Wasteland hat geschrieben:Das kann gut sein. Auf die letzten Wahlen seit 2002 gerechnet haben jedoch im Schnitt etwa 50% der Kurden die AKP gewählt und Diskutant Audi glaubte, dass alle Kurden gegen Erdogan und die AKP sind.
Das ist halt einfach falsch, das ist eine nüchterne Tatsache.
Natürlich sind nicht alle Kurden gegen Erdogan. Aber Sie führen Ihre Fakten nicht sinngemäß aus. Sie vermischen einfach Vieles wenn Sie behaupten das im letzten Jahrzehnt die Hälfte der Kurden Erdogan unterstützten. Die Kurden haben sich in Erdogans schwerer Stunde gegenüber dem alten Establishment ganz klar auf seine Seite gestellt. Das war sogar aus heutiger Perspektive legitim. Aber man sollte doch auch so differenziert sein und erwähnen, dass dies eher pragmatisch als ideologisch erfolgte. Natürlich waren die meisten dieser Wähler religiös bzw. sehr konservativ, aber das alleine war nicht ausschlaggebend. Und genau das beweisen ja auch die letzten Parlamentswahlen wo die HDP in vielen Städten 4 oder mehr Parlamentarier einsackte und die AKP keinen oder maximal einen. Haben diese Kurden etwa ihre Religiösität oder Konservativität abgelegt? Gewiss nicht.
Zu den sogenannten "Kurden" die in den letzten Jahren für Erdogan stimmten (nachdem die Friedensgespräche abgebrochen wurden) komme ich noch später.
Wasteland hat geschrieben:Nein und das wundert mich auch immer wieder.
Wer aber auf jeden Fall ziemlich links ist, sind die YPG, PKK & Co. und deren Anhänger.
Das Erdogan sich viele Sympathien verspielt hat mit dem Wiederaufleben lassen des Konflikts ist klar.
Die HDP ist ebenfalls "ziemlich" links. Als politischer Ableger der PKK kaum verwunderlich. Aber genau weil so viele religiöse Kurden die HDP wählten sollte man genau an diesem Punkt nachstöchern und nicht nur seine Verwunderung kundtun. Es geht lediglich um den gemeinsamen Nenner, deshalb wählen so viele Kurden die HDP. Als politischer Ableger der PKK stehen sie unmissverständlich für den militärischen Widerstand gegen die türkische Staatsgewalt. Die HDP tritt pluralistisch auf, aber vertritt natürlich an erster Stelle kurdische Interessen. Sie setzen sich für die kurdische Sprache und Kultur ein und haben natürlich mit der PKK in der Hinterhand ein Druckmittel. Die Mehrheit der HDP-Wähler hat mit Sozialismus herzlich wenig zu tun, sie wollen lediglich einen politischen Vertreter der die Rechte der Kurden im Parlament wahrt. Der gewöhnliche HDP-Wähler ist gegen die türkische Assimilationspolitik, gegen das Verdrängen der eigenen Geschichte, gegen den türkischen Faschismus und für die Wahrung von Minderheitenrechten. Das war stets der große Nenner der HDP, und genau deshalb erhielt man in ultrakonservativen Regionen wie Wan, Hekarî, oder Shirnex die absolute Mehrheit.
Wasteland hat geschrieben:Ich sehe da schon noch Unterschiede, wenn auch nur graduell. Erdogan wurde zumindest tatsächlich gewählt und foltert nicht tausende Oppositionelle zu Tode. Noch nicht, mal sehen wie sich das entwickelt.
Erdogan lässt keine Oppositionellen zu Tode foltern? Woher wollen Sie das denn wissen? Wie gesagt, das Ausmaß des AKP-Staatsterrors ist Stand heute vielleicht nicht mit dem Assad-Terror zu vergleichen, aber das hängt nunmal auch stark von der Opposition innerhalb der Türkei ab. Erdogan ist mitnichten weniger skruppellos als Assad, das sollte man eigentlich in den letzten Jahren verstanden haben. Erdogan unterstützt seit einigen Jahren tatkräftig islamistische Terrorbanden. Er forciert sozusagen die physische Vernichtung von Kurden (ob Sunniten, Schiiten, oder Yeziden), orientalischen Christen, und anderen nicht-sunnitischen Minderheiten. Erdogan ist nicht weniger verantwortlich für das Leid in Syrien als Assad. Da gibt es keinen Unterschied. Erst durch die Unterstützung von Jihadisten wurde dieser Konflikt so dreckig wie er heute nunmal ist.
