Doktor Schiwago » Mo 7. Okt 2013, 11:02 hat geschrieben:
Ich warte immer noch auf Belege deinerseits, daß die Sklavenarbeit im GULag nicht dem wirtschaftlichen Aufschwung diente. Oder hast du vielleicht gar keine?
Wenn du mit dem wirtschaftlichen Aufschwung die Industrialisierung der Sowjetunion meinst, dann haben die Gulaghäftlinge sehr wenig dazu beigetragen. In deiner Quelle werden zwar einige Aufgabenbereiche der Gulaghäftlinge aufgezählt, aber das wäre es auch schon. Wie groß der ökonomische Beitrag dieser Häftlinge war, weißt du doch garnicht. Untersuchen wir doch mal deine Theorie.
1. In welchem Zeitraum wurde die Sowjetunion industrialisiert?
2. Wieviele Gulaghäftlinge gab es in diesem Zeitraum?
3. Wieviele Gulaghäftlinge wurden zur Arbeit gezwungen?
4. Wie hoch war die Arbeitseffizienz der Gulaghäftlinge?
5. Wie groß war deren Beitrag zum BIP insgesamt?
1. Die Sowjetunion wurde bereits von 1928-1932 industrialisiert. Das war eine enorme Leistung, wenn man bedenkt, dass das alles ohne die Kinderarbeit vonstatten ging. England und die USA profitierten dagegen von der Kinderarbeit während ihrer Industrialisierung. Es sind also nur 5 Jahre gewesen. Ich schlage mal für die folgenden Rechnungen noch ein Jahr oben drauf, damit es nicht so aussieht als ob ich versuchen würde etwas nach unten zu korrigieren.
"Die Umsetzung der sozialistischen Industrialisierung in der Sowjetunion nahm 1928 unter Josef Stalin Fahrt auf. Mitunter wird der Begriff auf den ersten Fünfjahresplan der Jahre 1928–1932 bezogen. Binnen weniger Jahre erlebte die Sowjetunion dabei einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung von einem reinen Agrarstaat zu einem Industriestaat."
http://de.wikipedia.org/wiki/Industrial ... owjetunion
2. Die Zahl der Gulaghäftlinge lag in diesem Zeitraum insgesamt bei max. 1,8 Millionen. Ich habe nur die Zahlen ab 1930 zur Hand, aber das ist nicht entscheidend. Da die Zahl der Gulaginsassen erst ab 1928/1929 vermehrt zunahm und sie ihren höchsten Stand „während der Industrialisierung“ im Jahr 1933 mit ca. 300 000 hatte, gehe ich davon aus, dass es in den Jahren 1928 und 1929 nicht mehr Gulaghäftlinge gab als 1933. Ich nehme jetzt mal die höchst mögliche Zahl für die folgenden Rechnung zwecks deiner Theorie. 1928-1933 = 6 Jahre. 6 Jahre x 300 000 Insassen = 1,8 Millionen. Runden wir jetzt noch auf 2 Mio. auf damit es noch anschaulicher wird.
Normalerweise muss man davon ausgehen, dass z.B. nicht alle Häftlinge jedes Jahr entlassen wurden und dass jedes Jahr die Lager mit mehreren Hunderttausend neuen Häftlingen gefüllt wurden. Zudem müsste man noch die verstorbenen Gulaghäftlinge jedes mal abziehen und diejenigen, die nicht arbeiten mussten. Desweiteren sieht man in der Quelle unter Punkt 4, dass die Zahl der Gulaghäftlinge in den Jahren 1930, 1931 und 1932 unter 300 000 liegt. Persönlich würde ich daher schätzen, dass es zwischen 1928-1933 insgesamt nicht mehr als eine halbe Million Gulaghäftlinge gab und davon nur 100 000 bereits ab 1928 einsassen.
