Besinnung vieler auf alte Traditionen?

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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:41)

Erst einmal ist es eine ziemliche Binsenweisheit, dass es mehrere und auch recht unterschiedliche Freiheitsbegriffe, Aspekte, Dimensionen des Begriffs "Freiheit" gibt. Auch wenn sie einiges gemeinsam haben. Die Sartresche Freiheit, von der ich sprach, ist insofern absolut, als es die Art Freiheit ist, die der Mensch nicht erlangt oder die ihm gewährt wird, sondern die, zu der er verurteilt ist und die insofern sehr wohl absolut ist. Über diese Freiheit verfügt in vollem ungeingeschränkten Maße auch jemand, der in der Todeszelle sitzt. Es ist nicht die Abwesenheit von äußerem Zwang sondern eine innere Entscheidungsmöglichkeit, der man nicht entgeht.
Die Freiheit Sartres, zu der der Mensch verurteilt ist, ist die"Freiheit", sich entscheiden zu müssen. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von einer absoluten Freiheit.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:21)

Die Freiheit Sartres, zu der der Mensch verurteilt ist, ist die"Freiheit", sich entscheiden zu müssen. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von einer absoluten Freiheit.
Meiner Ansicht nach ist das Gegenteil von einer absoluten Freiheit die populäre Auffassung, der Mensch sei zu freien Entscheidungen gar nicht in der Lage. Die bewusste Entscheidung, die Hand zu heben käme lange lange nach dem eigentlich steuernden unbewussten Signal. Glücklicherweise haben meines Wissens selbst die Schöpfer und Hauptvertreter dieser Ansicht dies zumindest in Teilen revidiert. Sartre übrigens rechnet auch die Entscheidung, sich "für nichts" zu entscheiden für eine freie Entscheidung.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

Unité 1 hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:03)

Wenn sie das nicht leisten können, und sie können das nicht - haben sie überhaupt den Anspruch darauf? -, warum sollte es dann eine Rückbesinnung geben? Wenn die globalisierte Kommunikation keinen Ersatz für zwischenmenschliche Kommunikation darstellt, und "Traditionen" als Instrument sozialer Komptenz gelte, ist überhaupt nicht ersichtlich, warum es nicht bei einer gleichmäßigen Traditionspflege geblieben ist, stattdessen eine Rückbesinnung nötig sei. Folglich ist deine Gegenüberstellung Quatsch, globalisierte im Sinne von entgrenzter Kommunikation stellt kein Gegenstück zur zwischenmenschlichen dar.
Zweitens existieren zwischenmenschliche Beziehungen auf vielen Ebenen. Das implizit einer "Rückbesinnung auf Traditionen" zuschreiben zu wollen, verwischt das Eigentliche: "Rückbesinnung auf Traditionen" sind eine Möglichkeit für die Befriedigung des Bedürfnisses nach zwischenmenschlicher Kommunikation wie jeder andere Vereinsmeierei auch. Daran ist nichts besonderes.
Ich schrieb zwischenmenschliche Beziehung und nicht zwischenmenschliche Kommunikation - eine Beziehung ist "geringfügig" mehr als nur Kommunikation, weil zwischenmenschliche Beziehungen genau das schaffen, was Kommunikation allein nicht kann, nämlich soziale Kompetenz(en) entwickeln.
Wenn eine Rükbesinnung auf Tradition - egal welche und was man darunter auch verstehen will - zwischenmenschliche Beziehungen fördern kann, dann fördert das auch die Entwicklung sozialer Kompetenz(en).
Die Wiederentdeckung und Weitergabe traditioneller Handarbeitstechniken/Handwerkstechniken firmiert auch unter "Rückbesinnung auf Traditionen". Und da die vielfach in Vergessenheit geraten sind, IST Rückbesinnung notwendig.
Unité 1 hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:03)]Was zur Frage führt, warum denn nun eine "Rückbesinnung auf Traditionen" so wertvoll sein soll:
Nennt sich Pflege des kulturllen Erbes und ist u.a. ein Hauptanliegen der UNESCO ==> Deklaration von 1954 und Pariser Vertrag von 1972.
Unité 1 hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:03)Man kommt gar nicht umhin, allerwenigstens die Möglichkeit einer Identitätsstiftung, eines Trends zu identitärer Neuformulierung zu betrachten. Vereinsmeierei ist banal - kollektive selbstkonstituierende Identitäten, die ziemlich häufig ihre Wurzeln in vermeintlich wertebehafteten Traditionen haben, sind es nicht.
Nein natürlich kommt man nicht umhin, wenn man gewöhnt ist, alles durch die ideologische Brille zu betrachten und Tradition(en) oder z.B. ethisch-moralische Werte als "überflüssigen Ballast" betrachtet, dessen man sich schnellstens entledigen sollte. Dann ist das natürlich seehhr hilfreich, wenn man das in einem ganz bestimmten politischen Spektrum verorten kann.
Jaaa natürlich - "Vereinsmeierei" - was schließen sich Menschen überhaupt in Vereinen zusammen, wenn nicht als "kollektive selbstkonstituierende Identitäten"?
Schon mal auf die Idee gekommen, dass die gemeinsame Interessen, ein gemeinsames Hobby verbindet, welches sich nur in einem Verein betreiben lässt? Nicht?
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

Die Freiheit Sartres ist situationsbezogen, steht also grundsätzlich in einem gesellschaftlichen Kontext, bzw. in einem Verhältnis zur Umwelt. Das hat nichts mit Determinismus zu tun.
Zuletzt geändert von Zunder am Do 9. Feb 2017, 16:49, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Und vielleicht muss man an dieser Stelle mit einem Missverständnis aufräumen: Eine Philosophie der "Gemeinschaft jenseits von Identität" ist im Gegensatz zu einer psychologischen oder soziologischen Analyse eben nicht nur Analyse sondern auch Synthese im Sinne einer Handlungsethik. Sie ist keine Ideologie (wie hier häufig behauptet) denn sie ist eben auch eine (zumindest gedankliche) Analyse. Der Mangel an "empirischen Daten" ist dann kein Mangel, wenn das Gedankengebäude logisch und konsistent ist. Ähnlich wie etwa die Stringtheorie, die auch nicht (direkt) auf empirischen Daten basiert, sagt sie gewissermaßen auch, welche Experimente (Handlungen) zu machen sind, um ihre Richtigkeit zu bestätigen.
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Beitrag von Zunder »

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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 15:52)

So. Darf sie nicht. Das verwiesene Buch von Juliane Spitta ist auch keine Soziologie- oder Psychologie- sondern eine Philosophie-Dissertation. Wusstest Du, dass Dave Brubeck, einer der genialsten Pianisten der Jazz-Geschichte nicht mal Noten lesen konnte? Seine Aufnahmen sind sozusagen hilfloses Laien-, bestenfalls Amateur-Geklimper. :p
Vergleichst du mal wieder Äppel mit Birnen?
Schon mal was vom "absoluten Gehör" gehört? Soll durchaus Menschen geben, die darüber verfügen und jeden Ton richtig treffen, ohne Noten lesen zu können.
Ich weiß, dass Spitta eine Philosophie-Dissertation geschrieben hat und gerade deshalb kann sie mit ihrer Arbeit keinen Anspruch erheben, irgendwelche relevanten Ergebnisse und/oder praxistaugliche Lösungen vorzuweisen. Genau darum ist ihre Arbeit eine rein weltanschauliche Sichtweise. So what!
Und nochwas: ich habe nirgends etwas von "hilflos" geschrieben, noch habe ich abgewertet. Es ist schlicht und ergreifend eine Tatsache, dass ein Laie oder Amateur nicht über das gleiche Fachwissen verfügt, wie der jeweilige Fachwissenschaftler.
Ich habe Arhäologie studiert und dennoch bin ich Laie, was Klassische Archäologie, Ägyptologie oder Orientalistik angeht. Hat was mit fortschreitender Spezialisierung in den einzelnen Fachrichtungen zu tun.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

Jimi Hendrix konnte übrigens auch keine Noten lesen und die Beatles haben sogar äolische Kadenzen komponiert, ohne zu wissen, was das ist.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:42)

Und vielleicht muss man an dieser Stelle mit einem Missverständnis aufräumen: Eine Philosophie der "Gemeinschaft jenseits von Identität" ist im Gegensatz zu einer psychologischen oder soziologischen Analyse eben nicht nur Analyse sondern auch Synthese im Sinne einer Handlungsethik. Sie ist keine Ideologie (wie hier häufig behauptet) denn sie ist eben auch eine (zumindest gedankliche) Analyse. Der Mangel an "empirischen Daten" ist dann kein Mangel, wenn das Gedankengebäude logisch und konsistent ist. Ähnlich wie etwa die Stringtheorie, die auch nicht (direkt) auf empirischen Daten basiert, sagt sie gewissermaßen auch, welche Experimente (Handlungen) zu machen sind, um ihre Richtigkeit zu bestätigen.
Das "Gedankengebäude" ist eben nicht logisch und in sich konsistent - es weist Mängel auf und diese Mängel sind weltanschaulich-ideologischer Natur.
Der Hauptmangel besteht darin, dass Spitta alles dekonstruiert - angefangen von nationalen Gesetzen, über Staat und Nation bis hin zur individuellen und kollektiven Identität. Sie lehnt jede Vorstellung von Gemeinschaft, ja sogar die Vorstellung individueller Indentität ab und meint so zu einem neuen Politikbegriff zu gelangen.
An diesem Punkt befindet sie sich in der Tradition Derridas und Marx', wobei sie Derridas Vorstellungen einer Politik folgt, die an konkreten Vorhaben orientierten losen Zusammenschlüssen realisierbar wird. Dabei folgt sie den Vorstellungen des Marxismus, dass es keinen substantiellen Grund zur Bildung von Gemeinschaften gibt und eine Identifikation nur über das zu erfolgen habe, was Menschen sachlich miteinader verbindet - und nichts anders. Mit der von Spitta favorisierten Form der "Identifikation" als lose Organisation politisch gemeinsam Handelnder bezieht sie sich auf Rosa Luxemburgs Begriff der "revolutionären Realpolitik", wobei sie Luxemburg gründlich missversteht, die ja gerade eine Gemeinschaft propagiert, die die politische Macht erringen soll - das Proletariat.
Und an dieser Stelle tritt der entscheidende Mangel in Spittas Arbeit zutage - einerseits will sie die "marxistisch-revolutionären" Vorstellungen bewahren, andererseits will sie keine andere individuelle Identifikation, als die von ihr bevorzugte temporäre, lokale projektgebundene.
Wenn das nicht ideologisch ist, was dann?
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Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:56)

