nun kommt eine technische Entwicklung mit einer Schicht von Fachleuten, die keiner der Anwender mehr versteht. Wieviele % der Nutzer von Smartphones verstehen deren Technik, die dahinter steht, könnten zur Not eine "App" entwickeln? Das Wissen ist doch vergleichbar abstrakt wie das der Theologen und Philosophen vergangener Zeiten.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

@Zunder:
Blicken wir noch einmal auf – ich sage das jetzt einfach so – unseren Satz [Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.] Er sagt nichts über den freiheitlichen, säkularisierten Staat. Jedenfalls nichts, das ihn vor anderen Dingen auszeichnet. Man muss nur einen Augenblick lang überlegen, was denn – im Gegensatz also zum „freiheitlichen, säkularisierten Staat“ – von Voraussetzungen lebt, die es selbst garantieren kann. Sie kommen gerade nicht drauf? Sie werden auch in hundert Jahren auf nichts kommen. Die Voraussetzungen, von denen etwas lebt, sind nicht die, unter denen es das erste Mal in die Welt trat.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel wäre ohne die Alliierten nicht zustande gekommen. Die Besatzungsmächte sind weg. Das Grundgesetz ist – verändert – noch immer da. Die Voraussetzungen, unter denen jeder von uns geboren wird, sind ganz und gar andere als die, unter denen wir leben. Das ist eine Binsenwahrheit. Der junge Tancredi rät dem alten Fürsten Salina darum in Lampedusas „Gattopardo“: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.“

Der von uns hier betrachtete Satz wird in Wahrheit nicht interessanter dadurch, dass man so tut, als handele es sich um eine Aussage über den freiheitlichen, säkularisierten Staat. Gewissermaßen eine Diagnose. Der Satz stellt kein spezifisches Gebrechen fest, sondern attestiert einem Besonderen das Allerallgemeinste, das, was es mit allem, was ist, gemein hat. Der Erkenntnisgewinn ist gleich Null.
http://www.fr.de/kultur/staatswesen-das ... a-a-355086
!
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

H2O hat geschrieben:(05 Dec 2017, 10:09)

Hat es das nicht auch schon in langen Zeiten gegeben, als die hohen Herren auf Latein oder später Französisch in ihrer geistigen Welt lebten, und der Rest des Volkes in geistiger Finsternis in seiner eigenen Welt?

Die Bibelübersetzung war doch notwendig, weil diese Welt der hohen Herren die kleinen Leute nach Strich und Faden veralbert hatte.

Und nun kommt eine technische Entwicklung mit einer Schicht von Fachleuten, die keiner der Anwender mehr versteht. Wieviele % der Nutzer von Smartphones verstehen deren Technik, die dahinter steht, könnten zur Not eine "App" entwickeln? Das Wissen ist doch vergleichbar abstrakt wie das der Theologen und Philosophen vergangener Zeiten.
Naja. Es geht vielleicht nicht so sehr darum, dass die Nutzer einer Technologie diese Technologie nicht mehr verstehen, sondern darum, dass diese Technologie es ermöglicht, disparate Lebenswelten zu schaffen und sich in ihnen zu bewegen. Der Begriff "Parallelgesellschaft" wurde in jüngerer Zeit ja vor allem für ghettoisierte Stadtviertel benutzt. Dass die virtuelle Realität noch ganz andere Potenziale für "Parallelgesellschaften" bietet, dürfte doch klar sein.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von H2O »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 10:22)

Naja. Es geht vielleicht nicht so sehr darum, dass die Nutzer einer Technologie diese Technologie nicht mehr verstehen, sondern darum, dass diese Technologie es ermöglicht, disparate Lebenswelten zu schaffen und sich in ihnen zu bewegen. Der Begriff "Parallelgesellschaft" wurde in jüngerer Zeit ja vor allem für ghettoisierte Stadtviertel benutzt. Dass die virtuelle Realität noch ganz andere Potenziale für "Parallelgesellschaften" bietet, dürfte doch klar sein.
Ok, so hochgestochen kann ich nicht mitreden. Aber, falls Sie das nicht schon getan haben, dann gibt es Erheiterndes unter "Forenprobleme" zu lesen. Dort regte der Teilnehmer Peter K. an, die Kommunikation zwischen Browser und Server des Forums von http auf https um zu stellen, damit niemand böswillig den Datenverkehr zwischen Teilnehmer und Server belauschen kann. Ich habe mich bewußt ahnungslos eingemischt. Hier geht es los:

http://www.politik-forum.eu/viewtopic.p ... 0#p4067605

Viel Vergnügen! :)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 10:22)