Wasteland hat geschrieben:Welche Armee in welchem Krieg war für ihre Barmherzigkeit bekannt? Sowas gibt es nicht. Hast du Links zu den Giftgaseinsätzen? Würde mich tatsächlich mal interessieren...
German experts have confirmed the authenticity of photographs that purport to show PKK fighters killed by chemical weapons. The evidence puts increasing pressure on the Turkish government, which has long been suspected of using such weapons against Kurdish rebels. German politicians are demanding an investigation.
http://www.spiegel.de/international/wor ... 11536.html
Turkey: A long history of chemical weapons use against the Kurds
https://kurdistancommentary.wordpress.c ... the-kurds/
Das Osmanische Reich hat den ersten vernichtenden Völkermord des 20. Jahrhunderts zu verantworten, wofür sie bis zum heutigen Tag nicht belangt wurden - im Gegenteil. Die türkische Gesellschaft heroisiert sowohl die damalige Armee als auch die kemalistische Armee die nicht weniger rigoros im Laufe der türkischen Republik gegen Minderheiten vorgingen. Ja, es gibt einen Unterschied zwischen dem türkischen Faschismus und den Taten jeweiliger Staaten die ihre Interessen wahren wollen. Welcher Staat auf der Welt leugnet denn in seiner Verfassung die Existenz einer Minderheit die zwischen 10 und 20% der Gesamtbevölkerung ausmacht? Die meisten Staaten der Welt gewähren solch einer Bevölkerung mindestens einen Minderheitenstatus, in manchen Fällen sogar Autonomieregionen. In der Türkei ist schon der Begriff Kurdistan eine Provokation, die Verfassung erwähnt die Kurden nicht einmal. Mir fällt auf Anhieb kein faschistischerer Staat ein...
Wasteland hat geschrieben:Es verteilen sich ebenfalls viele Kurden auf den Rest der Türkei, alleine geschätzte 3 Millionen in Istanbul. Wie gesagt, seit 2002 haben viele davon die AKP gewählt. Das sich das jetzt in den letzten3-4 Jahren etwas verschoben hat ist klar, aber das gibt es immernoch.
Uninformierte Leute hier in Deutschland glauben das es sich um einen Krieg Kurden gegen Türken handelt. So einfach ist das nunmal aber nicht.
Genau darum geht es aber! Ich bin bestens über den Konflikt informiert und genau deshalb beschreibe ich ihn auch als ethnischen Konflikt. Die PKK hätte sonst mit seiner linken Ideologie niemals Fuß fassen können in Kurdistan. Der Konflikt könnte gar nicht ethnischer sein. Weshalb sonst schloss sich die türkische Opposition (CHP und MHP) mit der AKP zusammen um die HDP zu vernichten?
Im Parlament wurde die AKP beim Votum gegen die Kurden nicht nur von der Nationalistenpartei MHP unterstützt, die in der HDP ohnehin nur eine Marionette der PKK sieht. Auch mindestens 20 Abgeordnete der links-säkularistischen Oppositionspartei CHP müssen dem Ergebnis zufolge in geheimer Abstimmung für den AKP-Vorschlag votiert haben. Und das, obwohl die CHP ständig auf die AKP und Erdogan schimpft. Doch als es um die Kurden ging, schlossen sich einige Oppositionelle lieber dem Präsidenten an, als die Kollegen von der HDP zu schützen.
Diese Haltung löste wütende Kritik im Lager der Regierungsgegner aus. Die CHP habe der AKP die Hand gereicht und sich damit mitschuldig gemacht, hieß es. Schon vor mehr als zwanzig Jahren hatte sich im Parlament eine große Koalition türkischer Parteien zusammengetan, um kurdische Abgeordnete, darunter die spätere Trägerin des Menschenrechtspreises des EU-Parlaments, Leyla Zana, loszuwerden und vor Gericht stellen zu lassen.
http://www.tagesspiegel.de/politik/tuer ... 22684.html
Zu Istanbul:
In den Wahlen im Juni 2015 stellte die HDP in Istanbul 11 Parlamentarier, sogar einen mehr als in der heimlichen nordkurdischen Hauptstadt Amed (Diyarbakir). Interessant, oder? Bei der erneuten Wahl im November 2015 verlor man in Istanbul dann plötzlich 4 Parlamentarier. Ein Zufall? Gewiss. Nichtsdestotrotz muss man erwähnen das es in der Türkei viele Kurden gibt die bereits komplett assimiliert sind, einige andere stehen auf der Kippe. Dann gibt es auch solche die traditionell mit Ankara/Istanbul kooperieren - natürlich aus wirtschaftlichen Interessen. Diese Menschen sprechen in vielen Fällen sogar noch Kurdisch und leben die Kultur aus, aber kämpfen dann gleichzeitig gegen jeden kurdischen Widerstand der sich gegen die Türkei richtet (Korucis).