Vergleichst du mal wieder Äppel mit Birnen?
Schon mal was vom "absoluten Gehör" gehört? Soll durchaus Menschen geben, die darüber verfügen und jeden Ton richtig treffen, ohne Noten lesen zu können.
Ich weiß, dass Spitta eine Philosophie-Dissertation geschrieben hat und gerade deshalb kann sie mit ihrer Arbeit keinen Anspruch erheben, irgendwelche relevanten Ergebnisse und/oder praxistaugliche Lösungen vorzuweisen. Genau darum ist ihre Arbeit eine rein weltanschauliche Sichtweise. So what!
Und nochwas: ich habe nirgends etwas von "hilflos" geschrieben, noch habe ich abgewertet. Es ist schlicht und ergreifend eine Tatsache, dass ein Laie oder Amateur nicht über das gleiche Fachwissen verfügt, wie der jeweilige Fachwissenschaftler.
Ich habe Arhäologie studiert und dennoch bin ich Laie, was Klassische Archäologie, Ägyptologie oder Orientalistik angeht. Hat was mit fortschreitender Spezialisierung in den einzelnen Fachrichtungen zu tun.
Schon o.k. Ich habe das Buch von Spitta ganz sicher nicht gekauft und gelesen, um "praxistaugliche Lösungen" für irgendwas darin zu finden. Wenn ich für die Planung von Kindergärten und Grundschulen in einem Bundesland verantwortlich wäre, bräuchte ich soziologische und mit empirischen Daten zuverlässig abgesicherte Analysen etwa über die zukünftige demographische Bevölkerungsentwicklung. Ein vernünftiges Verhältnis zu einer sich radikal ändernden Welt zu finden ist aber ein Problem grundsätzlich anderer Art. Der eine jüngere Ansatz, der mich momentan begeistert ist der: Eine Angst "zweiter Ordnung" zu entwickeln. Eine Angst vor einer Gesellschaft, in der zunnehmend nur noch Angst thematisiert und politisch instrumentalisiert wird. Den anderen jüngeren Ansatz, nämlich ein vernünfitges Verhältnis zu einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" zu finden, habe ich paradoxerweise nirgends so genau und präzise formuliert vorgefunden wie ausgerechnet in dem von Dir reingestellten Keupp-Artikel. Also nochmal (in einer etwas ausführlicheren Variante):
Gesellschaftliche Prozesse, die mit Begriffen wie Individualisierung, Pluralisierung, Globalisierung angesprochen sind, haben das Selbstverständnis der klassischen Moderne grundlegend in Frage gestellt. Der dafür stehende Diskurs der Postmoderne hat auch die Identitätstheorie erreicht. In ihm wird ein radikaler Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität vollzogen. Es wird unterstellt, «daß jede gesicherte oder essentialistische Konzeption der Identität, die seit der Aufklärung den Kern oder das Wesen unseres Seins zu definieren und zu begründen hatte, der Vergangenheit angehört»
Hält man sich wirklich nur streng an den Text, so sind folgende DInge unzweifelhaft zu entnehmen: 1. Es gibt eine Diskontiniutät, eben einen historischen Bruch. Was früher mal mit "Identität" verbunden war, ist heute jedenfalls etwas ganz grundsätzlich anderes. 2. Es gibt aktuell einen Dissenz zumindest in Teilaspekten zum Identitätsbegriff. Es ist nicht, keineswegs "klar", wie darüber zu urteilen ist, 3. In einem Punkt sind sich aktuelle verschiedene Überlegungen und Ansätze jedoch einig: Die Vorstellung einer einheitlchen, stabilen, gesicherten Identiät auf der Basis einer Kultur ist nicht mehr haltbar. Es ist völlig o.k. zu behaupten, jedes Individuum lebe in einer Kultur. Es ist dann nur eben eine Meinung außerhalb des aktuellen kanonischen akademischen Wissenstands.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(09 Feb 2017, 16:52)

Wenn man anerkennt, daß eine Existenz jenseits von Identität gar nicht möglich ist, erledigt sich der Rest von selbst.
Eine "Existenz jenseits von Identität" ist nix, das man "anerkennt" oder überhaupt anzuerkennen hätte, sondern etwas, das man schlicht und einfach lebt.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:19)

Eine "Existenz jenseits von Identität" ist nix, das man "anerkennt" oder überhaupt anzuerkennen hätte, sondern etwas, das man schlicht und einfach lebt.
Die Anerkennung bezieht sich auf die Tatsache, daß eine Existenz jenseits von Identität nicht möglich ist.
Die Illusion, eine solche Existenz leben zu können, bleibt davon unberührt.
Das Finanzamt wird sich von der erfundenen Nicht-Identität vermutlich genauso wenig beeindrucken lassen wie von der erfundenen Reichsbürgerschaft.
Mit dem Leben in der Nicht-Identität könnte es besonders dann ziemlich eng werden, wenn z.B. der IS in die Lage versetzt ist, die Identität als Ungläubiger zu bestimmen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 01:17)

Die Anerkennung bezieht sich auf die Tatsache, daß eine Existenz jenseits von Identität nicht möglich ist.
Die Illusion, eine solche Existenz leben zu können, bleibt davon unberührt.
Das Finanzamt wird sich von der erfundenen Nicht-Identität vermutlich genauso wenig beeindrucken lassen wie von der erfundenen Reichsbürgerschaft.
Mit dem Leben in der Nicht-Identität könnte es besonders dann ziemlich eng werden, wenn z.B. der IS in die Lage versetzt ist, die Identität als Ungläubiger zu bestimmen.
Naja ... also dass der Begriff "Identität" mindestens ebenso facettenreich und mehrdimensional ist wie "Freiheit" ist doch selbstverständlich. Gemeint ist natürlich eine festgelegte, eindeutige, benennbare Identität in einer festgelegten, eindeutigen, benennbaren Kultur.

Ich beziehe mich noch einmal auf den von Keupp dargelegten "Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität": Eine Traditionsrückbesinnung (um auch noch mal beim Thema zu bleiben) ist doch auch nicht nur die Feststellung eines real vorhandenen Trends sondern mindestens ebenso eine Handlungsstrategie, um eben diesen historischen Bruch zu "heilen". Und parallel bzw. entgegengesetzt dazu ist das Konzept einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" eine Handlungsstrategie, um die Tatsache dieses Bruchs ins Positive zu wenden, ihn als Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
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Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:12)
Hält man sich wirklich nur streng an den Text, so sind folgende DInge unzweifelhaft zu entnehmen: 1. Es gibt eine Diskontiniutät, eben einen historischen Bruch.
Gibt es den tatsächlich oder wird der nur behauptet?
schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:12)Was früher mal mit "Identität" verbunden war, ist heute jedenfalls etwas ganz grundsätzlich anderes.
Grundsätzlich bedeutet mehrheitlich. Aber genau dieses "mehrheitlich" trifft in der Realität eben nicht zu.
schokoschendrezki hat geschrieben:(09 Feb 2017, 22:12)2. Es gibt aktuell einen Dissenz zumindest in Teilaspekten zum Identitätsbegriff. Es ist nicht, keineswegs "klar", wie darüber zu urteilen ist, 3. In einem Punkt sind sich aktuelle verschiedene Überlegungen und Ansätze jedoch einig: Die Vorstellung einer einheitlchen, stabilen, gesicherten Identiät auf der Basis einer Kultur ist nicht mehr haltbar. Es ist völlig o.k. zu behaupten, jedes Individuum lebe in einer Kultur. Es ist dann nur eben eine Meinung außerhalb des aktuellen kanonischen akademischen Wissenstands.
Oh - nein, diese "Einigkeit" besteht keinesfalls. Diese "Einigkeit" betrifft nur einne relativ kleinen Teil der Gesamtbevölkerung und dieser kann nicht - auch wenn er das gerne tut - die Deutungshoheit für sich beanspruchen, was denn zur Identitätsbildung beiträgt.
Es handelt sich lediglich um eine Behauptung - für die jeder Beleg fehlt - dass Identitätsbildung nicht an die von der (einen) Kultur maßgeblich beeinflusst ist, in der Mensch lebt, in die er hinein geboren ist.
Es gibt auch keinen "aktuellen kanonischen Wissensstand", weil es eben nicht eine allgemein anerkannte Identitätstheorie gibt, sondern viele verschiedene.
Und nur weil eine, von einem Teil der Bevölkerung - präferiert wird, handelt es sich noch lange nicht um "aktuellen kanonischen Wissensstand".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 09:03)

Naja ... also dass der Begriff "Identität" mindestens ebenso facettenreich und mehrdimensional ist wie "Freiheit" ist doch selbstverständlich. Gemeint ist natürlich eine festgelegte, eindeutige, benennbare Identität in einer festgelegten, eindeutigen, benennbaren Kultur.

Ich beziehe mich noch einmal auf den von Keupp dargelegten "Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität": Eine Traditionsrückbesinnung (um auch noch mal beim Thema zu bleiben) ist doch auch nicht nur die Feststellung eines real vorhandenen Trends sondern mindestens ebenso eine Handlungsstrategie, um eben diesen historischen Bruch zu "heilen". Und parallel bzw. entgegengesetzt dazu ist das Konzept einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" eine Handlungsstrategie, um die Tatsache dieses Bruchs ins Positive zu wenden, ihn als Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
Und genau hier ist der entscheidende Denkfehler! Zäsuren sind und bleiben Zäsuren, die können weder geheilt nich ins positive gewendet werden.
Genauso wenig können Kultur und Sozialsystem/Sozialstrukturen auseinander dividiert werden. Sie sind integraler Bestandteil jeder Kultur.
Eine kulturelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung.
Und die "traditionellen Bindungskräfte" von denen du (alle) Menschen befreit sehen und deren Befreiung du feiern willst, sind in erster Linie emotionale Bindungen.
Wenn du Menschen von ihren "traditionellen Bindungskräften" befreien willst, was bleibt dann noch vom Menschen übrig?
Das ist doch genau das, was immer wieder kritisiert wird - das ist die Ideologie, die einen "neuen Menschen" schaffen will. Eine Ideologie die "grandios" gescheitert ist - die Ideologie des Marxismus, die trotz allem weiter verfolgt wird, wenn auch in etwas "anderem Gewand".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 09:03)
......Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
Ich hab's gerne konkret. Und wenn man solche unverbindlichen Allgemeinplätzchen auf ihren Realitätsgehalt untersucht, wird man feststellen, daß eine "kulturelle Entwurzelung des Individuums" in Deutschland letztmals 1933 ff stattfand.
Eine vernunftorientierte Kultur zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie sich verändert, ohne ihre Grundlagen zu zerstören.
Soziale Verwurzelung ist übrigens nicht Gegenteil, sondern Bestandteil von kultureller Verwurzelung, wobei ich den Begriff "Verwurzelung" ohnehin für ein bißchen problematisch halte. Er zielt auf ein organisch-naturbehaftetes Verhältnis, das dem eigentlichen Verständnis von Kultur widerspricht.