"Bis 1925 wurden in den Lagern kleinere, unproduktive Arbeiten verrichtet, ab 1926 ging die GPU zum Prinzip der Selbstkostendeckung der Arbeitslager über. Die Häftlinge wurden zunächst zum Holzeinschlag verwendet – Holz war zu dieser Zeit ein Hauptexportartikel der Sowjetunion. Der Politikwechsel ab 1928 – Industrialisierung, Zwangskollektivierung und ab 1929 Entkulakisierung – führte zu einem wesentlich größeren Häftlingsaufkommen. Stalin forderte 1929 eine effizientere Nutzung der Arbeitskraft von Häftlingen in den Arbeitslagern, die fortan offiziell als „Besserungsarbeitslager“ bezeichnet wurden. Die Lagerreformen der Jahre 1928/1929, speziell das Dekret vom 26. Juni 1929, waren die Geburtsstunde des eigentlichen Gulags."
http://de.wikipedia.org/wiki/Gulag#Lage ... ter_Stalin
3. Alle, die ein Strafmaß von über 3 Jahren bekamen, mussten arbeiten. Laut offiziellen sowjetischen Daten bekamen 95,9% bis zu 5 Jahre, 4% zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1% über 10 Jahre. Ich will hier keine russischen Quellen verlinken und nehme einfach mal 100% für die folgenden Rechnungen. Gehen wir einfach mal davon aus, dass alle Gulaghäftlinge arbeiten mussten.
"Häftlinge mit einem Strafmaß von über drei Jahren sollten generell in Lagern untergebracht werden und dort Arbeiten verrichten."
http://de.wikipedia.org/wiki/Gulag#Lage ... ter_Stalin
4. Laut offiziellen Zahlen lag die Arbeitseffizienz der Gulaghäftlinge bei etwa 50%. Ein normaler Arbeiter hat also so viel produziert wie zwei Gulaghäftlinge. Wie viel haben dann insgesamt 2 Mio. Gulaghäftlinge produziert? So viel wie insgesamt 1 Mio. normaler Arbeiter. Die Bevölkerungszahl lag im Zeitrahmen der Industrialisierung bei 150-155 Millionen. Laut deiner Theorie haben insgesamt 2 Mio. Gulaghäftlinge bzw. insgesamt 1 Mio. normaler Arbeiter die Sowjetunion zwischen 1928-1933 industrialisiert gehabt. Glaubst du selbst an deine Theorie? Das BIP/Einw. hat sich während der Industrialisierung nahezu verdreifacht. Wenn Stalin so etwas bei einer Bevölkerung von 150-155 Mio. nur Anhand von insgesamt einer Million Arbeiter geschafft hat, dann ist er mit sehr großem Abstand der erfolgreichste Staatsmann aller Zeiten. Was haben dann bloß all die anderen Arbeiter während dieser Zeit gemacht?
Hätte man aus Punkt 2 realistischere Zahlen genohmen dann wären deiner Theorie nach nur insgesamt 250 000 normale Arbeiter für die Industrialisierung zuständig gewesen. Außerdem müsste man die insgesamt 2 Mio. Gulaghäftlinge auf die 6 Jahre verteilen, weil nicht von Anfang an insgesamt 2 Mio. im Gulag drinsassen. Auf die Jahre verteilt währen es etwa 330 000 Gulaghäftlinge, die von Anfang an drin gewesen wären. 2 000 000 Gulaghäftlinge / 6 Jahre = ca. 330 000 Gulaghäftlinge. Mit der Berücksichtigung der Arbeitseffizienz wären es dann 165 000 normale Arbeiter, die von 1928 bis 1933 durchgehend gearbeitet haben. Bei realistischen Zahlen wären es 500 000 Gulaghäftlinge / 6 Jahre = ca. 83 000 Gulaghäftlinge. Mit der Berücksichtigung der Arbeitseffizienz wären es dann ca. 42 000 normale Arbeiter, die von 1928 bis 1933 durchgearbeitet haben. Diese 42 000 symbolisieren alle Gulaghäftlinge während der Industrialisierung. Können bei einer Bevölkerung von 150-155 Mio. nur 42 000 Arbeiter einem wirtschaftlichen Aufschwung bzw. einer Industrialisierung dienen?