Entscheidend für die HDP und jede andere kurdische Partei die kurdische Interessen vertritt ist es die vielen Menschen an sich zu binden die auf der Kippe stehen, sprich, die kurz davor stehen sich dem Türkentum zu beugen. Genau das hat Erdogan ab 2013 erkannt. Je freier und offener die AKP gegenüber den Minderheiten auftrat, desto besser konnten kurdische Organisationen das Nationalgefühl verbreiten. Es war keine Schande mehr sich als Kurde zu bezeichnen. Man musste nicht mehr stolz darauf sein Türke zu sein. Als Erdogan dann diese Entwicklung erkannte und gleichzeitig aber auch seine Stimmen verschwanden wurde sein Kurs immer radikaler. Verständlich für einen türkischen Schalthebel der türkische Interessen vertritt - der ein Spiegelbild der derzeitigen türkischen Gesellschaft ist. Die Wurzel des Problems ist die türkische Gesellschaft die hochgradig faschistisch ist und keinen Konsens mit den Kurden sucht.
Wasteland hat geschrieben:Nee, da versteigst du dich erheblich, vermutlich aus eigenem Nationalismus heraus. Ich habe das auch gar nicht gesagt. Ich habe lediglich gesagt das es eine Menge Kurden gibt die AKP wählen und die PKK ablehnen. Und das ist tatsächlich so. Das kurdische Lager ist keinesfalls geeint. Im Gegenzug gibt es ja auch Türken, die die HDP gewählt haben, wenn auch weniger als es Kurden gibt die AKP wählen.
Mein Nationalismus ist nicht zu vergleichen mit dem türkischen Nationalismus! Ich habe auch gar keine Probleme damit selbstreflektierend über die Kurden zu schreiben. Aber es ist nunmal realitätsfremd sie in das islamistisch-extremistische Lager zu drängen. Und genau das ist die Kernaussage Ihrer Argumentation, auch wenn es vielleicht nicht gewollt war. Und natürlich sind die Kurden nicht geeint. Das macht den Konflikt in der Türkei aber nicht weniger ethnisch. Man hat den Kurden im Vertrag von Sevres sehr viel versprochen, dies wurde dann im Vertrag von Lausanne total revidiert. Damit müssen sich die Kurden in der sogenannten Türkei nun seit Jahrzehnten herum schlagen. Die Kurden waren während dem Osmanischen Reich ein anerkanntes Volk, die über mehr oder weniger autonome Fürstentümer herrschten. Dies änderte sich dann gegen Ende des Osmanischen Reiches (also ab dem 19. Jahrhundert). So begann der ethnische Konflikt zwischen beiden Völkern. Der Höhepunkt war dann natürlich die kemalistische Verfassung, und die Massnahmen der Kemalisten bis in die späten 1960er Jahre als man die Kurden leugnete und den Versuch unternahm ihre nationale Identität "wissenschaftlich" zu widerlegen (Stichwort: Bergtürken).
Es handelt sich nicht um ein Terrorproblem das 1984 mit der Aufnahme des militärischen Widerstandes der PKK begann. Das widerlegen die unzähligen kurdisch-nationalen Revolten gegen Ankara in der Anfangszeit der Republik (also zwischen 1923 und 1938). Das widerlegen die faschistischen Massnahmen der türkischen Republik (Deportationspolitik, Assimilationspolitik, anderweitige Veränderungen der Demographie) bis weit in die 1970er Jahre, also noch vor der Existenz der PKK. Kurdische Intellektuelle formierten sich bereits in den 1960er Jahren in der Türkei, suchten jedoch vergeblich nach externen Unterstützern (die in dieser Phase wichtig waren). Die starke Position der Türkei innerhalb der Nato liess nur eine linke Bewegung zu die sich gegen Ankara stellt. Das dies nicht mit der breiten Masse der kurdischen Bevölkerung korrelieren würde war klar. Und trotzdem trug dieser Widerstand dazu bei das die kurdische Identität nicht vollständig ausgelöscht wurde. Es trieb die Türkei am Ende so weit über 3000 kurdischer Dörfer zu vernichten. Natürlich ist dieser Konflikt ethnisch. Die türkische Armee sah in den kurdischen Dorfbewohnern potentielle Unterstützer der PKK, genauso wie man heute in den Stadtbewohnern von Cizîrê, Amed, Şirnex, usw. potentielle Unterstützer der PKK sieht und deshalb diese Städte teils in Schutt und Asche bombte. Ja, dieser Konflikt ist ethnisch. Er könnte kaum ethnischer sein. Es ist die türkische Gesellschaft welche die Hauptschuld trägt:
Majority of Turks approve detention of Kurdish politicians
A significant majority of Turks approved the detention of Kurdish politicians by their government in the past several months, according to a survey result announced by a Turkish university on Thursday.