Der für mich plausibelste Gegenentwurf zur Gemeinschaft, die auf sozialer, völkischer oder religiöser Homogenität beruht, ist nach wie vor die bürgerliche Gesellschaft, die die Beziehungen freier Individuen zueinander und zum Staat, resp. dem Gemeinwesen als Ganzes, durch ein gesichertes Rechtsverhältnis bestimmt. Diese Gesellschaft, zweifellos eine Errungenschaft der abendländischen Kultur, gilt es zu verteidigen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 09:03)

Naja ... also dass der Begriff "Identität" mindestens ebenso facettenreich und mehrdimensional ist wie "Freiheit" ist doch selbstverständlich. Gemeint ist natürlich eine festgelegte, eindeutige, benennbare Identität in einer festgelegten, eindeutigen, benennbaren Kultur.

Ich beziehe mich noch einmal auf den von Keupp dargelegten "Bruch mit allen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität": Eine Traditionsrückbesinnung (um auch noch mal beim Thema zu bleiben) ist doch auch nicht nur die Feststellung eines real vorhandenen Trends sondern mindestens ebenso eine Handlungsstrategie, um eben diesen historischen Bruch zu "heilen". Und parallel bzw. entgegengesetzt dazu ist das Konzept einer "Gemeinschaft jenseits von Identität" eine Handlungsstrategie, um die Tatsache dieses Bruchs ins Positive zu wenden, ihn als Befreieung von traditionellen Bindungskräften zu feiern und den real fortschreitenden Prozess der kulturellen (!) Entwurzelung des Individuums noch tatkräftig anzufeuern. Nicht zuletzt, indem man eine stärkere soziale (!) Verwurzelung dagegensetzt.
Aber natürlich "feiern" Linke die Zerstörung der Identifikationsgrundlage bzw Entwurzelung aus ihrer Indentifikationsgrundlage als "Befreiung". Schließlich lassen sich, in ihrer Identität verunsicherte, entwurzelte Individuen sehr viel besser ideologisch manipulieren und indoktrinieren, als Individuen, die eine gesicherte Indentifikationsgrundlage haben, sich nicht nur lose über das identifzieren bzw organisieren, was sie "sachlich miteinader verbindet - und nichts anderes".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Kael »

Wo wurde denn das Individuum 1933 entwurzelt? Es wurde eher verwurzelt.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

Kael hat geschrieben:(10 Feb 2017, 19:16)

Wo wurde denn das Individuum 1933 entwurzelt? Es wurde eher verwurzelt.
Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Eine Liste mit den Namen bekannter Emigranten findest du auf Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bek ... 80%931945)
Ich glaube, das muß nicht wirklich ausgeführt werden.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Fuerst_48 »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 20:01)

Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Eine Liste mit den Namen bekannter Emigranten findest du auf Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bek ... 80%931945)
Ich glaube, das muß nicht wirklich ausgeführt werden.
Kulturelle Verlustliste ist treffend. Aber auch die für die Wissenschaften ist beträchtlich.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von JJazzGold »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 20:01)

Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Eine Liste mit den Namen bekannter Emigranten findest du auf Wiki:
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bek ... 80%931945)
Ich glaube, das muß nicht wirklich ausgeführt werden.
....und so Zeugs. :D :thumbup:
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 15:55)

Aber natürlich "feiern" Linke die Zerstörung der Identifikationsgrundlage bzw Entwurzelung aus ihrer Indentifikationsgrundlage als "Befreiung". Schließlich lassen sich, in ihrer Identität verunsicherte, entwurzelte Individuen sehr viel besser ideologisch manipulieren und indoktrinieren, als Individuen, die eine gesicherte Indentifikationsgrundlage haben, sich nicht nur lose über das identifzieren bzw organisieren, was sie "sachlich miteinader verbindet - und nichts anderes".
Sorry, aber gibts diese sicher interessante These auch in verständlichem Deutsch? ;)
Drüben im Walde kängt ein Guruh - Warte nur balde kängurst auch du. Joachim Ringelnatz
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 11:34)

Und genau hier ist der entscheidende Denkfehler! Zäsuren sind und bleiben Zäsuren, die können weder geheilt nich ins positive gewendet werden.
Genauso wenig können Kultur und Sozialsystem/Sozialstrukturen auseinander dividiert werden. Sie sind integraler Bestandteil jeder Kultur.
Eine kulturelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung.
Und die "traditionellen Bindungskräfte" von denen du (alle) Menschen befreit sehen und deren Befreiung du feiern willst, sind in erster Linie emotionale Bindungen.
Wenn du Menschen von ihren "traditionellen Bindungskräften" befreien willst, was bleibt dann noch vom Menschen übrig?
Das ist doch genau das, was immer wieder kritisiert wird - das ist die Ideologie, die einen "neuen Menschen" schaffen will. Eine Ideologie die "grandios" gescheitert ist - die Ideologie des Marxismus, die trotz allem weiter verfolgt wird, wenn auch in etwas "anderem Gewand".
Aber auch Du hast (mehrfach) davon gesprochen, dass Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke den Menschen kulturell entfremde und dass Traditionsrückbesinnung ein Gegenrezept dazu sei. Dass du also etwas - einfach gesprochen - "durchdrücken" willst. Oder ich hab das falsch verstanden ...?

Der Satz "Eine kutlruelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung" ist eine schön klingende Phrase, wirklich, und nicht mehr. Einfach mal einen Meter, eine Dekade zurücktreten und überlegen, wohin die Weltgesellschaft sich eigentlich wirklich hinentwickelt, hinentwickeln will. Bei allem Respekt für praktische Politik: Steuersätze verändern, Budget-Richtlinien anpassen, Kreiszusammenschlüsse organisieren ,.. alles ehrenwerte Tätigkeiten, aber für das grundlegende Problem, das sich u.a. im reflexhaften Traditionsrückbesinnungsbedürfnis äußert, müssen schon grundlegendere Gegenentwürfe her. Ich bestreite vehement, dass emotionale Bindungen mit traditionellen Bindungskröften identisch sind. Meine emotionalen Bindungen zu den mir nahestenden Menschen haben nix, aber auch gar nix mit Kulturdraditionen zu tun. Eine wirklich radikal andere Gesellschaftsvision muss her. In den kommenden Gemeinschaften (jenseits von Identität) wird Konsum, Geld, Neid keine Rolle mehr spielen. Statt dessen soziale Verantwortung, Solidarität. Und auf der anderen Seite werden sich alle identitären Bindungen vollständig auflösen. Es wird nur noch Individuen und frei schwebende, völlig separierte Teilgemeinschaften geben. Am Ende wird sich auch die gemeinsame Sprache als identitäres Merkmal auflösen. Warum ist das keine Ideologie? Warum ist das kein Aufruf zur verordneten Menschenschaffung? Weil der Zug ohnehin in diese Richtung läuft. Lieber aktiv beim Weichenstellen dabei sein als diesen Zug der Zeit sinnloserweise und mit Gewalt stoppen zu wollen. Weil es bedeutet, den objektiven Gang der Geschichte positiv umzudeuten statt in einem ewigen und völllig nutzlosen Lamento gegen den Zug der Zeit eine Traditionsrückbesinnung einzufordern.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 15:55)

Aber natürlich "feiern" Linke die Zerstörung der Identifikationsgrundlage bzw Entwurzelung aus ihrer Indentifikationsgrundlage als "Befreiung". Schließlich lassen sich, in ihrer Identität verunsicherte, entwurzelte Individuen sehr viel besser ideologisch manipulieren und indoktrinieren, als Individuen, die eine gesicherte Indentifikationsgrundlage haben, sich nicht nur lose über das identifzieren bzw organisieren, was sie "sachlich miteinader verbindet - und nichts anderes".
Das widerspricht doch nun wirklich diametral, um 180 Grad verdreht, allen realen beobachtbaren politischen Weltgegebenheiten. Bitte, wo auch immer: Türkei, Ungarn, Russland, Polen, möglicherweise neuerdings Frankreich oder Niederlande: In allen Fällen sind ganz klar und ohne jeden leisesten Zweifel die identitär Verwurzelten die manipulierten Antidemokraten und die identitär Entwurzelten die aufrichtigen wenigen selbständig denkenden Demokraten, Das Türkentum oder Ungarntum oder Franzosentum oder gar die islamische Identität als Garant für unabhängiges Denken? Wie verrückt und verwirrt kann man denn sein? Im Grunde entspricht eine solche Denkungsart der SED-Ideologie in der DDR unter dem Begriff "Unsere Menschen". "Unsere Menschen" war in der DDR der gebräuchliche Begriff, um den WIR-Gedanken zu popularisieren und um Individualismus als bürgerlich-reaktionär zu verunglimpfen. Die Gemeinsamkeit der WIR-SED-Ideologie mit der (elendig geheuchelten) Besorgnis um die armen, dummen "entwurzelten Individuen", denen man doch irgendwie beistehen sollte ... ist doch offensichtlich, In Wahrheit sind die armen entwurzelten Individuen einfach nur starke Charaktere, die weder als Abendlandverteidiiger auf Pegida-Demonstrationen mitlaufen noch mit einem Ärzte-T-Shirt als "Fans" zu St.Pauli-Fußballspielen gehen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)