Naja. Es geht vielleicht nicht so sehr darum, dass die Nutzer einer Technologie diese Technologie nicht mehr verstehen, sondern darum, dass diese Technologie es ermöglicht, disparate Lebenswelten zu schaffen und sich in ihnen zu bewegen. Der Begriff "Parallelgesellschaft" wurde in jüngerer Zeit ja vor allem für ghettoisierte Stadtviertel benutzt. Dass die virtuelle Realität noch ganz andere Potenziale für "Parallelgesellschaften" bietet, dürfte doch klar sein.
Gesellschaft der Singularitäten nennt Andreas Reckwitz das in seiner sehr exakt herausgearbeiteten Theorie. Das ist der bessere Begriff, da Parallelwelten immer jeweils geschlossene Gesellschaften sind, die Singularitäten, die sich auf Personen, Gruppen, Objekte, Ereignisse, Orte, Wissen etc. beziehen können, entstehen dagegen im Rahmen von traditionsunabhängigen Valorisierungen und weisen über sich hinaus keine Gesamtverbindung mehr aus. Es ist, nach Reckwitz, die Aufhebung des Allgemeinen zugunsten des Besonderen. Damit werden dann meine Idiosynkrasien im Zweifelsfall praktisch auch geadelt :D (Bin noch nicht durch mit dem Buch, aber so treffend beschrieben die Dinge sind, so sehr spiegeln sie das nur noch menschen- und eventmittelbare Einzelwesen wider, das nur noch netzwerk- aber nicht mehr gemeinschaftsfähig ist. Was immer man dann davon halten mag, was wiederum vom Menschenbild abhängig ist.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Zunder »

Und?

Es geht nicht darum, dem Satz von Böckenförde eine tiefere Bedeutung beizumessen, sondern darum, daß diese Binsenweisheit ausreicht, um dein Geschwätz von der als absolut zu betrachtenden Rechtsordnung als Unsinn kenntlich zu machen.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Das Buch ("Gesellschaft der Singularitäten"), gerade erst erschienen, scheint tatsächlich ganz direkt auf die in diesem Thread gestellten und diskutierten Fragen gerichtet zu sein. Aus einer Rezension:
Auf plastische und überzeugende Weise zeigt Reckwitz, wie die Kulturalisierung des Ökonomischen wiederum zu einer Polarisierung des Politischen führt. Die 'Neue Mittelklasse' verkörpere eine doppelte Öffnung: sie sei Profiteurin des Wirtschaftsliberalismus und Inbegriff eines linksliberal geprägten Kulturkosmopolitismus. Auf diese zweigliedrige Öffnung würden insbesondere die Verlierer dieser Entwicklung mit Schließungstendenzen reagieren. Reckwitz sieht hier ein Erstarken des "Kulturessenzialismus". Rechtspopulistische, nationalistische, religiös-fundamentalistische und teilweise auch ethnische Gruppen behaupteten verstärkt die innere Homogenität einer kollektiven Identität, setzten auf das Eigene, das Traditionelle und Heimische, um sich gegen die Abwertung des Provinziellen und Konformen zu wehren. Das Allgemeine und Verbindende trete in dieser zunehmend zersplitterten sozialen und politischen Landschaft entsprechend in den Hintergrund. Ihm einen neuen Ort zu geben, macht Reckwitz abschließend als zentrale Aufgabe der Gegenwart aus.
http://www.deutschlandfunkkultur.de/and ... _id=398909
Genau darum gehts ja wohl letztendlich.

Die Frage, die sich mir stellt, ist natürlich die, welche Art von Allgemeinheit und Verbundenheit das Potenzial hat, die Attraktivität von Neo-Nationalismus, Neo-Religiösität, Neo-Ethnozentriertheit usw. für die "Verlierer" zu überbieten. Was könnte das sein?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 11:04)

Das Buch ("Gesellschaft der Singularitäten"), gerade erst erschienen, scheint tatsächlich ganz direkt auf die in diesem Thread gestellten und diskutierten Fragen gerichtet zu sein. Aus einer Rezension:

http://www.deutschlandfunkkultur.de/and ... _id=398909
Genau darum gehts ja wohl letztendlich.