"Gulag: Geschichte und Fakten"
http://de.ria.ru/infographiken/20121031/264842923.html
5. In der Quelle
"Gulag: Geschichte und Fakten" steht, dass die Gulaghäftlinge zwischen 1930-1957 genau 3% zum BIP beigetragen haben. In diesem Zeitraum gab es insgesamt 15 Mio. Gulaghäftlinge. 10% davon starben. Ungefähr eine Million von ihnen starb in den Kriegsjahren. Die wenigsten von ihnen saßen während der Industrialisierung ein. Deine Theorie passt also eher für die Jahre nach der Industrialisierung. Aber selbst da hat deine Theorie keinen Boden. Die 15 Mio. Gulaghäftlinge waren so produktiv wie 7,5 Mio. normale Arbeiter. Auf die Jahre verteilt ergeben die Zahlen folgendes. Zeitraum zwischen 1930-1957 = 27 Jahre. 15 000 000 Gulaghäftlinge / 27 Jahre = ca. 555 000 Gulaghäftlinge. Es haben also theoretisch 555 000 Gulaghäftlinge von Anfang an ab dem Jahr 1930 bis 1957 gearbeitet. Mit der Berücksichtigung der Arbeitseffizienz wären es ca. 278 000 normale Arbeiter, die ab 1930 durchgearbeitet haben. Bei den Rechnungen müsste man normalerweise nur die Gulaghäftlinge berücksichtigen, die mehr als 3 Jahre bekamen. Ich wusste nicht wieviel es waren. Aber so viel ändert das auch nicht an der Rechnung. Bei einer Bevölkerung von 150-200 Mio. in den Jahren 1930-1957 hatte die Sowjetunion mindestens 40 Mio. arbeitsfähige Männer.
278 000 von 40 Mio. sind ungefähr 0,7%. Die Arbeitskraft von ca. 0,7% arbeitsfähiger Männer symbolisiert die Arbeitsleistung aller Gulaghäftlinge von 1930 bis 1957.
Ist das sehr wenig oder nicht? Je mehr im Gulag waren desto unproduktiver wurde die Sowjetunion. Und zwar wegen der verminderten Arbeitseffizienz. Schlechter ernährte Arbeiter können weniger leisten als umgekehrt. Oder siehst du das anders? Interessant ist dabei diese Stelle in der Quelle unter Punkt 2:
„Stalin forderte 1929 eine effizientere Nutzung der Arbeitskraft von Häftlingen in den Arbeitslagern“. Die Häftlinge auszuhungern oder haufenweise wegsterben zu lassen wird damit bestimmt nicht gemeint sein. Außer man betrachtet die Sache aus einem anderen Blickwinkel und geht davon aus, dass alle Gulaghäftlinge einst unproduktive Trotzkisten und Kosmopoliten waren, die erst durch die Arbeit im Gulag einen Beitrag zum BIP leisten konnten. Dann wäre es für Stalin eine Plusaktion gewesen, auch wenn diese Häftlinge nur zu 50% effizient arbeiteten. 50% sind schließlich besser als 0. Dennoch bliebe es zwischen 1930-1957 bei einem Gesamtbeitrag zum BIP von nur 3%. Ein wirtschaftlicher Aufschwung sähe anders aus.
Außerdem wäre noch die Frage zu klären wieviel die Gulags und deren Insassen dem Staat zwischen 1930-1957 gekostet haben. Mehr oder weniger als der Produktivitätsertrag von 278 000 Arbeitern pro Jahr? Ich schätze weniger. Wäre alles eine große Minusaktion dann hätte es, der sozialistischen Logik nach, zum Wohle der Gesellschaft viel mehr Todesurteile gegeben.
Zum Vergleich noch kurz was. In den USA saßen zwischen 1980-2006 auf das Jahr gerechnet immer über 500 000 Häftlinge pro Jahr ein. Ich würde schätzen, dass es auf jedes Jahr gerechnet 1 250 000 sein müssten. In der Sowjetunion waren es ja ca. 555 000 auf das Jahr gerechnet. Die USA haben zwar eine etwa doppelt so große Bevölkerung wie die Sowjetunion damals, aber die USA waren zwischen 1980-2006 nicht mit solchen Problemen konfrontiert, wie die Sowjetunion zwischen 1930-1957. In der Sowjetunion gab es Anfang der 30er eine Hungerkatastrophe und somit vermehrt kriminelle Delikte, wie Diebstahl. Dann kamen ab Mitte der 30er die umfassenden Putschniederschlagungen der trotzkistischen Umstürzler. Gerade unter den Juden konnten die Trotzkisten massenhaft rekrutieren. Und schließlich Anfang der 40er die Konfrontation mit einem Vernichtungskrieg und seinen einhergehenden Gesetzeskonflikten.
„Inhaftierte US-Bürger“
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