Aber auch Du hast (mehrfach) davon gesprochen, dass Digitalisierung, Virtualisierung, soziale Netzwerke den Menschen kulturell entfremde und dass Traditionsrückbesinnung ein Gegenrezept dazu sei. Dass du also etwas - einfach gesprochen - "durchdrücken" willst. Oder ich hab das falsch verstanden ...?
Nein - ich habe nicht gesagt, dass Digitalisierung und Virtualisierung, soziale Netzwerke die Menschen kulturell entfremdet, sondern dass dadurch zur Reduzirung zwischenmenschlicher Beziehungen kommt UND ich habe Nachweise dafür gebracht.
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)Der Satz "Eine kutlruelle Entwurzelung ist immer auch eine soziale Entwurzelung" ist eine schön klingende Phrase, wirklich, und nicht mehr.
Nein, das ist keine Phrase, sondern Tatsache. Soziale Strukturen, Sozialisation sind Bestandteil einer Kultur - jeder Kultur. Die kannst du nicht auseinander dividieren.
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)Einfach mal einen Meter, eine Dekade zurücktreten und überlegen, wohin die Weltgesellschaft sich eigentlich wirklich hinentwickelt, hinentwickeln will.
Es gibt keine "Weltgesellschaft", weil es immer noch ganz unterschiedliche Gesellschaftsformen gibt.
In der Soziologie wird unter Gesellschaft eine, durch unterschiedliche Merkmale zusammengefasste und abgegrenzte Anzahl von Personen, die als sozial Handelnde miteinander verknüpft leben und direkt oder indirekt sozial interagieren.
Abgegrenzte Anzahl von Menschen, die miteinander direkt oder indirekt sozial miteinander interagieren. Nix mit Weltgesellschaft - nope!
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)]Bei allem Respekt für praktische Politik: Steuersätze verändern, Budget-Richtlinien anpassen, Kreiszusammenschlüsse organisieren ,.. alles ehrenwerte Tätigkeiten, aber für das grundlegende Problem, das sich u.a. im reflexhaften Traditionsrückbesinnungsbedürfnis äußert, müssen schon grundlegendere Gegenentwürfe her
Ach müssen - sagt wer? Fordert wer? Die Linken?
Wir leben immer noch in einer Demokratie und da entscheidet die Mehrheit und diese Mehrheit - bestehend aus politischer Mitte, Liberalen, Rechtsliberalen und rechtskonservativen, sind nicht der Meinung, dass (unbedingt) "grundlegendere Gegenentwürfe" hermüssen. Dieser Meinung sind nur Linke und Grüne und die bilden nicht die Mehrheit der Bevölkerung, aber als Befürworter von Diktatur (ob das "Kind" nun "Diktatur des Proletariats" genannt wird oder "Gendermainstream" genannt wird, die ideologische Basis ist die gleiche) beanspruchen sie die Deutungshoheit, was gut für die Menschen zu sein hat und sie wollen das durchsetzen.
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16)]. Ich bestreite vehement, dass emotionale Bindungen mit traditionellen Bindungskröften identisch sind. Meine emotionalen Bindungen zu den mir nahestenden Menschen haben nix, aber auch gar nix mit Kulturdraditionen zu tun.
Nee wirklich nicht? Und deine Erziehung vollzog sich so vollkommen losgelöst von kulturellen Traditionen, vollkommen losgelöst, von der Kultur, in der du lebst, in die du hinein geboren wurdest?
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16) Eine wirklich radikal andere Gesellschaftsvision muss her. In den kommenden Gemeinschaften (jenseits von Identität) wird Konsum, Geld, Neid keine Rolle mehr spielen.
Ach - muss sie das?
Und wer bestimmt das? Die Linken, die am liebsten alle, die über der SummeX verdienen per 75% Höhststeuersatz enteignen wollen?
Was für eine Gesellschaft schwebt dir denn so vor? Diktatur, Tyrannis oder was?
schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:16) Statt dessen soziale Verantwortung, Solidarität. Und auf der anderen Seite werden sich alle identitären Bindungen vollständig auflösen. Es wird nur noch Individuen und frei schwebende, völlig separierte Teilgemeinschaften geben. Am Ende wird sich auch die gemeinsame Sprache als identitäres Merkmal auflösen. Warum ist das keine Ideologie? Warum ist das kein Aufruf zur verordneten Menschenschaffung? Weil der Zug ohnehin in diese Richtung läuft. Lieber aktiv beim Weichenstellen dabei sein als diesen Zug der Zeit sinnloserweise und mit Gewalt stoppen zu wollen. Weil es bedeutet, den objektiven Gang der Geschichte positiv umzudeuten statt in einem ewigen und völllig nutzlosen Lamento gegen den Zug der Zeit eine Traditionsrückbesinnung einzufordern.
Was DIR vorschwebt, sind Menschen ohne Identität, verunsichterte Menschen, ohne jedes Zugehörigkeitsgefühl, weil sie sich ständig neu orientieren (sich ständig "neu erfinden" müssen), weil es keinerlei Kontinuität in ihrem Leben und für sie gibt.
Ja selbstverständlich ist das Ideologie! Deine "Vision" - eigentlich eine Dystiopie - entstammt genau der Ideologie die schon einmal gescheitert ist, die wieder scheitern wird.
Niemand fordert Traditionsrückbesinnung ein, die findet statt - überall in Europa und nicht nur in Europa - ganz ohne Forderung.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(10 Feb 2017, 22:37)

Das widerspricht doch nun wirklich diametral, um 180 Grad verdreht, allen realen beobachtbaren politischen Weltgegebenheiten. Bitte, wo auch immer: Türkei, Ungarn, Russland, Polen, möglicherweise neuerdings Frankreich oder Niederlande: In allen Fällen sind ganz klar und ohne jeden leisesten Zweifel die identitär Verwurzelten die manipulierten Antidemokraten und die identitär Entwurzelten die aufrichtigen wenigen selbständig denkenden Demokraten, Das Türkentum oder Ungarntum oder Franzosentum oder gar die islamische Identität als Garant für unabhängiges Denken? Wie verrückt und verwirrt kann man denn sein? Im Grunde entspricht eine solche Denkungsart der SED-Ideologie in der DDR unter dem Begriff "Unsere Menschen". "Unsere Menschen" war in der DDR der gebräuchliche Begriff, um den WIR-Gedanken zu popularisieren und um Individualismus als bürgerlich-reaktionär zu verunglimpfen. Die Gemeinsamkeit der WIR-SED-Ideologie mit der (elendig geheuchelten) Besorgnis um die armen, dummen "entwurzelten Individuen", denen man doch irgendwie beistehen sollte ... ist doch offensichtlich, In Wahrheit sind die armen entwurzelten Individuen einfach nur starke Charaktere, die weder als Abendlandverteidiiger auf Pegida-Demonstrationen mitlaufen noch mit einem Ärzte-T-Shirt als "Fans" zu St.Pauli-Fußballspielen gehen.
Na endlich lässt du deine Maske fallen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(10 Feb 2017, 23:28)
Niemand fordert Traditionsrückbesinnung ein, die findet statt - überall in Europa und nicht nur in Europa - ganz ohne Forderung.
Naja. Schauen wir mal, was demnächst alles so stattfindet in Europa und der Welt oder schon stattgefunden hat. Und wie die Konzepte dagegen aussehen werden.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 14:59)

Ich hab's gerne konkret. Und wenn man solche unverbindlichen Allgemeinplätzchen auf ihren Realitätsgehalt untersucht, wird man feststellen, daß eine "kulturelle Entwurzelung des Individuums" in Deutschland letztmals 1933 ff stattfand.
Eine vernunftorientierte Kultur zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie sich verändert, ohne ihre Grundlagen zu zerstören.
Soziale Verwurzelung ist übrigens nicht Gegenteil, sondern Bestandteil von kultureller Verwurzelung, wobei ich den Begriff "Verwurzelung" ohnehin für ein bißchen problematisch halte. Er zielt auf ein organisch-naturbehaftetes Verhältnis, das dem eigentlichen Verständnis von Kultur widerspricht.
Nicht ganz unberechtig. Nenn' es einfach soziale Verantwortung und Solidarität.
Der für mich plausibelste Gegenentwurf zur Gemeinschaft, die auf sozialer, völkischer oder religiöser Homogenität beruht, ist nach wie vor die bürgerliche Gesellschaft, die die Beziehungen freier Individuen zueinander und zum Staat, resp. dem Gemeinwesen als Ganzes, durch ein gesichertes Rechtsverhältnis bestimmt. Diese Gesellschaft, zweifellos eine Errungenschaft der abendländischen Kultur, gilt es zu verteidigen.
Das sehe ich überhaupt nicht so. Diese Gesellschaft ist eine Errungenschaft der Aufklärung, der menschlichen Vernunft und der Idee universell gültiiger Menschenrechte.

Der jüngere historische Aufstieg des "Abendland"-Begriffs fand vor allem in der Romantik Anfang, Mitte des 19. Jahrhunderts statt und er war, ganz im Gegenteil gegen Aufklärung, Humanismus und Bürgerlichkeit gerichtet. Er ist auch nur eine Abkürzung für "christliches Abendland". Und an die Stelle von Vernunft, Menschlichkeit und Humanismus treten dort mystische Fiktionen wie die von Karl dem Großen als Ahnherrn aller abendländischen Menschen oder der "Niebelungentreue".
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(10 Feb 2017, 20:01)

Es ging um die "kulturelle Entwurzelung".
Die Kultur der Weimarer Republik war unter anderem geprägt von der Freiheit der Lehre, der Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit und so Zeugs.
Richtig. Und die Forderung nach "Traditionalismusrückbesinnung" war eine der wesentlichen geistig-kulturellen Ursachen für den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Ich hatte bis vor kurzem selbst die Hoffnung, dass die, die auf Tradition, Nation und Identität setzen, sich quasi ganz von selbst zerlegen werden, und das Ende der EU-Parlaments-Rechtsaußenfraktion ITS (Identität, Tradition, Souveränität) schien das auch zu bestätigen. Der Aufstieg der Putins, Kaczynskis, Wilders, Le Pens, Orbáns, Erdogans usw. usf. belehrte mich jedoch inzwischen eines Schlechteren. Ohne ein aktives zutun derer, die für eine Gemeinschaft jenseits von identität eintreten, wird sich dieser Prozess der Entdemokratisierung fortsetzen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:54)

Richtig. Und die Forderung nach "Traditionalismusrückbesinnung" war eine der wesentlichen geistig-kulturellen Ursachen für den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Ich hatte bis vor kurzem selbst die Hoffnung, dass die, die auf Tradition, Nation und Identität setzen, sich quasi ganz von selbst zerlegen werden, und das Ende der EU-Parlaments-Rechtsaußenfraktion ITS (Identität, Tradition, Souveränität) schien das auch zu bestätigen. Der Aufstieg der Putins, Kaczynskis, Wilders, Le Pens, Orbáns, Erdogans usw. usf. belehrte mich jedoch inzwischen eines Schlechteren. Ohne ein aktives zutun derer, die für eine Gemeinschaft jenseits von identität eintreten, wird sich dieser Prozess der Entdemokratisierung fortsetzen.
Kann ich alles unterschreiben. Bis auf eine kleine Kleinigkeit ;): Putin passt nicht in die Reihe dieser von dir genannten Nationalisten, weil die anderen alle nicht nur extreme Nationalisten, sondern zudem ziemlich finstere Rechtspopulisten sind, zu denen Putin nicht gehört (er ist sicher Nationalist in gewisser Weise oder besser Russland-Patriot, aber kein rechtsextremer). Und wenn wir (sorry für das Wörtchen "wir") nicht sehr aufpassen, könnte das in Europa unter Umständen in Richtung offener Faschismus gehen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Misterfritz »

Selina hat geschrieben:(11 Feb 2017, 09:23) Putin passt nicht in die Reihe dieser von dir genannten Nationalisten, weil die anderen alle nicht nur extreme Nationalisten, sondern zudem ziemlich finstere Rechtspopulisten sind, zu denen Putin nicht gehört (er ist sicher Nationalist in gewisser Weise oder besser Russland-Patriot, aber kein rechtsextremer).
Ach ja? Wie unterscheidet er sich denn z.B. von Erdogan?
Und wie unterscheidet sich ein russischer Nationalist von einem Russlandpatrioten?
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Selina hat geschrieben:(11 Feb 2017, 09:23)

Kann ich alles unterschreiben. Bis auf eine kleine Kleinigkeit ;): Putin passt nicht in die Reihe dieser von dir genannten Nationalisten, weil die anderen alle nicht nur extreme Nationalisten, sondern zudem ziemlich finstere Rechtspopulisten sind, zu denen Putin nicht gehört (er ist sicher Nationalist in gewisser Weise oder besser Russland-Patriot, aber kein rechtsextremer). Und wenn wir (sorry für das Wörtchen "wir") nicht sehr aufpassen, könnte das in Europa unter Umständen in Richtung offener Faschismus gehen.
Orbán beispielsweise ist auch kein "finsterer Rechtspopulist". Was sollte man dann über die Politiker der Jobbik-Partei sagen? Es ist auch richtig, dass für Identität und Tradition einstehen nicht automatisch rechts und schon gar nicht "identitär" heißt. Es verstärkt und beschleunigt aber de facto - ob man will oder nicht - in jedem Fall das weitere Abdriften Europas und der Welt nach Rechts und nützt de facto denen, die für die identitäre Bewegung stehen.