Die Frage, die sich mir stellt, ist natürlich die, welche Art von Allgemeinheit und Verbundenheit das Potenzial hat, die Attraktivität von Neo-Nationalismus, Neo-Religiösität, Neo-Ethnozentriertheit usw. für die "Verlierer" zu überbieten. Was könnte das sein?
Hol dir lieber die Leseprobe beim Suhrkampverlag statt der Rezension:

http://www.suhrkamp.de/buecher/die_gese ... 58706.html
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(05 Dec 2017, 10:48)

Und?

Es geht nicht darum, dem Satz von Böckenförde eine tiefere Bedeutung beizumessen, sondern darum, daß diese Binsenweisheit ausreicht, um dein Geschwätz von der als absolut zu betrachtenden Rechtsordnung als Unsinn kenntlich zu machen.
Das "Geschwätz" besteht lediglich in der ebenfalls ziemlich trivialen und eigentlich von niemandem ernsthaft in Zweifel gezogenen Aussage (schon einmal zitiert) zum Kern des Liberalismus als politischer Philosophie:
In einem engeren Sinne liberalistischer Positionen beschränkt sich die Rolle des Staates auf den konkreten Schutz der Freiheit der Individuen und der die Freiheit garantierenden Rechtsordnung.
https://de.wikipedia.org/wiki/Liberalismus
Und in dieser Aussage ist von einem Böckenfördischem zusätzlichen Garantieschutz des Staats keine Rede.

Ja. Die Bezeichnung "absolut" war falsch. Schon insofern als dass sie der ständigen Neujustierung durch die Legislative untersteht. Und indem der Staat durch die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung dem Bürger Freiheit garantiert, entledigt er ihn ja gerade von der Notwendigkeit, sich irgendeiner Absolutheit unterzuordnen. Ich brauche gewissermaßen nur kurz gegenzuchecken und kann ansonsten meinen kreativen Kräften freien Lauf lassen.

"Unabhängig" wäre wohl das passendere Attribut.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Di 5. Dez 2017, 11:43, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(05 Dec 2017, 11:07)

Hol dir lieber die Leseprobe beim Suhrkampverlag statt der Rezension:

http://www.suhrkamp.de/buecher/die_gese ... 58706.html
Ich glaub, ich hol' mir gleich das ganze Buch bei Amazon. Gute Empfehlung!
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Und Dinge wie "Verfassungspatriotismus", "Soziale Marktwirtschaft", "Gemeinwohlorientiertheit" usw., die einem einfallen könnten, wenns um Gemeinsamkeits-Richtlinien geht ... sie gehören zur alten Bundesrepublik der 60er, 70er Jahre. Einer Welt, die es - so jedenfalls - nicht mehr gibt.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 09:22)

Um es kurz zu machen: Es geht (mir jedenfalls) auch nicht um Religionsfreiheit in einem sich selbst als islamisch oder gar islamistisch verstehenden Gemeinwesen sondern um die in der verfassungsmäßig als liberal festgeschriebenen Bundesrepublik Deutschland.
Ja - genau darum geht es mir auch!
72% der in Deutschland lebenden Muslime waren bereits 2012(!) der Meinung, der Islam sei die einzig wahre Religion, 25% der in Deutschland lebenden Muslime empfinden Atheisten als minderwertige Menschen (ebenfalls 2012) - das ist weder mit der, im Grundgesetz garantierten, Religionsfreiheit vereinbar noch mit deiner liberalen Gesellschaft.

45% der in Deutschland lebenden Salafisten verlangen (2012) Koranverteilungsaktionen in Fußgängerzonen, von den 15 bis 29jährigen sind es sogar 63%.
Auch das ist weder mit dem Grundgesetz noch mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar.

Fast 60 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten; 75 Prozent meinen, dass nur eine Auslegung des Korans möglich ist, an die sich alle Muslime halten sollten; und 65 Prozent sagen, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger sind als die Gesetze des Landes, in dem sie leben
(Studie Koopmans von 2013)

Wenn 65% der in Deutschland lebenden Muslime, die Einhaltung religiöser Regeln [des Koran] für wichtiger halten als die Gesetze des Landes in dem sie leben, dann erkennen diese 65% das Rechtssystem der Aucfnahmegesellschaft NICHT an, erkennen das GG NICHT an.
Und auch das ist weder mit dem rechtsstaatlichen System in Deutschland noch mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar.