The findings belonging to the last month of 2016, by the private Kadir Has University in Istanbul presented a stark political contrast between Turks and Kurds who make up the first and second biggest ethnic groups respectively in Turkey.
Of the respondents who identified as ethnically Turkish, 64 percent said they backed the detention and imprisonment of the leaders and lawmakers of the second largest opposition block, the pro-Kurdish Peoples' Democratic Party (HDP).
Another topic that Kurdish and Turkish respondents disagreed over was the now collapsed peace talks between the government and the banned Kurdistan Workers' Party (PKK) to end the four decades-long warfare.
Only 31 percent of Turkish voters approved a renewal of the "solution process" whereas 75 percent of Kurds demanded it in line with the former surveys.
http://www.kurdistan24.net/en/news/1029 ... oliticians
Die einzige Lösung welche die türkische Gesellschaft vorsieht ist die ruhige Assimilation aller Kurden, und genau danach richten sich dann auch die jeweiligen türkischen Politiker. Genau deshalb sehe ich persönlich auch keine Zukunft mit den Türken in einem Staat. Ich konnte es nachvollziehen das man sich zu Beginn auf die Seite Erdogans schlug gegen die Militärs, aber ich teilte nie den Enthusiasmus einiger Kurden die in Erdogan den Demokraten sahen und es ihm zutrauten die große türkische Masse davon zu überzeugen die Kurden als gleichwertige Bürger aufzunehmen. Die Enthusiasten wurden enttäuscht, ich bestätigt.
Wasteland hat geschrieben:Das es dort auch sehr viele Türken und Turkmenen gibt ist ja kein Geheimnis. Aber das geht an meiner Aussage völlig vorbei. User Audi glaubt, dass es einen Kampf zwischen der Türkei und allen Kurden gibt, die geeint sind. Das ist nunmal falsch und ich stellte das richtig. Da ist keine Wertung von mir enthalten.
Es gibt einen Kampf zwischen all jenen Türken die glauben es sei gerecht fremde Völker zu knechten und all jenen Kurden die diese Knechtschaft ablehnen. Auf der Seite der Türken gibt es dann eine marginale Gruppe die dies ablehnt und sich diesem Kampf nicht anschliessen möchte (damit meine ich nicht nur mit Waffen sondern auch ideologisch). Auf der Seite der Kurden gibt es dann solche die den türkischen Rassismus bereits komplett aufgesaugt bzw. verinnerlicht haben (siehe auch "internalised racism"), sich aus wirtschaftlichen Gründen auf die gemütliche Seite der Türken schlagen, oder einfach nicht mit den Konsequenzen leben wollen sich für seine Identität einzusetzen. Die absolute Mehrheit der Kurden in den mehrheitlich von Kurden besiedelten Provinzen hat sich jedoch dafür entschieden das Unrecht, also den türkischen Kolonialismus nicht zu dulden. Diese Menschen stehen für die kurdische Sprache und Kultur und sind die alleinigen Vertreter der Kurden. Ohne sie gäbe es den Begriff "Kurden" ja auch gar nicht. Genau deshalb ist es höchst fragwürdig all jene die sich auf die Seite des türkischen Kolonialismus zu stellen als Kurden zu bezeichnen nur weil sie einmal ethnische Kurden waren. Vielleicht ändern diese Menschen irgendwann einmal ihre Meinung und Position, aber Stand heute sind das keine Vertreter der kurdischen Nation. Wer die Zerstörung kurdischer Städte gut heißt, ist kein Kurde. Punkt.