Apropos: Heute 18:00 Deutschlandradio Kutlur: Die Invasion der Identitären. Ein Feature von Manuel Gogos.

Meine Skepsis gegenüber Putin hat vor allem damit zu tun, dass seine Regierung - im Unterschied zu all den genannten Rechtskonservativen und von Identität,Nation und Tradition schwadronierenden Populisten - in mehrere bewaffnete Konflikte verwickelt ist und darin eine Rolle spielt, die allermindestens zweifelhaft, wenn nicht völkerrechtswidrig ist.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:17)

Naja. Schauen wir mal, was demnächst alles so stattfindet in Europa und der Welt oder schon stattgefunden hat. Und wie die Konzepte dagegen aussehen werden.
Der gegenwärtige Trend ist eindeutig und das hat Gründe, statt die Nazikeule zu schwingen und zu plärren "alle räächts, alles phöhse" - das muss geändert werden, sollten vielleicht mal die Gründe für diese Entwicklung untersucht werden. Auch hier gilt das Prinzip von Ursache und Wirkung.
"Konzepte dagegen" sind ja schön und gut - nur die muss man auch durchsetzen (können). In einer Demokratie funktioniert das nur über das Mehrheitsprinzip und von einer Mehrheit sind Linke aber sehr weit entfernt. Mit gerade mal 8,6% der Wählerstimmen, wie bei der Bundestagswahl 2013, wird das aber nix.
Es ist ja nicht so, dass die AfD so viel Zulauf hat, weil sich die Menschen in ihren politischen Ansichten radikalisieren/stark radikalisieren, sondern weil sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, weil sie unzufrieden mit deren aktueller Politik sind.
Es ist ja nicht so, dass die "politische Mitte" nicht mehr existieren würde, dass die nach "räächts gerückt" wäre, es ist vielmehr so, dass aktuelle Politik einen Ruck nach links vollzogen und damit ein "politisches Vakuum" erzeugt hat, in das die AfD hineinstößt.
Politiker der CDU sollten sich an die Worte von Franz Josef Strauß erinnern: "Rechts neben der Union darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben!"
Genau da liegt nämlich das eigentliche Problem und nicht nur in Deutschland.
Und genau deshalb bleiben die "Visionen" von Linken und Grünen von den "Gegenkonzepten - einer Gemeinschaft jenseits von Identität/der Identität" auch nichts weiter als feuchte Träume.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 11:29)

Meine Skepsis gegenüber Putin hat vor allem damit zu tun, dass seine Regierung - im Unterschied zu all den genannten Rechtskonservativen und von Identität,Nation und Tradition schwadronierenden Populisten - in mehrere bewaffnete Konflikte verwickelt ist und darin eine Rolle spielt, die allermindestens zweifelhaft, wenn nicht völkerrechtswidrig ist.
Mein Skepsis betrifft da beide Seiten. Die Stationierung deutscher Truppen und deutscher Militärtechnik gerade in so einem sensiblen Baltikum-Raum direkt an der russischen Grenze, schlimmer gehts ja nun nicht mehr. Das dreht die Rüstungsspirale immer weiter... Das macht mir echte Angst. Sorry an die Admins für OT.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 11:29)

Orbán beispielsweise ist auch kein "finsterer Rechtspopulist". Was sollte man dann über die Politiker der Jobbik-Partei sagen? Es ist auch richtig, dass für Identität und Tradition einstehen nicht automatisch rechts und schon gar nicht "identitär" heißt. Es verstärkt und beschleunigt aber de facto - ob man will oder nicht - in jedem Fall das weitere Abdriften Europas und der Welt nach Rechts und nützt de facto denen, die für die identitäre Bewegung stehen.
Meine Zustimmung. Nur sehe ich da Putin ebenfalls nicht in vorderster Reihe. Der Besuch der AfD fand doch vor allem bei gleichgesinnten Rechtspopulisten in Russland statt. Oder? Und das ist - wie bei uns - nur ein Teil der Gesellschaft.
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Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(11 Feb 2017, 13:56)

Der gegenwärtige Trend ist eindeutig und das hat Gründe, statt die Nazikeule zu schwingen und zu plärren "alle räächts, alles phöhse" - das muss geändert werden, sollten vielleicht mal die Gründe für diese Entwicklung untersucht werden. Auch hier gilt das Prinzip von Ursache und Wirkung.
"Konzepte dagegen" sind ja schön und gut - nur die muss man auch durchsetzen (können). In einer Demokratie funktioniert das nur über das Mehrheitsprinzip und von einer Mehrheit sind Linke aber sehr weit entfernt. Mit gerade mal 8,6% der Wählerstimmen, wie bei der Bundestagswahl 2013, wird das aber nix.
Es ist ja nicht so, dass die AfD so viel Zulauf hat, weil sich die Menschen in ihren politischen Ansichten radikalisieren/stark radikalisieren, sondern weil sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, weil sie unzufrieden mit deren aktueller Politik sind.
Und es ist keineswegs so, dass das Konzept "Gemeinschaft jenseits von Identität" identisch mit politisch links oder gar mit den Zielen der Partei Die Linke ist. Ebenso wie Traditionsrückbesinnung und Setzen auf Identität nicht identisch mit politisch rechts ist. Gewerkschafts-Unionismus, "Klassenbewusstsein", DDR-Nostalgie, alles was so unter linker "Fan-Kultur" in Massenveranstaltungssport und Pop läuft, sind einige Beispiele für links verortete Tendenzen, die ebenso identitär verseucht sind.

Der aktuelle politische Trend ist, glaube ich, viel zu machtvoll und dominant, um ihn auf irgendeine Unzufriedenheit mit irgendeiner Politik irgendeiner Partei zurückzuführen. Auf irgendeine nicht eingehaltene Rentenangleichsquote, einen nicht fristgerecht fertiggestellten Flugplatz oder irgendwelche als unangemessen empfundenen Autobahngebühren. Es ist eher ein globaler Schwenk von der Erfolgsgeschichte des Individualismus hin zu einem "Wir hier und die dort. Entscheide dich, wo du hingehörst. Und glaube ja nicht, dass du mit deinem "Ich zuerst" hier, heute und bei uns noch durchkommst."

Exemplarisch dafür ist für mich der völlig unbedachtsame Umgang mit dem "Abendland"-Begriff. Nicht nur bei Pegida, Legida und Co. Das "Abendland" ist in erster Linie und historisch gesehen ein Gegenpol-Konzept. Es steht dem "Morgenland" gegenüber. Novalis und die Brüder Schlegel stehen namentlich vor allem für eine romantische Abendland-Nostalgie. Die gesamte Epoche nach dem Wiener Kongress ist von diesem antiaufklärerischem Traditionalismus geprägt (um einigermaßen beim Thema zu bleiben). Man war um 1800 eigentlich schon so weit gekommen: Kant, Goethe, Humboldt, Leibnitz, Newton. Kategorischer Imperativ, Wahlverwandtschaften (schon vom Titel her antiidentitär), Infinitesimalrechnung, Latein und Antiqua-Schrift als kosmopolitische Austauschbasis und sozusagen historisches Internet statt "Abendland". Aber es kamen nun zig Dekaden Dunkelheit stattdessen. Eichenwaldrauschen, Wartburgfeste, deutsche Frakturschrift als Aufrichtigkeitsbekenntnis, patriotische Turnvereine, Treue, Ehre, Vaterland. Beendet wurde diese Finsternis letztlich nicht durch Politik sondern durch Eisenbahn, Dampfmaschine, Elektrizität und Telefon. Und deshalb - so hoffe ich jedenfalls - wird sich die Gesellschaftsutopie "Gemeinschaft jenseits von Identität" nicht durch den Wahlerfolg irgendeiner linken Partei sondern ganz objektiv durch Technologiefortschritt durchsetzen.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Selina »

Dark Angel hat geschrieben:(11 Feb 2017, 13:56)

Es ist ja nicht so, dass die AfD so viel Zulauf hat, weil sich die Menschen in ihren politischen Ansichten radikalisieren/stark radikalisieren, sondern weil sie sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlen, weil sie unzufrieden mit deren aktueller Politik sind.
Es ist ja nicht so, dass die "politische Mitte" nicht mehr existieren würde, dass die nach "räächts gerückt" wäre, es ist vielmehr so, dass aktuelle Politik einen Ruck nach links vollzogen und damit ein "politisches Vakuum" erzeugt hat, in das die AfD hineinstößt.
Nein, das ist die Lesart vieler AfD-Wähler selbst. Weil Merkel im Sommer 2015 humanistisch und christlich handelte, soll sie "nach links gerückt" sein. Diese These ist schon sehr gewagt und auch etwas verschroben. Andere Lesarten sagen etwas anderes: Nämlich, dass die AfD-Anhänger wegen ihrer Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien einfach in Kauf nehmen, eine Partei zu wählen, die keine Berührungsängste mit noch weiter rechts hat, deren Protagonisten oft deutliches Nazivokabular verwenden und auch so denken, die bei den Identitären ein und aus gehen (oder die bei denen). Die AfD gehört klar zu den Neuen Rechten.

Bei dem Begriff "politische Mitte" hatte ich immer schon Bauchschmerzen, weil unter diesem Begriff (z. B. SPD, "Partei der Mitte" statt der sozialen Gerechtigkeit) auch locker die Agenda2010 eingeführt wurde, die einen gewaltigen Einschnitt in die bis dahin recht gut funktionierenden Sozialsysteme bedeutete mit immensen Folgen für die Menchen (Niedriglohnsektor gravierend vergrößert, immer mehr Armutsrenten). Und trotzdem gibt es natürlich immer noch viele Leute, die von sich selbst sagen, sie stünden eher in der politischen Mitte. Und diese Mitte ist in den letzten Jahren zusehends überschwemmt und infiltriert worden von "völkischen" Erklärungsmustern, die sich diese Mitte zum Teil sogar auch aneignete. Der Beginn war mit Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" deutlich sichtbar, obwohl solches Denken schon immer (latent) vorhanden war.