Merkst du eigentlich überhaupt noch, welchen realitätsfernen Unsinn die von dir gibst?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(05 Dec 2017, 12:46)

Ja - genau darum geht es mir auch!
72% der in Deutschland lebenden Muslime waren bereits 2012(!) der Meinung, der Islam sei die einzig wahre Religion, 25% der in Deutschland lebenden Muslime empfinden Atheisten als minderwertige Menschen (ebenfalls 2012) - das ist weder mit der, im Grundgesetz garantierten, Religionsfreiheit vereinbar noch mit deiner liberalen Gesellschaft.

45% der in Deutschland lebenden Salafisten verlangen (2012) Koranverteilungsaktionen in Fußgängerzonen, von den 15 bis 29jährigen sind es sogar 63%.
Auch das ist weder mit dem Grundgesetz noch mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar.

Fast 60 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Muslime zu den Wurzeln des Islam zurückkehren sollten; 75 Prozent meinen, dass nur eine Auslegung des Korans möglich ist, an die sich alle Muslime halten sollten; und 65 Prozent sagen, dass ihnen religiöse Regeln wichtiger sind als die Gesetze des Landes, in dem sie leben
(Studie Koopmans von 2013)

Wenn 65% der in Deutschland lebenden Muslime, die Einhaltung religiöser Regeln [des Koran] für wichtiger halten als die Gesetze des Landes in dem sie leben, dann erkennen diese 65% das Rechtssystem der Aucfnahmegesellschaft NICHT an, erkennen das GG NICHT an.
Und auch das ist weder mit dem rechtsstaatlichen System in Deutschland noch mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar.

Ist es schon. Es liegt im Wesenskern einer Rechtsordnung, dass sie auch für die gilt, die sie nicht anerkennen.

Kein Zweifel besteht darin, dass es auch über demokratische Wege zu einer Entdemokratisierung kommen kann. Die aktuellen (europäischen) Musterbeispiele dafür sind jedoch eben gerade nicht heterogene Gesellschaften sondern eben gerade forciert homogene Gesellschaften wie Ungarn oder Polen. Und es betrifft ganz zentrale Prinzipien wie Pressefreiheit oder Unabhängigkeit der Justiz.
Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt ... ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig (Hannah Arendt)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(05 Dec 2017, 10:36)

Gesellschaft der Singularitäten nennt Andreas Reckwitz das in seiner sehr exakt herausgearbeiteten Theorie. Das ist der bessere Begriff, da Parallelwelten immer jeweils geschlossene Gesellschaften sind, die Singularitäten, die sich auf Personen, Gruppen, Objekte, Ereignisse, Orte, Wissen etc. beziehen können, entstehen dagegen im Rahmen von traditionsunabhängigen Valorisierungen und weisen über sich hinaus keine Gesamtverbindung mehr aus. Es ist, nach Reckwitz, die Aufhebung des Allgemeinen zugunsten des Besonderen. Damit werden dann meine Idiosynkrasien im Zweifelsfall praktisch auch geadelt :D (Bin noch nicht durch mit dem Buch, aber so treffend beschrieben die Dinge sind, so sehr spiegeln sie das nur noch menschen- und eventmittelbare Einzelwesen wider, das nur noch netzwerk- aber nicht mehr gemeinschaftsfähig ist. Was immer man dann davon halten mag, was wiederum vom Menschenbild abhängig ist.
Wenn man irgendwie inhaltlich in der Diskussion um das sehr interessante Strangthema weiterkommen (und nicht einfach nur persönliche Antipathien ausleben) will, ist es wichtig, erstmal festzuhalten - so wie offenbar in diesem Buch dargestellt - dass es einen systemischen Wandel in den (mindestens) europäischen Nachkriegsgesellschaften überhaupt gegeben hat. Und nicht nur einen Wandel sondern eine wesentliche Transformation. Unabhängig von Ost und West. Und auch unabhängig von aktuellen Phänomenen wie der sogenannten "Flüchtlingskrise" oder überhaupt von Migrationsbewegungen. Globalisierung, "Kulturalisierung der Ökonomie" und die Innovationsschübe der digitalen Technologie werden in der Rezension als Hauptursachen für diese Transformation genannt. Das ist erstmal der faktische Befund. Und ich denke, dass auch Phänomene wie die Auflösung der traditionellen Parteienbindungen oder die vielfach wahrgenommene Linksverscheibung der CDU nicht Auslöser für irgendwas sondern selbst eine der Folgen dieser Transformationen ist.