Das geschieht alles sukzessive und scheinbar unauffällig und schleichend (auch mit solchen Diskussionen über eine angeblich stärkere Zuwendung zu Traditionen, zum Nationalen, zu angeblich indentitätsstiftenden Gemeinschaften - siehe Thread), so dass man als relativ aufmerksamer Beobachter nur feststellen kann, wie salonfähig rechtsnationales und rechtsextremes Gedankengut bereits wieder geworden ist. Vieles kommt harmlos und sich wissenschaftlich gebend daher. Dem gehen viele schlicht auf den Leim. Dieses Eindringen in Alltagsthemen der Menschen ("Genderwahn", "Frühsexualisierung", die "richtige" Familie bestehe aus Vater, Mutter, Kind) ist übrigens Konzept der Neuen Rechten. Sagen sie ganz offen. Locker sitzt die AfD in allen Talkrunden, wo sie offen für ihr Weltbild Propaganda machen darf. Hauptsache, die Quoten stimmen. Auch die Sündenbockpolitik (Flüchtlinge) funktioniert schon wieder sehr gut.

All das macht mir große Sorgen und vielen anderen Menschen verschiedener politischen Ausrichtung ebenso. Da sollte man schon genau hinschauen, auch diese Sorgen ernst nehmen und gegensteuern. Ich vernehme immer, wenn es um Pegida, AfD und co. geht, "man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Sie fühlen sich nicht mehr vertreten durch die Politik". Da frage ich mich allmählich, wer die Sorgen der Menschen ernst nimmt, die kein Deutschland nach AfD-Verschnitt wollen. Und deren Zahl ist meines Erachtens ziemlich groß.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von think twice »

Selina hat geschrieben:(12 Feb 2017, 08:20)

Ich vernehme immer, wenn es um Pegida, AfD und co. geht, "man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Sie fühlen sich nicht mehr vertreten durch die Politik". Da frage ich mich allmählich, wer die Sorgen der Menschen ernst nimmt, die kein Deutschland nach AfD-Verschnitt wollen.
Mir aus der Seele gesprochen. :thumbup:
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

Selina hat geschrieben:(12 Feb 2017, 08:20)

Nein, das ist die Lesart vieler AfD-Wähler selbst. Weil Merkel im Sommer 2015 humanistisch und christlich handelte, soll sie "nach links gerückt" sein. Diese These ist schon sehr gewagt und auch etwas verschroben. Andere Lesarten sagen etwas anderes: Nämlich, dass die AfD-Anhänger wegen ihrer Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien einfach in Kauf nehmen, eine Partei zu wählen, die keine Berührungsängste mit noch weiter rechts hat, deren Protagonisten oft deutliches Nazivokabular verwenden und auch so denken, die bei den Identitären ein und aus gehen (oder die bei denen). Die AfD gehört klar zu den Neuen Rechten.
Die Unzufriedenheit mit Merkels selbstherrlicher Politik gibt es nicht erst seit 2015! Und es sind auch nicht die AfD-Anhänger, es sind sehr viel CDU-Wähler mit ihrer Politik unzufrieden - genauer, die Mehrheit der Bevölkerung ist es.
Selina hat geschrieben:(12 Feb 2017, 08:20)]Bei dem Begriff "politische Mitte" hatte ich immer schon Bauchschmerzen, weil unter diesem Begriff (z. B. SPD, "Partei der Mitte" statt der sozialen Gerechtigkeit) auch locker die Agenda2010 eingeführt wurde, die einen gewaltigen Einschnitt in die bis dahin recht gut funktionierenden Sozialsysteme bedeutete mit immensen Folgen für die Menchen (Niedriglohnsektor gravierend vergrößert, immer mehr Armutsrenten). Und trotzdem gibt es natürlich immer noch viele Leute, die von sich selbst sagen, sie stünden eher in der politischen Mitte. Und diese Mitte ist in den letzten Jahren zusehends überschwemmt und infiltriert worden von "völkischen" Erklärungsmustern, die sich diese Mitte zum Teil sogar auch aneignete. Der Beginn war mit Sarrazins "Deutschland schafft sich ab" deutlich sichtbar, obwohl solches Denken schon immer (latent) vorhanden war.
Du ignorierst 1. dass die Agenda 2010 bereits im Jahr 2000 auf einem Sondergipgeltreffen der Staats- und Regierungschefs in Portugal beschlossen wurde ==> Lissaboner Strategie, die darauf ausgerichtet ist, Europa zu inem wettbewerbsfähigen, wissensbasierten Wirtschaftsraum zu machen und 2. das sie von den Grünen (als Koalitionspartner) mit getragen wurde.
Also nichts da mit "Bauchschmerzen wegen dem Begriff politische Mitte und nichts mit "statt sozialer Gerechtigkeit"!
Nunja - was Linke so unter "sozialer Gerechtigkeit" verstehen, ist durchaus kein Geheimnis.
Und ja natürlich - jeder, der sich mit diesem Staat verbunden fühlt, der sich für den Erhalt unserer (westlichen) Kultur einsetzt ist rechts - eigentlich jeder der nicht zu den 8,6% linken Wählern (oder max 17%, wenn man die Grünen mit einrechnet) ist rechts.
Da wundert es nicht, dass es für Linke keine politische Mitte gibt.
Selina hat geschrieben:(12 Feb 2017, 08:20)Das geschieht alles sukzessive und scheinbar unauffällig und schleichend (auch mit solchen Diskussionen über eine angeblich stärkere Zuwendung zu Traditionen, zum Nationalen, zu angeblich indentitätsstiftenden Gemeinschaften - siehe Thread), so dass man als relativ aufmerksamer Beobachter nur feststellen kann, wie salonfähig rechtsnationales und rechtsextremes Gedankengut bereits wieder geworden ist.
Ja natürlich - der "aufmerksame Beobachter" ist natürlich politisch links und selbstverständlich lehnt der - ganz im Sinne seine Ideologie alles ab, was mit Nationalstaat und Tradition zu tun hat, ab. Jeder, der sich für die Erhaltung (westlicher) Kultur, ihrer Traditionen und Werte einsetzt, ist aus diesem Blickwinkel rechtsextrem. Da zählen dann natürlich auch konservativ eingestellte Menschen dazu.
Selina hat geschrieben:(12 Feb 2017, 08:20)Vieles kommt harmlos und sich wissenschaftlich gebend daher. Dem gehen viele schlicht auf den Leim. Dieses Eindringen in Alltagsthemen der Menschen ("Genderwahn", "Frühsexualisierung", die "richtige" Familie bestehe aus Vater, Mutter, Kind) ist übrigens Konzept der Neuen Rechten. Sagen sie ganz offen. Locker sitzt die AfD in allen Talkrunden, wo sie offen für ihr Weltbild Propaganda machen darf. Hauptsache, die Quoten stimmen. Auch die Sündenbockpolitik (Flüchtlinge) funktioniert schon wieder sehr gut.
Ja genau - die Vertreter des Gender-Mainstream dringen zunehmend in das "Alltagsleben" der Menschen ein. SIE sind es, die per Diktat bestimmen, was Menschen zu tun und wie sie zu denken haben.
Hast du dir schon mal überlegt, woher die Gender-"Theorie" stammt, auf welcher Ideologie die basiert? - nein hast du sicher nicht! Sie basiert auf der Ideologie des Marxismus. Das Postulat einer "patriarchalen Gesellschaft" - des "Patriarchat" (schlechthin) stammt von Engels, propagiert in seinem Werk "Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staats" - darin postuliert er die Existenz eines Matriarchats, welches durch das Patriarchat beseitigt wurde und das es nun zu beseitigen gelte.
Dumm nur, dass es keine archäologischen Hinweise - nicht einen einzigen - gibt, dass so etwas wie das Matriarchat in der Geschichte der Menschheit jemals in größerem Umfang gegeben hätte bzw dass matriarchale Strukturen jemals Einfluss und/oder Bedeutung für die kulturelle Entwicklung der Menschheit gehabt hätte.
Was Engels auf der Grundlage der Forschung eines einzelnen "Volkskundlers", der einzelne nordamerikanische Stämme besuchte, als "weltweites kulturtragendes Matriarchat" behauptet, entpuppt sich bei "näherem Hinsehen" als matrilineare bzw matrilokale Gesellschaft ohne jegliche hierarchische Strukturen.
Ebenso wenig gibt es archäologische Befunde oder auch nur Hinweise für die Existenz eines "Patriarchats".
Alle von Marija Gimbutas vertretenen Thesen zur "Einwanderung patriarchaler Völker" nach Europa und die damit verbundene gewaltsame Beseitigung matriarchaler Strukturen, sind inzwischen mittels archäologischer Befunde widerlegt!
Trotz dieser Widerlegung, wird von Feministinnen und Gendervertretern weiterhin von einem Patriarchat/patriachler Gesellschaft gefaselt, die es zu überwinden gelte. Wie soll etwas überwunden werden, das nie existiert hat? Kannst du mir das verraten?
Für die Thesen der Gendervertreter gibt es nicht die geringste wissenschaftliche Grundlage - es ist reine Ideologie.
Und mehr noch:
„Gender-Studies haben nachgewiesen, dass es kein vorgefertigtes Geschlecht gibt – es ist ein Konstrukt, abhängig von historischen und kulturellen Kontexten“, sagt Thorsten Voß, Dozent für den Studiengang Gender-Studies an der Universität Bielefeld. Das ist die ideologische Grundlage, das Mantra dieser Disziplin. Sie beruht auf einer Theorie des Psychologen John Money, die in den 70er-Jahren von Feministinnen begeistert aufgenommen wurde.
Moneys Versuch, seine Theorie der erlernten Geschlechtsrollen durch „Geschlechtsneuzuweisung“ am lebenden Objekt zu belegen, endete tragisch mit dem Selbstmord seines Patienten. Moneys Auffassungen sind durch die Naturwissenschaften, vor allem die Hirnforschung, längst widerlegt [...]
Was Eltern seit eh und je erfahren, ist auch nach Jahrzehnten geschlechtsverleugnender Pädagogik noch evident: Jungen und Mädchen, Männer und Frauen trennt nicht nur der „kleine Unterschied“. Sie sind im Wesen verschieden. Die Wochenzeitung „Die Zeit“, des antiemanzipatorischen Konservatismus unverdächtig, stellte kürzlich fest: „Alle erzieherischen Versuche, aus Jungen und Mädchen geschlechtsneutrale Wesen zu machen, sind gescheitert.“
Das politische und akademische Establishment findet sich nicht damit ab. [...]
Die Akteure der Gender-Studies verwischen den Unterschied zwischen der politischen Forderung nach Gleichheit und den Inhalten der Wissenschaft. Frauenförderung und Frauenforschung an den Universitäten sind meist weder personell noch inhaltlich getrennt. [...]
Wenn Gender-Forscher sich mit Naturwissenschaften befassen, dann interessieren sie meist weniger die bedeutenden Erkenntnisse von Biologie und Medizin über die Unterschiede der Geschlechter. Diese entkräften schließlich die Ausgangsthese der Gender-Studies und stellen somit ihre Disziplin als solche in Frage. [...]