Der Dissenz entsteht in der Frage des Umgangs damit. Sollen traditionelle Wertesysteme wie etwa Nation, Religion, soziale Klassen oder auch dieser spezifisch bundesrepublikanische "Verfassungspatriotismus" diese Bindungsauflösungen kompensieren? Sollen oder müssen die Bindungsauflösungen überhaupt kompensiert werden? Sollen neue Wertesysteme an die Stelle der alten treten?
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Sextus Ironicus »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 13:13)

Wenn man irgendwie inhaltlich in der Diskussion um das sehr interessante Strangthema weiterkommen (und nicht einfach nur persönliche Antipathien ausleben) will, ist es wichtig, erstmal festzuhalten - so wie offenbar in diesem Buch dargestellt - dass es einen systemischen Wandel in den (mindestens) europäischen Nachkriegsgesellschaften überhaupt gegeben hat. Und nicht nur einen Wandel sondern eine wesentliche Transformation. Unabhängig von Ost und West. Und auch unabhängig von aktuellen Phänomenen wie der sogenannten "Flüchtlingskrise" oder überhaupt von Migrationsbewegungen. Globalisierung, "Kulturalisierung der Ökonomie" und die Innovationsschübe der digitalen Technologie werden in der Rezension als Hauptursachen für diese Transformation genannt. Das ist erstmal der faktische Befund. Und ich denke, dass auch Phänomene wie die Auflösung der traditionellen Parteienbindungen oder die vielfach wahrgenommene Linksverscheibung der CDU nicht Auslöser für irgendwas sondern selbst eine der Folgen dieser Transformationen ist.

Der Dissenz entsteht in der Frage des Umgangs damit. Sollen traditionelle Wertesysteme wie etwa Nation, Religion, soziale Klassen oder auch dieser spezifisch bundesrepublikanische "Verfassungspatriotismus" diese Bindungsauflösungen kompensieren? Sollen oder müssen die Bindungsauflösungen überhaupt kompensiert werden? Sollen neue Wertesysteme an die Stelle der alten treten?
Ich mache mal einen Vorschlag: Den Reckwitz diskutieren wir im Einzelnen nochmal, wenn ich durch bin. Denn ich weiß noch nicht, wie er das behandelt, was ich noch vermisse, und mir ist noch nicht klar, ob er seine "Valorisierung" einfach als zu akzeptierendes Faktum darstellt, was ich fast vermute. Und ich muss noch einmal über Werte nachdenken, und über jene "Kultur ohne Zentrum" (Rorty) und über den anthropologischen Aspekt der Sache. Denn hier, das weiß ich schon jetzt anhand seiner Literaturliste, hat Reckwitz leider überhaupt nichts zu bieten. Was das Buch trotzdem nicht weniger interessant macht.
… habe ich mich sorgsam bemüht, menschliche Tätigkeiten nicht zu verlachen, nicht zu beklagen und auch nicht zu verdammen, sondern zu begreifen. (Spinoza)
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(05 Dec 2017, 13:13)

Wenn man irgendwie inhaltlich in der Diskussion um das sehr interessante Strangthema weiterkommen (und nicht einfach nur persönliche Antipathien ausleben) will, ist es wichtig, erstmal festzuhalten - so wie offenbar in diesem Buch dargestellt - dass es einen systemischen Wandel in den (mindestens) europäischen Nachkriegsgesellschaften überhaupt gegeben hat. Und nicht nur einen Wandel sondern eine wesentliche Transformation. Unabhängig von Ost und West. Und auch unabhängig von aktuellen Phänomenen wie der sogenannten "Flüchtlingskrise" oder überhaupt von Migrationsbewegungen. Globalisierung, "Kulturalisierung der Ökonomie" und die Innovationsschübe der digitalen Technologie werden in der Rezension als Hauptursachen für diese Transformation genannt. Das ist erstmal der faktische Befund. Und ich denke, dass auch Phänomene wie die Auflösung der traditionellen Parteienbindungen oder die vielfach wahrgenommene Linksverscheibung der CDU nicht Auslöser für irgendwas sondern selbst eine der Folgen dieser Transformationen ist.