Und hier nun der entscheidende Satz aus dem zitierten Link:
"Viele Gender- und vor allem Queer-Forscher machen kein Geheimnis daraus, dass ihr Forschungsgegenstand ihren sexuellen Interessen entspricht. Queer-Forscher befassen sich also „wissenschaftlich“ mit sich selbst, das heißt mit ihrer durch sexuelle Identitäten und Praktiken definierten Szene."
Eine marginale Minderheit - gemessen an der Gesamtbevölkerung - erforscht sich also selbst, formuliert ihre politischen Forderungen und diktiert diese der Mehrheit. Und wenn diese Mehrheit, sich gegen eine Ideologie, die nur den Interessen dieser marginalen Minderheit widersetzt, dann wird sie als rechts abgestempelt.
Ja selina - die "richtige" Familie besteht aus Vater-Mutter- und Kind! Es sind immerhin 78% aller Familien in Deutschland, die dieses Familienmodell leben.
Es sind immer noch ausschließlich Frauen, die Kinder gebären können und Männer die Kinder zeugen. Daran ändert auch die Reproduktionsmedizin nichts. In Vitro befruchtete Eizellen (Zygoten) werden Frauen implantiert. Noch kein einziger Mann hat bisher ein Kind geboren.
Und auch wenn Homosexuelle Kinder adoptieren, bleibt es eine Tatsache, dass dieses Kind von einem Mann gezeugt und von einer Frau geboren wurde.
Genauso wie es eine Tatsache bleibt, dass 90 bis 95% aller Menschen heterosexuell veranlagt sind.
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit "rechts" oder "neurechts" zu tun, sondern mit biologischen Fakten.
Und an genau diesen biologischen Fakten hat sich der Unterricht - der Sexualkundeunterricht - in Schulen zu orientieren und nicht die Ideologie einer marginalen Minderheit zu vertreten und schon gar nicht mit deren Lebensvorstellungen und Lebensmodellen zu indoktrinieren.
Diesbezüglich gibt es eine Urteil des Bundesverfassungsgerichts, gegen welches mit den neuen "Bildungsplänen" verstoßen wird, die sehr wohl Frühsexualisierung beinhalten, wenn es nach einer Prof. Tuider und einem Prof Sielert geht.
Und auch das hat nichts, aber auch gar nichts mit "rechts" oder "neurechts" zu tun.
Nein - sich gegen das politische Diktat einer Minderheit zur Wehr zu setzen, hat nichts mit "rechts" zu tun!

Selina hat geschrieben:(12 Feb 2017, 08:20)All das macht mir große Sorgen und vielen anderen Menschen verschiedener politischen Ausrichtung ebenso. Da sollte man schon genau hinschauen, auch diese Sorgen ernst nehmen und gegensteuern. Ich vernehme immer, wenn es um Pegida, AfD und co. geht, "man muss die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Sie fühlen sich nicht mehr vertreten durch die Politik". Da frage ich mich allmählich, wer die Sorgen der Menschen ernst nimmt, die kein Deutschland nach AfD-Verschnitt wollen. Und deren Zahl ist meines Erachtens ziemlich groß.
Die Politiker jedenfalls nicht!
Einer Emnid-Umfrage zufolge (Nov.2016) sind zwei Drittel der Deutschen genau dieser Meinung.
Aber die sind ja alle rääächts, sind alle Pegida- und AfD- Anhänger - gelle!
Gegen die menschliche Dummheit sind selbst die Götter machtlos.

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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von think twice »

Dark Angel hat geschrieben:(12 Feb 2017, 18:19)

Einer Emnid-Umfrage zufolge (Nov.2016) sind zwei Drittel der Deutschen genau dieser Meinung.
Aber die sind ja alle rääächts, sind alle Pegida- und AfD- Anhänger - gelle!
Dass zwei Drittel der Deutschen der Meinung von Pegida und AfD sind, halte ich für ein Gerücht.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:43)

Das sehe ich überhaupt nicht so. Diese Gesellschaft ist eine Errungenschaft der Aufklärung, der menschlichen Vernunft und der Idee universell gültiiger Menschenrechte.
Genau das macht die Kultur des Abendlandes aus.
schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:43)
Der jüngere historische Aufstieg des "Abendland"-Begriffs fand vor allem in der Romantik Anfang, Mitte des 19. Jahrhunderts statt und er war, ganz im Gegenteil gegen Aufklärung, Humanismus und Bürgerlichkeit gerichtet. Er ist auch nur eine Abkürzung für "christliches Abendland". Und an die Stelle von Vernunft, Menschlichkeit und Humanismus treten dort mystische Fiktionen wie die von Karl dem Großen als Ahnherrn aller abendländischen Menschen oder der "Niebelungentreue".
"Abendland" ist in erster Linie ein geographischer Begriff.
Die Verengung auf den ideologischen Begriff der Romantik ist selbst ideologisch.
"Abendländische Kultur" und "westliche Kultur" sind synonyme Begriffe.

"Das Abendland wird sozialistisch sein, oder es wird nicht sein."
Walter Dirks, Das Abendland und der Sozialismus, in: FH 3(1946), S. 76
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Zunder »

schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:54)
Richtig. Und die Forderung nach "Traditionalismusrückbesinnung" war eine der wesentlichen geistig-kulturellen Ursachen für den Niedergang der Weimarer Republik und den Aufstieg der Nationalsozialisten.
Um "Rückbesinnung" ging es den Nazis ganz sicher nicht. Sozialdarwinismus, biologistisch begründeter Rassismus und technische Fortschrittsgläubigkeit hatten überhaupt keinen Bezug zur Vergangenheit.
schokoschendrezki hat geschrieben:(11 Feb 2017, 05:54)
Ich hatte bis vor kurzem selbst die Hoffnung, dass die, die auf Tradition, Nation und Identität setzen, sich quasi ganz von selbst zerlegen werden, und das Ende der EU-Parlaments-Rechtsaußenfraktion ITS (Identität, Tradition, Souveränität) schien das auch zu bestätigen. Der Aufstieg der Putins, Kaczynskis, Wilders, Le Pens, Orbáns, Erdogans usw. usf. belehrte mich jedoch inzwischen eines Schlechteren. Ohne ein aktives zutun derer, die für eine Gemeinschaft jenseits von identität eintreten, wird sich dieser Prozess der Entdemokratisierung fortsetzen.
Eine Ideologie, die Identitäten zerstören will, halte ich nicht für demokratisch, sondern für hochgradig faschistisch. Demokratie lebt von dem Respekt gegenüber dem jeweils Anderen eben gerade dadurch, daß er in seiner Identität als Anderer anerkannt wird. Im Prinzip funktioniert die "nichtidentitäre" Gemeinschaft genauso wie die völkische oder religiöse über das Herstellen von Homogenität. Das bedeutet nichts anderes als pure Gewalt.
Wieviele Chinesen muß man ermorden bis der überlebende Rest bereit ist, auf seine Identität als Chinesen zu verzichten?
Wieviele Muslime muß man ermorden bis der überlebende Rest bereit ist, auf seine Identität als Muslime zu verzichten?

100 Mio? 200 Mio? 300 Mio? 1 Milliarde?
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(13 Feb 2017, 00:58)

Um "Rückbesinnung" ging es den Nazis ganz sicher nicht. Sozialdarwinismus, biologistisch begründeter Rassismus und technische Fortschrittsgläubigkeit hatten überhaupt keinen Bezug zur Vergangenheit.

Eine Ideologie, die Identitäten zerstören will, halte ich nicht für demokratisch, sondern für hochgradig faschistisch. Demokratie lebt von dem Respekt gegenüber dem jeweils Anderen eben gerade dadurch, daß er in seiner Identität als Anderer anerkannt wird. Im Prinzip funktioniert die "nichtidentitäre" Gemeinschaft genauso wie die völkische oder religiöse über das Herstellen von Homogenität. Das bedeutet nichts anderes als pure Gewalt.
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100 Mio? 200 Mio? 300 Mio? 1 Milliarde?
Die Motive für eine solch emotional aufgeladene Abwehrhaltung gegen das Konzept "Gemeinschaft jenseits von Identität" bleiben mir letztendlich unklar, obwohl ich jetzt einige Zeit darüber nachgedacht habe. Nur zur sachlichen Klärung jedenfalls: Es ist ein konsequent, ja geradezu radikal individualistisches Konzept. Das heißt: So lange gesetzliche und verfassungsmäßige Regeln eingehalten werden, hat es niemanden, aber wirklich niemanden, nicht den Staat, keine Behörde, keinen Geheimdienst, vor allem nicht die Öffentlichkeit, wirklich absolut niemanden etwas anzugehen, ob sich jemand als Chinese, Muslim, Kommunist, Antroposoph oder als von Chemtrails Verfolgter sieht. Die Grundrichtung ist einfach eine völlig andere. Es geht nicht im Mindesten um das Verbot einer Identität sondern um den Verzicht auf die Vorschreibung irgendeiner Identität. Es geht darum, das Konzept "Leitkultur" in jedweder Hinsicht zu verhindern.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Mo 13. Feb 2017, 10:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Zunder hat geschrieben:(13 Feb 2017, 00:36)

Genau das macht die Kultur des Abendlandes aus.

"Abendland" ist in erster Linie ein geographischer Begriff.
Die Verengung auf den ideologischen Begriff der Romantik ist selbst ideologisch.
"Abendländische Kultur" und "westliche Kultur" sind synonyme Begriffe.

"Das Abendland wird sozialistisch sein, oder es wird nicht sein."
Walter Dirks, Das Abendland und der Sozialismus, in: FH 3(1946), S. 76
Wesentlich ist, dass das Konzept universeller Menschenrechte und der Kantsche kategorische Imperativ - eben - universell gültig ist. Im Westen, Osten, Süden ebenso wie im Norden. So wie 1 plus 1 eben nicht nur in London oder Paris 2 ergibt sondern auch in Istanbul oder Tokio.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(12 Feb 2017, 18:19)
Ja natürlich - der "aufmerksame Beobachter" ist natürlich politisch links und selbstverständlich lehnt der - ganz im Sinne seine Ideologie alles ab, was mit Nationalstaat und Tradition zu tun hat, ab. Jeder, der sich für die Erhaltung (westlicher) Kultur, ihrer Traditionen und Werte einsetzt, ist aus diesem Blickwinkel rechtsextrem. Da zählen dann natürlich auch konservativ eingestellte Menschen dazu.
Das Problem ist, dass in fast allen Gesellschaften der Welt in den letzten 5 bis 10 Jahren eine Polarisierung in "Wir" und "Die" stattfand. Nur mal so exemplarisch dafür ein Auszug einer Reportage ("Europa heute") zur Gründung der "NEIN"-Partei in der Türkei, die sich gegen die Zustimmung zu einem Referendum im April zur Einführung eines Präsidialsystems einsetzt:
Gürsel Tekin bemüht sich um Anschaulichkeit. Bürgernähe heißt das Rezept, das sich seine Partei für ihre Nein-Kampagne verschrieben hat. Im dunklen Anzug schiebt sich der Mitfünfziger deswegen heute für 15 Minuten durch das Marktgedränge. Eine ältere Türkin, die Haare blond, die Lippen rot, fällt ihm in die Arme, bittet unter Tränen um ein gemeinsames Foto. "Retten Sie unser Land vor diesen Kulturlosen”, schluchzt sie, "retten Sie Atatürks Erbe."

Tekin ist sichtlich gerührt. Doch das Problem seiner Partei, zwischen Zwiebel- und Tomatenbergen wird es deutlich: Während offensichtlich säkulare Türken in freudige Aufregung geraten, sobald der CHP-Mann auftaucht, schauen die kopftuchtragenden Frauen, die an einem Eckstand Babywäsche begutachten, nicht einmal auf.

"Natürlich werde ich beim Referendum mit Ja stimmen. Alle wollen die Türkei schlecht machen und den Islam beschmutzen. Wenn Erdogan gegen sie kämpft, dann bin ich kompromisslos auf seiner Seite. Auch, wenn er bei manchen Themen falsch liegen mag. "
So sieht es (leider) fast überall auf der Welt aus. In den USA, in Fernost, in Russland, in der Türkei, in Europa. Hysterische Bekenntniseinforderungen statt rationaler Argumentation.
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Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Feb 2017, 05:22)

Und es ist keineswegs so, dass das Konzept "Gemeinschaft jenseits von Identität" identisch mit politisch links oder gar mit den Zielen der Partei Die Linke ist. Ebenso wie Traditionsrückbesinnung und Setzen auf Identität nicht identisch mit politisch rechts ist. Gewerkschafts-Unionismus, "Klassenbewusstsein", DDR-Nostalgie, alles was so unter linker "Fan-Kultur" in Massenveranstaltungssport und Pop läuft, sind einige Beispiele für links verortete Tendenzen, die ebenso identitär verseucht sind.
Es handelt sich um ein politisches Konzept und nur darum geht es. Es geht darum, dass Menschen vorgeschrieben werden soll wie, womit bzw worüber sie sich zu identifizieren haben und das wiederum schränkt deren Freiheit ein.
Menschen identifizieren sich mit einer Gemeinschaft, sie identifizieren sich mit der Gemeinschaft, der sie sich zugehörig fühlen und nicht "jenseits davon".
Eine Gemeinschaft ist vollkommen wertneutral (in der Soziologie) eine überschaubare soziale Gruppeeine deren Mitglieder durch ein starkes „Wir-Gefühl“ eng miteinander verbunden sind – oftmals über Generationen. Ende - Aus! Und eine solche Gemeinschaft pflegt Traditionen.
Das hat nichts, aber auch gar nichts mit "identitär" zu tun.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Feb 2017, 05:22)]Der aktuelle politische Trend ist, glaube ich, viel zu machtvoll und dominant, um ihn auf irgendeine Unzufriedenheit mit irgendeiner Politik irgendeiner Partei zurückzuführen. Auf irgendeine nicht eingehaltene Rentenangleichsquote, einen nicht fristgerecht fertiggestellten Flugplatz oder irgendwelche als unangemessen empfundenen Autobahngebühren. Es ist eher ein globaler Schwenk von der Erfolgsgeschichte des Individualismus hin zu einem "Wir hier und die dort. Entscheide dich, wo du hingehörst. Und glaube ja nicht, dass du mit deinem "Ich zuerst" hier, heute und bei uns noch durchkommst."
Mir erschließt sich nich, wo du aus meinen Ausführungen zur Identitätsbildung/-entwicklung, zur Erhaltung und Pflege kulturellen Erbes und kultureller Traditionen ein "ich zuerst heraus lesen willst".
Eines ist jedoch sicher - das zeigt sich in ganz Europa - dass die Menschen mit einer Politik der Selbstaufgabe, Selbstverleugnung - die in Deutschland innerhalb eines bestimmten politischen Spektrums besonders stark ist - verbunden mit einer Preisgabe kultureller Werte, sehr unzufrieden sind. Sie wollen keine Aufgabe von Nation/Nationalstaat, sie wollen das Gegenteil - mehr Souveränität für die Nationalstaaten, weniger Bürokratie und weniger Vorschriften.
Und was du glaubst, ist irrelevant - der gegenwärtige Trend ist eindeutig und der zielt auf Bewahrung unserer Kultur, darauf nur Einflüsse zuzulassen, die mit dieser Kultur kompatibel sind, die diese Kultur tatsächlich bereichern und diese Einflüsse freiwillig aufzunehmen und nicht per politischen Beschluss alle Einflüsse - auch die zerstörerischen - aufnehmen zu müssen.
schokoschendrezki hat geschrieben:(12 Feb 2017, 05:22)Exemplarisch dafür ist für mich der völlig unbedachtsame Umgang mit dem "Abendland"-Begriff. Nicht nur bei Pegida, Legida und Co. Das "Abendland" ist in erster Linie und historisch gesehen ein Gegenpol-Konzept. Es steht dem "Morgenland" gegenüber. Novalis und die Brüder Schlegel stehen namentlich vor allem für eine romantische Abendland-Nostalgie. Die gesamte Epoche nach dem Wiener Kongress ist von diesem antiaufklärerischem Traditionalismus geprägt (um einigermaßen beim Thema zu bleiben). Man war um 1800 eigentlich schon so weit gekommen: Kant, Goethe, Humboldt, Leibnitz, Newton. Kategorischer Imperativ, Wahlverwandtschaften (schon vom Titel her antiidentitär), Infinitesimalrechnung, Latein und Antiqua-Schrift als kosmopolitische Austauschbasis und sozusagen historisches Internet statt "Abendland". Aber es kamen nun zig Dekaden Dunkelheit stattdessen. Eichenwaldrauschen, Wartburgfeste, deutsche Frakturschrift als Aufrichtigkeitsbekenntnis, patriotische Turnvereine, Treue, Ehre, Vaterland. Beendet wurde diese Finsternis letztlich nicht durch Politik sondern durch Eisenbahn, Dampfmaschine, Elektrizität und Telefon. Und deshalb - so hoffe ich jedenfalls - wird sich die Gesellschaftsutopie "Gemeinschaft jenseits von Identität" nicht durch den Wahlerfolg irgendeiner linken Partei sondern ganz objektiv durch Technologiefortschritt durchsetzen.
1. den Begriff "Abendland" habe ich nirgends verwendet!

2. ist alles,aber auch wirklich alles, was du nennst - angefangen von unserer Schrift, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Philosophie, Kunst, Dichtung Demokratie(!), Humaninsmus(!) bis hin zur Industrialiesierung - genaus das, was unsere Kultur ausmacht, das was es zu bewahren und zu schützen gilt.

3. Also was faselst du in diesem Zusammenhang von "identitärer Bewegung"?
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von schokoschendrezki »

Direkt und namentlich und sozusagen offiziell für afd und pegida ist die eine Frage. Ich denke aber mal, es gibt eine sehr große Anzahl von Menschen, die so eine "naja, die sind ein bissel extrem ... aber eigentlich ... so ganz unrecht haben sie ja nicht"-Meinung vertreten.
Zuletzt geändert von schokoschendrezki am Mo 13. Feb 2017, 11:29, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Besinnung vieler auf alte Traditionen?

Beitrag von Dark Angel »

think twice hat geschrieben:(12 Feb 2017, 22:24)

Dass zwei Drittel der Deutschen der Meinung von Pegida und AfD sind, halte ich für ein Gerücht.
Lerne lesen!
Da steht, "einer emnid-Umfrage zufolge (November 2016) sehen zwei Drittel der Bevölkerung ihre Sorgen von der Politik nicht ernst genommen"
Kannst du gerne hier, hier oder hier nachlesen.
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Re: Re:

Beitrag von schokoschendrezki »

Dark Angel hat geschrieben:(13 Feb 2017, 11:15)
Es handelt sich um ein politisches Konzept und nur darum geht es. Es geht darum, dass Menschen vorgeschrieben werden soll wie, womit bzw worüber sie sich zu identifizieren haben und das wiederum schränkt deren Freiheit ein.
Da gibt es offenbar keinerlei Möglichkeit der Verständigung. Ich sage im wesentlichen "Gemeinschaft jenseits von Identität" bedeutet, jeder soll individuell so sein wie er will. Niemandem soll irgendeine Art "Leitkultur" vorgeschrieben werden. Du sagst: "Gemeinschaft jenseits von Identität" würde das Vorschreiben von irgendetwas bedeuten.

Ich denke mal, es ist so: Das Nicht-Vorschreiben irgendeiner Art von Leitkultur würde de facto bedeuten, dass sich der Charakter der Gesellschaft langfristig verändern würde. Das ist es eigentlich, was von den Traditionalisten befürchtet wird. Und deshalb muss diese freiwillige Veränderung als "erzwungen" denunziert werden.
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Re: Re:

Beitrag von Dark Angel »

schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Feb 2017, 11:39)

Da gibt es offenbar keinerlei Möglichkeit der Verständigung. Ich sage im wesentlichen "Gemeinschaft jenseits von Identität" bedeutet, jeder soll individuell so sein wie er will. Niemandem soll irgendeine Art "Leitkultur" vorgeschrieben werden. Du sagst: "Gemeinschaft jenseits von Identität" würde das Vorschreiben von irgendetwas bedeuten.
Das sind Menschen, da bedarf es keines neuen Konzepts.
Dafür müsste man allerdings kapieren, dass Kultur etwas ist, was von Menschen geschaffen wurde und dass diese Menschen gleichzeitig auch Träger der/einer Kultur sind und das funktioniert nur, wenn sich die Menschen auch mit ihrer Kultur identifizieren. Menschen identifizieren sich nunmal mit der Kultur, in der sie sozialisiert werden, sie identifizieren sich mit und über deren Werte. Und das bedeutet in "unseren" Fall - "wir" identifizieren uns mit Werten wie Demokratie, Humanismus etc, weil diese Werte ihren Ursprung in "unserer" Kultur haben und weil die Gemeinschaften, denen sich Menschen zugehörig fühlen, ebenso Teil "unserer" Kultur sind.
Es gibt keine Gemeinschaft "jenseits" von Identität, weil die Gemeinschaft der "wir" uns zugehörig fühlen, Teil unserer Identität sind - nämlich deren soziale/gesellschaftliche Komponente.
schokoschendrezki hat geschrieben:(13 Feb 2017, 11:39)Ich denke mal, es ist so: Das Nicht-Vorschreiben irgendeiner Art von Leitkultur würde de facto bedeuten, dass sich der Charakter der Gesellschaft langfristig verändern würde. Das ist es eigentlich, was von den Traditionalisten befürchtet wird. Und deshalb muss diese freiwillige Veränderung als "erzwungen" denunziert werden.
Ich habe nirgends etwas von "Leitkultur" geschrieben!
Das Mindeste was man allerdings von Zu- und Einwanderern erwarten kann, ist Intergration = Anerkennen und Respektieren der kulturellen Werte, der Kultur, in der sie fortan zu leben beabsichtigen!
Und in genau diesem Sinn ist m.M.n. der Terminus "Leitkultur" auch gemeint.
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