Der Dissenz entsteht in der Frage des Umgangs damit. Sollen traditionelle Wertesysteme wie etwa Nation, Religion, soziale Klassen oder auch dieser spezifisch bundesrepublikanische "Verfassungspatriotismus" diese Bindungsauflösungen kompensieren? Sollen oder müssen die Bindungsauflösungen überhaupt kompensiert werden? Sollen neue Wertesysteme an die Stelle der alten treten?
Ich denke einfach, dass mit dem Fall des Eisernen Vorhanges jegliches soziales Feigenblatt des Westens ebenfalls entfallen ist, weil es ja nicht mehr erforderlich ist, angesichts des gescheiterten, mangelhaften, undemokratischen, aber doch sozial gerechten Sozialismus ebenfalls zu zeigen, dass man doch recht sozial sein kann. Ein "Schaufenster des Westens" ist objektiv nicht mehr nötig, es hat seine Funktion verloren. Die soziale Markwirtschaft der 70er, 80er und 90er gibt es nicht mehr, was zu erheblichen Verwerfungen führt, die besonders in den Staaten des früheren sozialistischen Lagers deutlich und schmerzhaft zu spüren sind. Dort prallen die Gegensätze brachial aufeinander, gibt es plötzlich eine unheimliche Kluft zwischen Reich und Arm, gibt es ein "Prekariat", das sich abstrampeln kann noch und nöcher und einfach nichts abbekommt vom großen Kuchen...

All das (und viel mehr) führt dazu, dass man sich zurückziehen will ins Nationale, in die "eigene Kultur" und dass man für "Eindringlinge" von außen schon gar nichts übrig hat, wo man doch selbst nur so wenig besitzt. Diese Kluft zwischen Oben und Unten, zwischen Arm und Reich hats im Westen schon immer gegeben (wenn auch nicht so intensiv zu spüren wie heute im Osten); man hat dort quasi gelernt, damit umzugehen. Im Ex-Sozialismus dagegen trifft es die Abgehängten oder die, die sich von Existenzverlust und anderen sozialen Ängsten bedroht fühlen, halt noch mal viel härter, weil die Ausgangslage ja eine ungleich andere als im Westen war. Und auf diesem Boden gedeihen Nationalismus und Kulturalismus nun einmal hervorragend. Ich weiß, dass diese Analyse nicht so recht zu den philosophischen Betrachtungen passt, die hier gerade angestellt werden, wollte es aber trotzdem mal erwähnen. Auch, weil es hier nirgends einen passenden Thread für solche Aspekte gibt. Sorry dafür.
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von Bleibtreu »

"Sozial gerechter Sozialismus" - was eine Realsatire und abstossende OstalgieBeschoenigung Angsichts dessen, was in den sozialistischen Staaten Realitaet war und ist - ekelhaft! :dead:
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Re: Gibt es eine verbindende Deutsche Kultur?

Beitrag von schokoschendrezki »

Sextus Ironicus hat geschrieben:(05 Dec 2017, 13:25)

Ich mache mal einen Vorschlag: Den Reckwitz diskutieren wir im Einzelnen nochmal, wenn ich durch bin. Denn ich weiß noch nicht, wie er das behandelt, was ich noch vermisse, und mir ist noch nicht klar, ob er seine "Valorisierung" einfach als zu akzeptierendes Faktum darstellt, was ich fast vermute. Und ich muss noch einmal über Werte nachdenken, und über jene "Kultur ohne Zentrum" (Rorty) und über den anthropologischen Aspekt der Sache. Denn hier, das weiß ich schon jetzt anhand seiner Literaturliste, hat Reckwitz leider überhaupt nichts zu bieten. Was das Buch trotzdem nicht weniger interessant macht.
Guter Vorschlag. Nachdem ich einige weitere Rezensionen und einen Probeausschnitt gelesen habe, glaube ich schon, dass es da aus soziologischer Sicht wirklich um eine fundierte Analyse geht. Gerade weil der Autor auf der einen Seite das Negative der aktuellen Entwicklungen, nämlich den Rückzug auf Nation, Werte, Tradition, Identität, "Kultur" usw. klar benennt, auf der anderen Seite aber nach Alternativen fragt und auch die negativen Seiten der "Singularisierung" klar benennt. Habs grad' bestellt und werd's demnächst (vermutlich) in wenigen Zügen durchgelesen haben.

Dass das Buch in allen möglichen Buchranglisten aktuell ganz ganz oben liegt, ist aber natürlich schon mal ein gewisser Widerspruch in sich ...
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